Heike Grebien: „Bevölkerung mit Behinderung hat eigene Ideen, wie sie ihr Leben gestalten will“

Nach einem Jahr, in dem Werkstätten, Heime und Tagesstrukturen stark eingeschränkt waren, spricht Behindertensprecherin Grebien über Selbstbestimmung und Coronaherde in Behindertenheimen.
Heike Grebien (c) Nadine Geuter

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Heike Grebien ist Sprecherin für Menschen mit Behinderungen bei den Grünen. Seit etwas mehr als einem Jahr ist sie Abgeordnete zum Nationalrat und erarbeitet Maßnahmen zum Schutz vor der Ausbreitung des Coronavirus in Einrichtungen der Behindertenhilfe. Nach einem Jahr, in dem Werkstätten, Heime und Tagesstrukturen stark eingeschränkt und viele soziale Angebote nur schwer zugänglich waren, spricht Grebien über Selbstbestimmung, Coronaherde in Behindertenheimen und über die Schwächen des Betreuungssystems.

Seit einem Jahr gelten in Einrichtungen der Behindertenhilfe strenge Sicherheitsmaßnahmen. Wie lassen sich vergangene Coronaherde in diesen Institutionen erklären?

Heike Grebien: Vor allem beim ersten Ausbruch von Covid-19 und dem ersten Lockdown haben sich aufgrund der gesetzlichen Lage in neun Bundesländern auch neun unterschiedliche Situationen bei Behindertenheimen und in Pflegeeinrichtungen ergeben. Laut Verordnung des Gesundheitsministeriums und Empfehlung für die Einrichtungen der Behindertenhilfe mussten die Trägereinrichtungen ein Präventionsmaßnahmen-Konzept erstellen. Das ist in Absprache mit den dafür verantwortlichen Ländern auch so geschehen und war so konzipiert, weil wir nicht wissen können, wie die Gegebenheiten in den einzelnen Einrichtungen vor Ort sind. Damit waren flexible Maßnahmen möglich, die auf die jeweilige Situation und Struktur angepasst werden konnten. Die grundlegenden Maßnahmen wie Maskentragen und Hygieneregeln gelten also generell, darüber hinaus sollte vor Ort entschieden werden, wie zum Beispiel Besuche ermöglicht werden. Manche Einrichtungen haben dann gar keine BesucherInnen mehr gestattet, was für die BewohnerInnen oft eine große Belastung war, andere haben BesucherInnen wie vor der Pandemie erlaubt. Wir konnten in den vergangenen Monaten also eine Bandbreite an unterschiedlichen Umsetzungen beobachten.

Anfangs war die gesundheitspolitische Wende bei der Bekämpfung dieses Virus‘ für alle Branchen ein Schock. Wie schätzen Sie die Umsetzung in der weiteren Folge ein, wurde aus Fehlern gelernt?

Einen Versuch der allgemeinen Einschätzung kann ich angesichts der doch sehr diversen und kleinstrukturierten Bereiche innerhalb der Behindertenbetreuung nicht geben. Manche, die schon in der ersten Phase Probleme hatten, hatten diese auch in der zweiten. Auch die verschiedenen Fördersysteme der Länder hatten hier Einfluss auf die Umsetzung der Maßnahmen. In der Steiermark sind zum Beispiel in den Lockdowns alle Stätten für die Betreuung von Menschen mit Behinderung – Werkstätten und Tageseinrichtungen – offen geblieben. Die Angebote wurden stark reduziert und persönliche Kontakte weitestgehend aufs Telefon verlagert, es wurde auf mobile Betreuung umgesattelt. In der Steiermark werden öffentliche Förderleistungen gebunden an die Tätigkeit, die damit bezahlt wird. Die steirische Landesregierung hat schnell reagiert und den Trägereinrichtungen die Art der geförderten Leistungen offengelassen, eben weil sich durch Covid die Betreuungstätigkeiten in dem Sinn geändert haben, dass mehr mobil und auf Distanz betreut wurde. Dadurch konnte man gut umstrukturieren und den Menschen weiterhin einen stabilen Support liefern. Andere Landesregierungen haben anders entschieden, was teilweise auch dazu führte, dass gewisse Zahlungen nicht weitergeführt werden konnten oder Betreuungspersonal in Kurzarbeit gehen musste.

Teilweise wurden Besuche in Behindertenheimen bei den Lockdowns gänzlich verboten. Der Pensionistenverband sprach sich im Bezug auf Altersheime klar gegen solche Maßnahmen aus. Wie stehen Sie zu dieser Methode?

Manche Einrichtungen waren sehr restriktiv, andere haben flexible BesucherInnensysteme entwickelt. Die unterschiedliche Handhabe bei der Zulassung von Besuch war für uns im Bund und auch für den Gesundheitsminister ein wichtiger Punkt. Deswegen haben wir schon beim zweiten Lockdown festgelegt, dass es möglich sein muss, mindestens zwei Mal wöchentlich in den Wohneinrichtungen der Menschen mit Behinderung Besuche zu empfangen. Es muss auch mit den Schutzmaßnahmen möglich sein, von seinen geliebten Menschen besucht zu werden oder übers Wochenende heimzufahren.

Seit Februar gelten nun verschärfte Regelungen im Bereich der Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen, wöchentliche Tests für das Personal sind nun verpflichtend. Woher rührt diese Nachjustierung, was bedeutet eine etwaige Nichteinhaltung für Heimbetreiber und Trägereinrichtungen?

