Jürgen Dusel ist der Behinderten-Beauftragte der deutschen Bundes-Regierung. Ein Gespräch über Menschen-Rechte, das Problem mit den Behinderten-Werkstätten und wo Deutschland bei der Inklusion versagt.
Nikolai Prodöhl: Seit 2009 gilt die UN-Behinderten-Rechts-Konvention in Deutschland. Das ist ein Vertrag über die Menschen-Rechte von Menschen mit Behinderungen. Verletzt Deutschland diese Menschen-Rechte?
Jürgen Dusel: Im Jahr 2023 haben Prüfer*innen der Vereinten Nationen geschaut, wie es bei uns mit der Inklusion läuft. Manche Dinge haben sich verbessert: zum Beispiel die Teilhabe an politischen Wahlen. Aber es gab auch Kritik: Menschen mit und ohne Behinderungen werden in Deutschland immer noch stark getrennt. Etwa beim gemeinsamen Lernen in der Schule. Oder beim Wohnen. Menschen mit Behinderungen leben noch immer häufig in Heimen. Oder arbeiten in Werkstätten. Auch bei der Gesundheits-Versorgung hat Deutschland noch eine Menge zu tun.
Nikolai Prodöhl: In welchen Bereichen läuft es besonders schlecht?
Jürgen Dusel: Ich habe manchmal den Eindruck, dass unsere Einkaufs-Zentren barrierefreier sind als unsere Schulen. Zudem hängt es zu sehr vom Bundesland ab, ob ein Kind mit Behinderung in die Regel-Schule gehen kann oder in die Förder-Schule muss. Hier müssen wir aus meiner Sicht am meisten machen. Ein weiteres Thema ist das Gesundheits-System. Viele Arztpraxen sind noch immer nicht barrierefrei. Gleiches gilt für die Deutsche Bahn. Eine Fahrt mit dem ICE bedeutet für Menschen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, sehr viel Stress. Das ist nicht hinnehmbar.
Nikolai Prodöhl: Warum kommt die Inklusion nur so langsam in Gang?
Jürgen Dusel: Weil viele Menschen ohne Behinderung noch nicht richtig verstanden haben, wie wichtig Inklusion ist. Das hat damit zu tun, dass sich Menschen mit und ohne Behinderung noch viel zu wenig begegnen. Und wir erleben nun, dass es politische Kräfte gibt, die Inklusion in Frage stellen. Die sagen, das ist unnütz. Das macht mir wirklich Sorgen.
Emilia Garbsch: Gibt es weitere Gründe?
Jürgen Dusel: Viele Menschen haben nicht verstanden, dass Inklusion nicht etwas ist, das wir machen, weil wir so nette Menschen sind. Es geht um Menschen-Rechte und Demokratie. Ich habe manchmal das Gefühl, dass in der deutschen Gesellschaft einfach hingenommen wird, wenn Menschen mit Behinderungen benachteiligt werden.
Viele Menschen in Deutschland glauben, dass Menschen mit Behinderungen eigentlich ganz gut versorgt sind. Dass sie vielleicht sogar noch dankbar sein sollten für bestimmte Dinge.
Emilia Garbsch: Das müssen Sie genauer erklären.
Jürgen Dusel: Menschen mit Behinderungen werden in Deutschland oftmals als »defizitäre Wesen« angesehen. Also als Menschen, bei denen man guckt, was alles nicht funktioniert. Wir blicken kaum auf die Fähigkeiten von Menschen mit Behinderungen.
Das ist etwa in Großbritannien anders. Da herrscht eine andere Einstellung. Ich bin ja viel im Ausland unterwegs und habe das Gefühl, dass es in anderen Ländern mehr Verständnis dafür gibt, dass jeder Mensch gleich viel wert ist.
Emilia Garbsch: Die Vereinten Nationen haben Deutschland bereits 2015 kritisiert. Sie haben gesagt: Es braucht einen konkreten Zeitplan, um die Inklusion voranzubringen, zum Beispiel bei der Abschaffung von Werkstätten. Getan hat sich kaum etwas. Wieso ist das so schwierig?
Jürgen Dusel: Im Alltag lassen sich manche Gewohnheiten nicht so einfach ändern. Das gilt auch in der Politik. Betreiberinnen und Betreiber von Werkstätten und viele andere Menschen, die dort arbeiten, haben kein großes Interesse daran, Dinge zu ändern. Aber Deutschland hat nun mal der UN Behinderten-Rechts-Konvention zugestimmt. Und die sagt klar: Werkstätten gehen nicht.
Emilia Garbsch: Haben die Besitzer*innen von Werkstätten so viel Einfluss? Sie sind schließlich keine Politiker*innen.
Jürgen Dusel: Es sind ja nicht nur die Betreiber. Auch viele Menschen mit Behinderungen sagen, wir wollen da bleiben, wir wollen da nicht raus. Das sind diejenigen, die da jeden Tag hingehen und dort Freundinnen und Freunde haben. Es ist eine Frage des Respekts, das zu akzeptieren. Wenn wir es ernst meinen mit dem Satz »nichts über uns ohne uns«, dem großen Satz der Behinderten-Bewegung, dann müssen wir jene, die in den Werkstätten arbeiten, auch ernst nehmen.
