Ich habe es geschafft

»Dass ich im Journalismus arbeite, war für die meisten Menschen undenkbar.« – Leonie Schüler
Leonie, eine junge Frau mit zusammengebundenen braunen Haaren und einem rötlichen Strickpullover, sitzt am Schreibtisch und hat ihre Finger auf einer Tastatur. Wir betrachten das Ganze durch eine Scheibe hindurch, die ein wenig spiegelt.

Als ich den Nachrichten-Moderator Claus Kleber kennenlernte, wusste ich, dass ich auf dem richtigen Weg bin. 2016 habe ich ein Praktikum beim ZDF gemacht, einem deutschen Fernsehsender. An einem Tag führte mich der Moderator Claus Kleber durch das Nachrichten-Studio und ich durfte bei einer Redaktions-Sitzung dabei sein.  

 

Die Redakteur*innen diskutierten, was abends in der Sendung laufen soll. Überlegten, welche Themen heute wichtig waren. Das fand ich so spannend, ich wollte gar nicht mehr weg. Das war ein wichtiger Tag für mich. Seitdem war für mich ganz klar, dass ich Journalistin werden wollte. Weil mich die kreative Arbeit erfüllt und motiviert.

Man sieht zwei Menschen in einem Fernsehstudio. Rechts eine junge Frau mit braunen langen Haaren im Rollstuhl, links einen Mann mittleren Alters im Anzug. Überall im Hintergrund sind Green Screens, Kameras und Lichter zu sehen.

Ein Job im Journalismus war aber nie für mich vorgesehen. Ich habe einen Behinderungs-Grad von 100 und sollte eigentlich in eine Werkstatt für Menschen mit Behinderungen. Doch das wollte ich nie. Ich habe zum Ende meiner Schulzeit an der Förder-Schule zwei Praktika in einer Werkstatt gemacht. Die Arbeit hat nicht zu mir gepasst. Und wer da einmal drin ist, kommt selten wieder raus. Eine Studie vom Bundes-Ministerium für Arbeit und Soziales hat gezeigt: Weniger als 1 Prozent der dort Beschäftigten wechseln irgendwann auf den allgemeinen Arbeitsmarkt.

Für mich war klar: Ich möchte nicht den Großteil meines Lebens in einer Sonderwelt leben, in der Menschen mit Behinderungen von Menschen ohne Behinderungen getrennt werden.

Um das zu erreichen, musste ich viele Barrieren überwinden: In der Schule, in der Berufs-Beratung, in der Ausbildung. 

Bis ich 18 Jahre alt war, ging ich auf eine Förder-Schule. Dort war ich sehr unterfordert und habe mich nicht richtig zugehörig gefühlt. Mit 18 bin ich dann auf eine berufliche Schule für Menschen mit einer körperlich-motorischen Beeinträchtigung gewechselt. Dort habe ich nochmal sieben Jahre gebüffelt und mit 25 Jahren mein Fachabitur gemacht. Ich habe mich von der Förder-Schule bis zum Fachabitur hochgearbeitet.

Leonie schreibt auf ihrem Tablett, das auf einem sehr vollen Tisch steht.

Mit 24 Jahren, im gleichen Jahr, als ich auch mein Praktikum beim ZDF gemacht habe, saß ich vor einem Berufs-Berater für Menschen mit Behinderungen. Das war bei der Agentur für Arbeit in Bad Kreuznach. Das Büro erinnerte an die Achtzigerjahre. Es roch nach Kaffee und Drucker-Schwärze. Es wirkte alles sehr kalt und nicht einladend für mich. Gleich zu Anfang sagte ich dem Berufs-Berater, dass ich später beim Fernsehen arbeiten möchte.

Doch anstatt mich zu motivieren, stoppte der Mann mich ziemlich schnell. Der Berufs-Berater war der Meinung: Weil ich einen Rollstuhl nutze und als schwer-behindert gelte, könne man mich nur ins Büro stecken.

Meine Erfahrung mit dem Berufs-Berater ist kein Einzelfall, sagt Leander Palleit vom Deutschen Institut für Menschenrechte: „Menschen mit Behinderung bekommen vor allem zu hören, was sie alles nicht können. Dabei könnte man sie auch fragen: Wie können wir dich unterstützen, damit du das Beste aus dir rausholen kannst?”

Ich dachte: Wenn ich nur einen Büro-Beruf erlernen kann, dann wenigstens beim Fernsehen. Also habe ich mich für einen Ausbildungs-Platz zur Kauffrau für Büro-Management beim Hessischen Rundfunk beworben. Der Berufs-Berater sagte, ich sollte lieber noch einen Plan B haben.

Wäre es nach ihm gegangen, hätte ich eine Ausbildung in einem geschützten Raum für Menschen mit Behinderungen gemacht.

Ich fühlte mich nicht von dem Berufs-Berater ernst genommen. Er sah bei mir nicht meine Talente und Stärken. Er hielt mir nur vor Augen, was ich nicht kann. Die Bundesagentur für Arbeit schreibt auf Anfrage: „Wir bedauern sehr, dass die Kundin das Gefühl hat, ihre Berufswünsche seien während der Beratung in unserer Agentur für Arbeit nicht ernst genommen worden.”