Die Länder haben hier die Verantwortung und haben diese unterschiedlich wahrgenommen. Zuvor waren die Testungen freiwillig und es hat in vielen Einrichtungen sehr gut funktioniert, wiederum in anderen Einrichtungen gar nicht. Es wird in den kommenden Wochen weitere Gespräche auf Bundesebene geben, da durch die voranschreitende Durchimpfung natürlich auch langsam wieder Schritte zurück in einen normaleren Alltag möglich werden.

Im Endeffekt kommt es wohl auch hier auf das Pflegepersonal und deren Eigenverantwortung an.

Ja, das auch. Ich bin früher selbst Betreuerin von Menschen mit Behinderung gewesen, ich habe in einer WG gelebt und stehe im Kontakt mit vielen Kolleginnen und Kollegen. Im Großen und Ganzen weiß ich, dass sie für ihren Job brennen und sich der Verantwortung bewusst sind, die sie in dieser Situation tragen, das habe ich im vergangenen Jahr immer wieder gemerkt. Das gesamte Pflegepersonal hat sich mit viel Engagement und Kreativität Dinge einfallen lassen, damit auch unter diesen schwierigen Umständen ein würdiges Wohnen und Leben für Menschen mit Behinderungen möglich ist.

Wie können PflegerInnen trotz der erschwerten Bedingungen die soziale Nähe zu den Menschen, die sie unterstützen, nicht verlieren?

Grundlegend ist es bei vielen Tätigkeiten natürlich nicht möglich, Abstand zu halten, wenn ich jemanden pflegerisch versorge oder wenn ich jemanden beim Essen helfe zum Beispiel. Deshalb wurde bereits zu Beginn in der ersten Covid-Maßnahmenverordnung klargestellt, dass pflegerische Tätigkeiten oder auch die persönliche Assistenz von den Regelungen zum Mindestabstand ausgenommen sind. Masken bleiben aber weiterhin verpflichtend. Ich kann schwer eine allgemeine Empfehlung geben, weil die Leute, die in dem Bereich arbeiten, ihre KundInnen kennen und wissen, wie sie sicher mit ihnen umgehen können. Ich bin persönlich begeistert, wie Pflegerinnen und Pfleger selbst in diesen Zeiten ihre Arbeit sehr gewissenhaft machen, ich kann ihnen nicht sagen, was sie besser machen sollten.

Seit einem Jahr befinden sich die Einrichtungen in diesem Schwebezustand, viele Leistungen wie Ausflüge, Gemeinschaftsaktivitäten, Gruppensport sind stark eingeschränkt. Besteht die Gefahr eines pädagogischen Rückschrittes, wenn die Pandemie noch lange anhält?

Die Strukturen und Institutionen der Behindertenhilfe sind aus einer sehr paternalistischen Perspektive auf Menschen mit Behinderungen entstanden. Die Krise hat jetzt die Schwächen im Pflegebereich offengelegt. Es ist ein Auslaufmodell, wie Menschen mit Behinderungen in Österreich derzeit betreut werden. Die Idee der UN-Behindertenrechtskonvention ist, dass Menschen mit Behinderungen ein möglichst selbstbestimmtes Leben ohne Gewalt führen können, das ist bei uns bei weitem nicht für alle möglich. Wir sind schon in einen Diskurswechsel eingestiegen, wenn man an die „Selbstbestimmt Leben“-Bewegungen oder an die persönliche Assistenz denkt. Die Coronakrise gibt der ganzen Debatte nun einen richtigen Aufschwung. Wofür wir Grünen uns klar aussprechen, ist die De-Institutionalisierung in der Behindertenhilfe. Für mich ist die Krise deshalb eine Chance, mit den Trägern gemeinsam zu überlegen, ob manche Angebote, so wie sie derzeit gesetzt werden, noch zeitgerecht sind. Die Bevölkerung mit Behinderung hat eigene Ideen und Meinungen, wie sie ihr Leben gestalten will und das hat oft wenig mit dem Leben in Institutionen zu tun. Jetzt durch Covid sehen wir, dass große Einrichtungen auch eine größere Gefahr bergen, als wenn Leute in kleinen und selbständigeren Wohnformen leben.

Im heurigen Januar wurden Menschen mit Behinderung auf Drängen von Interessenvertretern in die Phase 1 des nationalen Impfplans aufgenommen. Wann erwartet man, durch die Impfung Lockerungen im Bereich der Behindertenhilfe vornehmen zu können?

Das Sozialministerium ist gerade dabei, in Abstimmung mit den Ländern und den Trägerorganisationen auszuarbeiten, wie kluge und sichere Öffnungsschritte zu setzen sind. Es wird zu einem Teil auch davon abhängig sein, wie schnell die Durchimpfung in den Ländern funktioniert. In Wien wurden Menschen mit Behinderungen in den Einrichtungen schon geimpft, auch Menschen, die mit persönlicher Assistenz in den eigenen vier Wänden wohnen, haben bereits ihre erste Teilimpfung erhalten. Es gibt allerdings leider auch Bundesländer, in denen Menschen mit Behinderungen in den Einrichtungen noch nicht geimpft wurden. Im Übrigen wären Menschen mit Behinderungen ohnehin nach vorne gereiht worden, aber es ist immer gut, wenn man gemeinsam an einem Strang zieht.

Foto: Nadine Geuter

Gespräch: Sarah Kleiner

Hier geht es zum Artikel über die Situation in Behinderteneinrichtungen.