Politiker*innen mit Behinderungen stoßen in Deutschland auf viele Barrieren. Damit wird ihr Menschenrecht auf gleich-berechtigte politische Teilhabe verletzt.
„Meine politische Arbeit kann ich nicht gleich-berechtigt ausüben. Davon sind wir weit entfernt“, sagt Stephanie Aeffner. Die 48-Jährige ist Abgeordnete im Bundestag für die Grünen und einer der wenigen Menschen mit Behinderungen in der deutschen Politik. Sie ist die erste weibliche Abgeordnete im Bundestag, die einen Rollstuhl nutzt.
Aber dort stößt sie auf Barrieren. „Diese abzubauen wird oft zur Aufgabe der einen Person gemacht, die auf die Hindernisse stößt“, kritisiert Aeffner. „Das ist aber nicht mein Job. Mein Job ist es, Abgeordnete zu sein und meine Themen zu bearbeiten.“
Wie Aeffner geht es vielen Menschen mit Behinderungen, die in der Politik arbeiten möchten. In der UN-Behinderten-Rechts-Konvention ist festgelegt:
Menschen mit Behinderungen sollen gleich-berechtigt Zugang zur Politik haben.
Weil das ein Menschenrecht ist. Dazu hat sich Deutschland schon vor 15 Jahren verpflichtet. Doch bis heute stoßen Menschen mit Behinderungen in der Politik auf Barrieren.
Um die Probleme genauer zu beleuchten, haben wir im Bundestag und den Parlamenten von allen 16 Bundesländern nachgefragt:
Wie barrierefrei sind die Parlamente?
Wie gut können dort Menschen mit Behinderungen als Politiker*innen oder in der Verwaltung arbeiten?
Und wie gut sind sie im Katastrophen-Fall geschützt?
Unsere Recherchen zeigen: Der Zugang in die Politik ist für Menschen mit Behinderungen schwer.
Wenn sie es so weit geschafft haben, stoßen sie sogar in den Landtagen und im Bundestag auf sichtbare und unsichtbare Barrieren. Und sie sind im Notfall nicht so gut geschützt wie ihre Kolleg*innen ohne Behinderungen.
In Deutschland leben laut Statistischem Bundesamt knapp 8 Millionen Menschen mit schweren Behinderungen.
Wie viele von ihnen in der Politik arbeiten, ist unklar. Der Staat selbst veröffentlicht dazu keine Zahlen.
Im aktuellen Teilhabe-Bericht der Bundesregierung von 2021 wird nur eine Untersuchung der Süddeutschen Zeitung von 2017 genannt: Im Bundestag saßen damals 23 Menschen mit Behinderung. Knapp drei Mal mehr hätten es sein müssen, wenn sie den Anteil in der ganzen Bevölkerung abbilden sollten. „Weitere Informationen zur Vertretung von Menschen mit Beeinträchtigungen in Länder-Parlamenten oder anderen politischen Ämtern in Deutschland sind nicht bekannt“, schreibt die Bundes-Regierung in ihrem Teilhabe-Bericht.
Und auch die Parteien im Bundestag geben uns nur wenige Informationen darüber, wie viele Menschen mit Behinderung für sie arbeiten.
Laut Gesetz müssen sie mindestens fünf Prozent der Arbeits-Plätze an Menschen mit anerkannter Schwerbehinderung vergeben. Halten sich die Parteien an das Gesetz? Die Parteien FDP und BSW ignorieren jeweils drei Presse-Anfragen mit unseren Fragen. Die CDU, CSU und AfD weigern sich, uns Zahlen zu nennen. Die Linke verfehlt in ihrer Bundes-Geschäftsstelle die Quote, nennt aber auch auf Nachfrage keine konkrete Zahl.
Auch die SPD und die Grünen haben 2023 die Beschäftigungs-Pflicht in ihren Bundesgeschäftsstellen nicht erfüllt.
Es gibt anscheinend keine Partei im deutschen Bundestag, die sich an das Gesetz hält.