Aber ich blieb entschlossen: Ich wollte auf dem ersten Arbeits-Markt meine Ausbildung machen! Und ich wollte zum Fernsehen. Zum Glück bekam ich die Zusage vom Hessischen Rundfunk (HR) für die Ausbildung. Zu Beginn dieses neuen Abenteuers war ich motiviert und engagiert. Ich hoffte, Neues über Radio und Fernsehen zu lernen.

Eine junge Frau im Rollstuhl steht vor einer roten Wand mit dem Slogan hr3 darauf. In ihren Händen hält sie eine Tasche. Die Frau zeigt mit dem Daumen nach oben und lächelt in die Kamera.

Aber die Realität sah anders aus. Ich sollte vor allem Boten-Gänge machen und Akten sortieren, die nicht so richtig was mit Fernsehen zu tun hatten. Dabei fragte ich mich immer wieder, ob die Ausbildung anders aussehen würde, wenn ich nicht den Rollstuhl nutzen würde. Denn ich wusste durch die Erzählungen anderer Azubis, dass ihre Ausbildungs-Stationen abwechslungsreicher waren als bei mir. Sie gingen mit zu Veranstaltungen oder besuchten die Redaktion der Hessenschau. Als ich nachfragte, warum ich nicht mit zur Hessenschau könne, hieß es nur, dass ich dem Arbeits-Tempo dort nicht gewachsen sei.

Mir wurde klar, dass ich später nicht als Kauf-Frau für Büro-Management arbeiten wollte. Eine Ansprechperson während meiner Ausbildung fragte mich einmal, wo ich mich selbst in fünf Jahren sehe. Ich hatte eine neue Idee: Ich wollte mich mit einem eigenen YouTube-Channel selbst verwirklichen und auf Miss-Stände beim Thema Inklusion aufmerksam machen. Doch anstatt mich zu motivieren, nahm meine Ansprechperson das Ganze als Witz auf. Auch einige Vorgesetzte von damals machten sich über meine Idee, Journalistin zu werden, lustig. Auf Nachfrage schreibt der HR: „Wir halten die Anschuldigungen für vollkommen unbegründet.”

Doch ich hielt an meinem Traum fest. Ich wollte weiter Journalistin werden. Nach meiner Ausbildung beim HR fing ich am Deutschen Journalisten-Kolleg an. Dort machte ich einen Lehrgang zur Journalistin. Für mich war das eine super Lösung: Alle Vorlesungen und Texte waren für mich durch das Internet barrierefrei zugänglich. In den zwei Jahren habe ich viel über Journalismus gelernt.

Durch die Ausbildung im Deutschen Journalisten-Kolleg wurde ich also doch noch Journalistin. Nach der Förderschule, sieben Jahren beruflicher Schule, drei Jahren Ausbildung beim Hessischen Rundfunk und nochmal zwei Jahren Lehrgang am Deutschen Journalisten-Kolleg hatte ich es geschafft. Ich war sehr stolz.

Ein eingerahmtes Journalisten-Zertifikat für Leonie Schüler, das an der Wand hängt.

Bis heute bin ich eine von nur wenigen Journalist*innen mit schweren Beeinträchtigungen in Deutschland. Genaue Zahlen dazu gibt es nicht. Ich habe beim Deutschen Journalisten Verband nachgefragt, wie viele Menschen mit Behinderungen im Journalismus arbeiten. Sie antworteten mir, dass sie es nicht wissen.

Dabei finde ich es sehr wichtig, dass auch Menschen mit Beeinträchtigungen Journalismus machen. Sie haben Lebens-Erfahrungen, Spezial-Wissen und Sichtweisen auf Themen, die sich von Menschen ohne Beeinträchtigungen unterscheiden. Deswegen sollten sie mitentscheiden, worüber und wie berichtet wird.

Seit September 2023 arbeite ich bei andererseits als freiberufliche Journalistin. Diese Arbeit ist wie für mich gemacht. So kann ich für verschiedene Medien schreiben. Ich kann meine Zeiten einteilen und entscheiden, wie viel ich arbeiten möchte. Und zwar von zuhause aus, meinem barriere-freien Arbeitsplatz.

Es gibt einen Leitfaden für Honorare vom deutschen Fachjournalist*innen Verband. Darin steht: Freie Journalist*innen sollten in den ersten Berufsjahren mindestens 50 Euro pro Stunde verdienen. Damit kommen sie auf einen Tages-Satz von 400 Euro. Aber: Ich brauche rein motorisch einfach länger, um meine Aufgaben zu erledigen. Außerdem kann ich aufgrund meiner Beeinträchtigung nicht 8 Stunden am Tag arbeiten. Morgens und Abends kommt ein Pflegedienst zu mir. Für einige Aufgaben brauche ich auch meine Assistenz, die ist aber nicht immer verfügbar. Weil ich häufig nicht 8 Stunden am Tag arbeiten kann, erhalte ich Bürgergeld vom Job-Center, da meine Honorare noch nicht zum Leben reichen.

Es ist also noch nicht alles perfekt, aber endlich arbeite ich in meinem Traumberuf. Auch wenn viele Leute nicht an mich geglaubt haben, habe ich mein Ziel immer im Blick behalten und es erreicht.

Eine junge Frau in einem pinken Top schaut in die Kamera. Sie sitzt in einem Rollstuhl.

Geschrieben Von

Leonie Schüler

unterstützt von

Maxi Wilhelm

Redaktion

Lisa Kreutzer

fotos von

Marie Häfner, privat

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