Woran Inklusion in der Schule scheitert

»Immer wieder haben Lehrer zu mir gesagt: Du bildest dir das doch nur ein.« – Lisa K.
Eine junge Frau mit roten Haaren sitzt einem einem Schreibtisch und blickt aus dem Fenster

In Deutschland soll jedes Kind inklusiv lernen dürfen. Doch die Vereinten Nationen kritisieren: Deutschland missachtet die Rechte von Schüler*innen mit Behinderungen.  Wir haben mit drei von Ihnen gesprochen.

Wenn Lisa K. von ihrer Schul-Zeit erzählt, klingt das ernüchternd: „Ich hatte lange vergessen, dass Schule auch Spaß machen kann,“ sagt sie. Lisa K. ist 24 Jahre alt. Sie hat eine seltene Nerven-Krankheit. Sie hat deshalb manchmal Schwierigkeiten beim Gehen und eine Seh-Behinderung.

In der Grund-Schule fühlte Lisa K. sich gut aufgehoben und wurde gefördert. Arbeits-Blätter wurden für sie in Poster-Größe gedruckt. Sie durfte Aufgaben am Computer erledigen, an dem sie die Schrift vergrößern konnte.

Auf der weiter-führenden Schule änderte sich das, erzählt Lisa K.. Eigentlich war das auch eine inklusive Schule. „Aber die Unterstützung, die ich vorher kannte, war plötzlich weg,“ erzählt Lisa K.. Sie möchte in diesem Artikel nicht mit ihrem vollen Nach-Namen genannt werden, deswegen haben wir ihn abgekürzt.

Lisa K. sagt, die Lehrer*innen waren mit ihren Behinderungen überfordert: „Manchmal kann ich besser sehen und manchmal schlechter. Manchmal kann ich besser laufen und manchmal nutze ich einen Rollstuhl.” Deswegen sei Lisa K. häufig nicht ernst genommen worden: „Immer wieder haben Lehrer zu mir gesagt: ‚Du bildest dir das doch nur ein‘ oder ‚Stell dich doch nicht so an‘,“ sagt Lisa K.

Lisa K. hätte das Recht gehabt, an einer Schule inklusiv, also gemeinsam mit Kindern ohne Behinderungen, zu lernen. Seit 2009 gilt in Deutschland die UN-Behinderten-Rechts-Konvention, die das Recht auf inklusive Bildung garantiert. Inklusion bedeutet auch: Jeder Mensch bekommt die Unterstützung und Rahmen-Bedingungen, die er braucht, um gut mitmachen zu können.

Doch Lisa K. bekam auf der inklusiven Schule nicht die Unterstützung, die sie gebraucht hätte. Schließlich wechselte sie auf eine Blinden-Schule. „Es war wie eine Befreiung,“ sagt sie. „Endlich war ich an einem Ort, an dem ich mich nicht für meine Behinderungen und Bedürfnisse rechtfertigen musste, sondern einfach ich selbst sein konnte.“

Im Schuljahr 2022/2023 besuchte etwas weniger als die Hälfte der Schüler*innen mit Förder-Bedarf eine inklusive Schule. Das ist viel mehr als im Schuljahr 2008/2009: Damals war es nur jede fünfte Schüler*in. Das steht in einem Bericht der Bertelsmann Stiftung.

Doch obwohl mehr Schüler*innen auf inklusive Schulen gehen, sind die Bedingungen an deutschen Schulen schlecht. Dies stellte 2023 eine Expert*innen-Runde der Vereinten Nationen fest. Sie prüft die Umsetzung der Behinderten-Rechts-Konvention.

Die Expert*innen kritisieren, dass öffentliche Schulen nicht barriere-frei genug sind. Sie sagen, dass Lehrkräfte nicht genügend Wissen über inklusiven Unterricht haben. Und, dass Eltern bedrängt werden, ihre Kinder an Förder-Schulen statt an inklusiven Schulen anzumelden.

Deshalb stellen die Expert*innen ein schlechtes Zeugnis aus. Das bedeutet: Deutschland verletzt die Rechte von Schüler*innen mit Behinderungen. Deshalb fordern die Expert*innen der Vereinten Nationen Deutschland auf, die Situation für Kinder mit Behinderungen an Regelschulen zu verbessern.

Auch Richard Rothlaender aus Hamburg erlebte, wie die inklusive Schule nicht auf seine Bedürfnisse angepasst war. Er ist 35 Jahre alt und arbeitet in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen. Über die Werkstatt hat er einen Außen-Arbeitsplatz bei einem Copy-Shop. 

Profilfoto von Richard. Er ist ein junger Mann mit kurzen Haaren und Brille, der einen Blauen Hoodie trägt und in die Kamera lächelt.
Das ist Richard Rothlaender.

„Ich habe eine Lern-Behinderung in Mathematik und eine Leistungs-Schwäche im Logischen-Denken,” sagt Rothlaender. Nach der Grundschule besuchte er eine inklusive Gesamt-Schule. Dort habe er Unterstützung von einer Sonderpädagogin erhalten, erzählt Rothlaender. Die Sonderpädagogin habe mit ihm Lesen und Rechnen geübt.

Doch er sei von seinen Mitschüler*innen gemobbt worden, sagt Rothlaender. Einige hätten sich darüber lustig gemacht, dass er keinen höheren Schul-Abschluss machen könne: „Das fand ich merkwürdig, weil alle irgendwie Einschränkungen hatten. Ich denke, wenn Menschen anders sind oder aus der Reihe tanzen, sind das doch interessante Menschen.”