Barrieren auf dem Weg in die Politik beginnen früh.
Denn der beginnt meist ehrenamtlich und dort, wo Menschen wohnen. Schon da stoßen viele auf unüberwindbare Barrieren. Für Ehrenämter gibt es keinen allgemeinen Anspruch auf Assistenz und Gebärden-Sprach-Dolmetscher*innen. Im Gesetz steht, diese Unterstützung soll bei Ehrenämtern vor allem von der Familie, Freund*innen oder Nachbar*innen kommen. Wer diese Unterstützung nicht hat, muss hoffen, Hilfe genehmigt zu bekommen. Hinzu kommen bauliche Barrieren.
Das hat auch Constantin Grosch erlebt. Der 32-Jährige nutzt einen Rollstuhl. Er arbeitet als Abgeordneter für die SPD im Landtag Niedersachsen. Die Schwierigkeiten begannen für ihn schon im Wahlkampf. Denn manchmal waren die Orte, an denen er mit Bürger*innen sprechen wollte, nicht mit Bus und Bahn zu erreichen. „Ich hatte Glück, dass mein Vater mir mein Auto rollstuhl-gerecht umgebaut hat“, sagt Grosch. „Aber das muss man sich auch erstmal leisten können.“
Kein Schutz im Notfall
Wenn es Menschen mit Behinderungen dann trotz Hürden in ein Parlament geschafft haben, werden ihre Bedürfnisse dort oft nicht mitgedacht. Das zeigt ein besonders gefährliches Beispiel: ihr Schutz im Notfall.
Denn Menschen mit Behinderung sterben in Katastrophen-Fällen deutlich öfter als Menschen ohne Behinderung. Das haben Wissenschaftler*innen herausgefunden.
Das liegt auch daran, dass Alarme und Pläne zur Rettung nicht an ihre Bedürfnisse angepasst sind. Wenn sie nicht rechtzeitig alarmiert werden, bleibt ihnen nicht genug Zeit für die Rettung. Wenn fremde Hilfe ganz ausbleibt, können sich manche Menschen mit Behinderung außerdem nicht selbst retten.
Eine Möglichkeit um Warnungen barriere-ärmer zu machen, ist das Zwei-Sinne-Prinzip. Das heißt zum Beispiel, wenn es brennt, warnen Alarme mit Warnsignalen für zwei Sinne.
Es gibt dann zum Beispiel einen lauten Warnton zum Hören und ein Blitz-Licht zum Sehen. So werden auch Menschen zum Beispiel vor einem Feuer gewarnt, die gehörlos sind. Doch in acht deutschen Landtagen gibt es gar keine Warnungen nach diesem Zwei-Sinne-Prinzip.
Im Notfall wären Menschen mit Hör-Behinderung darauf angewiesen, dass andere an sie denken, sie in den großen Gebäuden finden und rechtzeitig warnen. Wenn es gefährlich wird, kann das den Tod bedeuten.
Im Landtag in Hessen trägt ein gehörloser Beschäftigter deshalb einen Pager bei sich, weil es für ihn kein Warnsystem im Haus gibt. Für Menschen ohne Behinderung wäre es völlig undenkbar, ihnen am ersten Arbeitstag einen Rauchmelder zu geben, den sie immer bei sich tragen müssen, weil es keine Alarme im Haus gibt.
Wir haben die Landtage auch gefragt, wie Menschen mit Geh-Behinderung im Notfall das Gebäude verlassen können. Viele Landtage haben für diesen Fall spezielle Rettungs-Stühle angeschafft. In diesem Stühlen können Personen mit Geh-Behinderung von Helfer*innen aus dem Gebäude getragen oder Treppen runtergerollt werden.