Zur Person
Jürgen Dusel ist 59 Jahre alt. Er ist blind und Jurist. Seit 2018 ist er Behinderten-Beauftragter der Bundes-Regierung. Er setzt sich dafür ein, dass die Inklusion in Deutschland vorankommt.
Der Behinderte-Beauftragte wird von der Bundesregierung bestellt.
Er wurde 2018 von der Regierung von Angela Merkel (CDU) bestellt und 2022 von der Regierung von Olaf Scholz (SPD).
Nikolai Prodöhl: Warum erhalten Menschen, die in Werkstätten arbeiten, keinen Mindest-Lohn?
Jürgen Dusel: Werkstätten gehören nicht zum ersten Arbeits-Markt. Deshalb muss der Mindest-Lohn nicht gezahlt werden. Ich setze mich aber dafür ein, dass sich das ändert. Es ist eine Frage des Respekts gegenüber denen, die jeden Tag da hingehen oder hingefahren werden, die 30 Stunden pro Woche arbeiten, manche mehr, manche ein bisschen weniger. Das muss angemessen entlohnt werden. Man muss fairerweise aber auch sagen, dass neben dem wenigen Lohn, der bezahlt wird, die Menschen auch Grund-Sicherung und weitere Leistungen kriegen. Nach 20 Jahren erhalten sie eine Rente, die sie vielleicht auf dem Arbeits-Markt so nicht bekämen. Aber ich erwarte spätestens von der nächsten Bundes-Regierung, dass sich bei dem Thema etwas tut.
Nikolai Prodöhl: Wie wichtig war der Ampel-Regierung das Thema Inklusion?
Jürgen Dusel: Im Koalitions-Vertrag stand zwar eine Menge drin zum Thema Inklusion. Aber viel ist nicht passiert. Man hätte mit vielen Projekten früher anfangen müssen und sie zügig durchziehen müssen. Etwa die Überarbeitung des Behinderten-Gleichstellungs-Gesetz.
Emilia Garbsch: Was erwarten Sie von der kommenden Bundes-Regierung?
Jürgen Dusel: Das Gleichstellungs-Gesetz befand sich vor dem Ampel-Aus in der Abstimmung. Ich hoffe, dass es noch kommt, spätestens aber unter der nächsten Bundes-Regierung.
Da geht es darum, private Anbieter zur Barriere-Freiheit zu verpflichten. Denn bei der Barriere-Freiheit im privaten Bereich sind wir richtig schlecht. Zum Beispiel in Arztpraxen. Die Versorgung von Frauen mit Behinderungen bei Frauen-Ärzt*innen ist eine Katastrophe. München hat dieses Jahr einen Inklusions-Preis erhalten, weil es in ihrem Gesundheits-Amt barrierefreie Räume für gynäkologische Untersuchungen von Frauen im Rollstuhl zur Verfügung gestellt hat. Anscheinend gab es in ganz München keine Frauenarzt-Praxis, die diese Versorgung anbieten konnte. Die betroffenen Frauen zahlen in die gesetzliche Kranken-Versicherung ein – und wir haben solche Zustände.
Nikolai Prodöhl: Wie gut werden Menschen mit Behinderung in die Erarbeitung von Gesetzen eingebunden?
Jürgen Dusel: Unterschiedlich. Unter der Ampel-Regierung gab es im Arbeits- und Sozial-Ministerium gute Beispiele. Auch im Gesundheits-Ministerium wurde es besser. Aber im Verkehrs- oder Justiz-Ministerium kam das, so mein Eindruck, nicht richtig an. Aber die Beteiligung von Menschen mit Behinderungen ist wichtig. Sie sind Expertinnen und Experten in eigener Sache und müssen ihre Sicht einbringen können.
Zum Beispiel, wenn es um die Bestellung von neuen ICEs geht. Welche Züge werden da gekauft? Wie viele Plätze haben die für Rollstuhlfahrer? Es ist mein Job, dann immer wieder zu sagen: »Liebe Leute, denkt bitte daran, uns zu beteiligen.« Ich denke mir manchmal, dass das anders laufen würde, wenn die Kolleginnen und Kollegen in den Ministerien jemanden in ihrer Schulklasse gehabt hätten, der mit Behinderungen lebt. Deswegen ist auch das gemeinsame Lernen so wichtig.
Emilia Garbsch: Was sind wichtige politische Schritte zu mehr Gleich-Berechtigung?
Jürgen Dusel: Dass die Bundes-Regierung weiter daran arbeitet, die UN-Behindertenrechts-Konvention umzusetzen und die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu stärken. Dabei wird es besonders wichtig sein, dass endlich überall Barrieren abgebaut werden. Also auch in Arztpraxen, am Arbeitsplatz, in Kinos, im Restaurant oder bei der Deutschen Bahn.
Emilia Garbsch: Leben wir in einer behinderten-feindlichen Gesellschaft?
Jürgen Dusel: Nein. Wir leben in einer teilweise gleichgültigen Gesellschaft.
Nikolai Prodöhl: Herr Dusel, vielen Dank für das Gespräch.
Geschrieben Von
Emilia Garbsch,
Nikolai Prodöhl,
Finn Starken
redaktion
Lisa Kreutzer
fotos von
Florian Scheible
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