An der Gesamt-Schule fehlte es an Verständnis für Rothlaenders Behinderungen. Deshalb wechselte er nach einem Jahr auf eine Förder-Schule. Dort lernte er getrennt von Kindern ohne Behinderungen und die Klassen waren kleiner. Es wurde gezielt auf die Stärken der Schüler*innen eingegangen, sagt Rothlaender. „Ich konnte endlich in meinem eigenen Tempo lernen und wurde für das anerkannt, was ich kann.” Rothlaender findet es gut, dass es Förder-Schulen gibt. „Die sollte man nicht abschaffen. Denn manche Schüler fühlen sich in inklusiven Schulen schlecht, weil sie merken, dass andere schneller sind.“

Susann Kroworsch kann verstehen, dass Inklusion an Schulen in ihrer aktuellen Form zu Frust führt. Denn viele Kinder mit Behinderungen bekommen an allgemeinen Schulen nicht die Unterstützung die sie brauchen. Und das, obwohl sie ihnen laut UN-Behinderten-Rechts-Konvention zusteht. 

Kroworsch arbeitet für das Deutsche Institut für Menschen-Rechte. Sie beobachtet die Umsetzung der UN-Behinderten-Rechts-Konvention in Deutschland. Sie sagt: “Ausgrenzende Sonder-Strukturen wie Förder-Schulen stellen einen Verstoß gegen die UN-Konvention dar.” Deshalb fordert sie, dass Förder-Schulen in Deutschland schrittweise abgebaut und dafür inklusive Angebote ausgebaut werden.

Das Bild zeigt eine Frau mit langen, welligen, blonden Haaren. Sie trägt ein schwarzes Sakko und ein weißes Oberteil. Die Frau lächelt freundlich und schaut direkt in die Kamera. Der Hintergrund ist grau und schlicht.
Das ist Susann Kroworsch.

Die Barrieren für Menschen mit Behinderungen im deutschen Bildungs-System gibt es seit Jahrzehnten. Heike Heubach ist 44 Jahre alt und gehörlos. Sie ist Bundestags-Abgeordnete für die SPD. Heubach erinnert sich: „In der Kita mussten wir Sprechen vor dem Spiegel üben, anstatt Gebärden-Sprache zu lernen. Es war, als wäre unsere Sprache, die Gebärden-Sprache, weniger wert.“ Da der Schwerpunkt auf die Aussprache gelegt wurde, sei für sie das Lesen und Schreiben lernen eine Herausforderung gewesen.  „Ich musste mir vieles selbst erarbeiten.“

Später wechselte sie in eine Integrations-Klasse auf einem Gymnasium. Allerdings gab es dort keine Gebärden-Sprachen-Dolmetscher*innen, die ihr den Unterricht übersetzten, erzählt sie. So habe Heubach oft erraten müssen, was im Unterricht gesprochen wurde und arbeitete den Inhalt zuhause nach. „Ich war frustriert über diese Ungerechtigkeit. Nach einem Schul-Jahr habe ich gesagt, dass es so für mich nicht weitergeht.” Sie wechselte erneut die Schule und machte mit 21 Jahren trotz vielen Barrieren schließlich ihr Fach-Abitur. 

Gegner*innen der inklusiven Bildung behaupten, dass Kinder mit Behinderungen an inklusiven Schulen schlechter lernen würden. Und auch, dass sie den Lernfortschritt von Kindern ohne Behinderungen beeinträchtigten. In Sachsen-Anhalt sprachen sich die Parteien CDU und FDP zuletzt sogar dafür aus, Förder-Schulen zu stärken.

„Aktuelle Forschung belegt, dass die Lernergebnisse von Schüler*innen mit sonder-pädagogischem Förder-Bedarf an inklusiven Schulen im Vergleich besser sind als bei Schüler*innen an Förder-Schulen,“ sagt Susanne Kroworsch.

In einer Analyse des Deutschen Instituts für Menschen-Rechte zeigt Kroworsch, dass Kinder mit Beeinträchtigungen an inklusiven Schulen „messbar mehr lernen” als an Förder-Schulen. Aber eben nur, wenn sie die Unterstützung bekommen, die sie brauchen, um gut mitmachen zu können. Zudem würden auch Schüler*innen ohne Behinderungen vom inklusiven Lernen profitieren.

Für Lisa K. und Rothlaender war der Wechsel von der inklusiven Schule an eine Förder-Schule trotzdem die richtige Entscheidung. Es fehlte an Verständnis und Mitteln, um ihnen gleich-berechtigtes Lernen zu ermöglichen. In der Förder-Schule erhielten sie die Unterstützung, die sie brauchten. 

Doch ein Wechsel auf Förder-Schulen kann langfristige Folgen haben. Rund 70 Prozent der Schüler*innen verlassen sie ohne anerkannten Schul-Abschluss. „Für junge Menschen bedeutet das meist, dass sie kaum  Chancen auf eine Ausbildung haben,“ sagt Kroworsch. Denn ohne Schul-Abschluss ist es schwerer eine Ausbildung zu bekommen. Der fehlende Abschluss kann auch ein Grund dafür sein, dass Schüler*innen später in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen arbeiten. Hier erhalten sie ein geringes Taschengeld und sind auf Sozial-Leistungen angewiesen. Ein finanziell unabhängiges Leben zu führen, ist für sie kaum möglich. 

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Geschrieben Von

Nikolai Prodöhl,

Finn Starken,

Maxi Wilhelm

Redaktion

Lisa Kreutzer

Fotos von

Max Arens,

Nirén Mahajan,

Barbara Dietl