In den Landtagen in Berlin, Brandenburg und Thüringen gibt es aber keinen solchen Stuhl. Der Landtag Brandenburg schreibt: Rettungs-Stühle seien „nicht vorhanden, weil hierzu keine Erforderlichkeit besteht. […] Im Brandfall ist es möglich, in brandschutztechnisch abgetrennte Nutzungseinheiten, die durch Brandwände oder feuerbeständige Wände mit einer Feuerwiderstandsdauer von 90 Minuten getrennt sind, zu gelangen.“
Einige Menschen mit Behinderung müssen, wenn es brennt, also in speziellen Bereichen im brennenden Gebäude auf die Feuerwehr warten.
In den Landtagen Niedersachsen, Saarland und Sachsen-Anhalt gibt es nur jeweils einen einzigen Rettungs-Stuhl für das ganze Gebäude. Wenn mehrere Menschen mit Geh-Behinderung auf den Stuhl angewiesen sind, verzögert sich ihre Rettung.
Wir haben alle drei Landtage gefragt, wer zuerst gerettet wird, wenn mehrere Menschen einen Rettungs-Stuhl benötigen. Der Landtag Sachsen-Anhalt hat unsere Frage ignoriert. Der Landtag Saarland schreibt, die Helfer*innen würden das „situationsbedingt“ entscheiden.
Alltag im Bundestag: Barrieren und ungleiche Behandlung
Barrierefreiheit zählt nicht nur im Notfall. Wenn Menschen mit Behinderung in der Politik arbeiten, brauchen sie jeden Tag Büros und Parlamente ohne Barrieren.
Bundestags-Abgeordnete Stephanie Aeffner kosten Barrieren im politischen Alltag vor allem viel Zeit. „In den meisten Sälen im Bundestag ist es super eng. Ich kann mich als Rollstuhl-Fahrerin genau an eine Stelle stellen und da bleibe ich stehen.“
Wenn sie sich wie alle anderen auch vor Ort mit Kolleg*innen austauschen möchte, geht das oft nicht und sie muss zusätzliche Termine ausmachen. Auch Barrieren außerhalb des Bundestages rauben Zeit. „In meinem Team geht locker eine halbe Stelle für die Reiseplanung drauf. Hotels, Veranstaltungsräume oder Zugfahrten, alles muss wegen der Barriere-Freiheit extra organisiert werden. Das ist eine Ungleich-Behandlung, weil Mitarbeiter*innen anderer Abgeordneten in der Zeit andere Aufgaben wie zum Beispiel nette Social-Media-Videos machen.“
Das sind nur zwei Beispiele baulicher Barrieren. Wir haben die Landtage und den Bundestag nach weiteren Barrieren in ihren Gebäuden gefragt. Nicht einmal das Grund-Bedürfnis einer Toilette ist in allen Landtagen und im Reichstags-Gebäude ausreichend barrierefrei abgedeckt. Viele Menschen mit Behinderung brauchen in der Toilette eine Pflege-Liege. Damit sie dort Einlagen oder Katheter wechseln und sich umziehen können. Wenn es keine Pflegeliege gibt, bleibt Menschen mit Behinderung oft nur die Möglichkeit, sich auf den Toiletten-Boden zu legen.
Trotzdem haben nur fünf Landtage in Deutschland überhaupt eine Toilette mit Pflege-Liege im Haus. Selbst im Reichstags-Gebäude in Berlin gibt es keine Pflege-Liege, sondern nur in einem Gebäude in der Nähe.
Und auch Menschen mit Seh-Behinderungen stoßen auf Barrieren: In keinem Landtag und auch nicht im Reichstags-Gebäude gibt es im gesamten Gebäude ein taktiles Leit-System. Das sind zum Beispiel ertastbare Knöpfe im Aufzug oder ertastbare Leit-Streifen auf dem Boden. Ohne die können blinde Politiker*innen beispielsweise nicht selbständig Büros oder Sitzungs-Räume finden. Fast immer gibt es die ertastbaren Hinweise nur da, wo Besucher*innen unterwegs sind.
Kaum Gebärdensprache und Leichte Sprache
Wie außergewöhnlich es ist, wenn Politiker*innen mit Behinderungen es in Parlamente schaffen, zeigt eine Situation im März 2024: „Heute schreiben wir tatsächlich Geschichte“, sagte die Bundestags-Präsidentin Bärbel Bas damals zu den Abgeordneten. Dann stellte sie Heike Heubach vor. Heubach ist die erste gehörlose Abgeordnete in der Geschichte des Bundestages.
Im Oktober hielt Heuberg dann die erste Rede, die jemals in Gebärden-Sprache im Bundestag gehalten wurde. Das erste Mal Gebärdensprache im Bundes-Tag gab es erst im Jahr 2024. Und das obwohl etwa 80.000 Menschen in Deutschland mit Hör-Behinderung bei Reden oder Videos auf Untertitel oder Gebärden-Sprache angewiesen sind.
Eine offizielle Rede in Leichter Sprache ist der Presse-Stelle des Bundestags hingegen nicht bekannt. Obwohl rund 10 Millionen Menschen auf Einfache und Leichte Sprache angewiesen sind, um schwierige Zusammenhänge zu verstehen.
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Werden gehörlose Menschen und Menschen, die Leichte Sprache verwenden mitgedacht, wenn Parlamente Informationen und Diskussionen veröffentlichen?
Wir haben alle Landtage und den Bundestag danach gefragt. Der Landtag Bremen schreibt, es fehlen genug verfügbare Gebärden-Sprach-Dolmetscher*innen, um Videos von Diskussionen zu übersetzen. Im Landtag Schleswig-Holstein gibt es eine Stelle für eine*n Gebärden-Sprach-Dometscher*in, die aber erst 2025 besetzt werden soll. Der Landtag schreibt uns, bereits jetzt würden sie aber bei Themen, bei denen Menschen mit Behinderungen im Fokus stehen, einen Gebärden-Sprach-Dolmetscher einsetzen. Auch der Landtag Thüringen schreibt, bei Gesetz-Entwürfen oder Anträgen mit „gruppen-spezifischem Interesse“ würde Gebärden-Sprach-Dolmetschung angeboten. Das heißt: Gebärden-Sprach-Dolmetschen und Leichte Sprache würden angeboten, wenn die Themen Menschen mit Behinderung betreffen. Ähnlich argumentieren auch andere Landtage.
Aber welches Thema betrifft Menschen mit Behinderung nicht? Bürger*innen, Expert*innen, Journalist*innen und Politiker*innen mit Behinderung möchten sich zu allen Themen informieren und mitreden können.
Bauliche Barrieren in Landtagen und im Bundestag und fehlender Katastrophen-Schutz zeigen: Gleich-berechtigte politische Teilhabe ist für Menschen mit Behinderung noch immer weit entfernt. Und das sind nur einzelne sichtbare Barrieren, die sich klar abfragen lassen. Vorurteile kommen dann noch hinzu. Sie sichtbar zu machen, ist viel schwieriger.
Sabine Grützmacher etwa lebt mit einer unsichtbaren Behinderung. Sie ist Autistin und Abgeordnete für die Grünen im Bundestag. Für sie ist es als Autistin sehr anstrengend, wenn es im Bundestag sehr laut ist und viele Menschen durcheinander reden. Für solche Situationen hat sie eigentlich In-Ear-Kopfhörer, die den Lärm gut dämpfen und mit denen sie den Reden im Bundestag besser zuhören kann.
Doch Sabine Grützmacher möchte die Kopfhörer nicht im Bundestag tragen. „Wenn das jemand fotografiert, wie ich da mit Kopfhörern im Bundestag sitze – ich bin mir sicher, dass ich damit durch den Kakao gezogen werden würde. Dann heißt es bestimmt, ich würde Hörbücher oder so hören und mich nicht auf meine Arbeit konzentrieren.” Also hält sie lieber den Lärm aus.
Geschrieben Von
Cristina Helberg,
Maxi Wilhelm
Redaktion
Lisa Kreutzer
Mitarbeit
Nikolai Prodöhl
Fotos von
Florian Scheible