Im goldenen Käfig

Während der Coronapandemie waren viele Menschen mit Behinderung daheim oder in Einrichtungen besonders betroffen. Wie geht es ihnen nach einem Jahr Pandemie?
Quarantäne (c) Clara Sinnitsch

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Während der Coronapandemie waren viele Menschen mit Behinderung daheim oder in Einrichtungen besonders betroffen. Wie geht es ihnen nach einem Jahr Pandemie?

“Ganz ehrlich, was hätte ich denn davon, wenn ich Angst hätte?”, sagt Anastasia. “Es ist egal, ob ich Angst habe, der Virus ist da, er existiert und entweder er greift einen an oder auch nicht.” Anastasia F.* ist 25 Jahre alt. Sie hat eine Behinderung und lebt bei ihrer Mutter. Diese ist Risikopatientin, hat Vorerkrankungen und ist besonders gefährdet, an dem Virus zu erkranken. Für Anastasia bedeutet das, dass sie ihr eigenes soziales Leben stark einschränken muss, um ihre Mutter zu schützen. Seit einem Jahr hat sie ihr Zuhause kaum verlassen. „Bisher habe ich das Virus nicht eingeschleppt, ich bin ja auch nicht viel unterwegs“, sagt sie. „Ich bin nur einkaufen und das war’s.“

Ein Jahr befindet sich die österreichische Bevölkerung mit Behinderung nun schon im Corona-Modus. Mit Ausbruch der Pandemie hat sich auch in der Behindertenhilfe vieles, wenn nicht alles verändert. Menschen mit Behinderungen mussten ihre sozialen Kontakte ebenso auf ein Mindestmaß reduzieren, vielerorts wurde auf mobile Betreuung umgesattelt, andere Betreuungsangebote wurden vorübergehend heruntergefahren, Gruppenaktivitäten eingeschränkt. Pflegerinnen und Pfleger machen seit Monaten einen Spagat zwischen sozialer Isolation und Betreuung nahe am Menschen. Mit den derzeit ablaufenden Impfungen könnten nach einem Jahr nun bald Lockerungsschritte im Bereich der Behindertenhilfe möglich werden.

„Wir machen das alles der Gesundheit zuliebe. Es ist einfach zu riskant.“

„Vor Corona war alles ganz normal, da habe ich mich am Wochenende oder nach der Arbeit mit Freunden treffen oder auch Zeit mit meinem festen Freund verbringen können“, erzählt Anastasia. Sie hatte früher einen bunten Alltag, war mehrmals pro Woche in einer Tagesstruktur und hat dort im Gastroservice gearbeitet. Ihren Freund, der in Niederösterreich lebt, hat sie seit Monaten nicht persönlich getroffen. „Ich konnte früher selbst über mein Leben entscheiden und war viel freier. Vor Corona gab es kein ‚Das darfst du nicht, weil dann könntest du das Virus einschleppen’“, sagt sie. Das Angebot der Tagesstruktur bestünde für Anastasia weiterhin, nur darf sie nicht mehr hinfahren. „Die hätten so gern, dass ich wieder komme, aber ich habe ihnen schon mehrmals erklärt, dass das nicht geht, weil ich noch zu Hause lebe und meine Mama Risikopatientin ist.“ Anastasia vermisst ihre Arbeit, sie hatte Spaß am Kellnern und Servieren, doch sie hat Verständnis, will ihre Mutter und ihre Familie keinesfalls gefährden. „Es macht auch meiner Mama keinen Spaß, mir zu sagen, dass ich nicht arbeiten gehen soll. Aber wir machen das alles der Gesundheit zuliebe. Es ist einfach zu riskant.“

Die Verordnungen und Empfehlungen des Gesundheitsministeriums, in denen die Regeln zum Schutz vor dem Coronavirus ursprünglich festgelegt wurden, richteten sich an die Trägerorganisationen in der Behindertenhilfe. Sie mussten individuelle Präventionskonzepte zur Virusbekämpfung für die eigenen Institutionen ausarbeiten. „Das ist in Absprache mit den dafür verantwortlichen Ländern auch so geschehen und war so konzipiert, weil wir nicht wissen können, wie die Gegebenheiten in den einzelnen Einrichtungen vor Ort sind“, sagt Heike Grebien. Die Nationalratsabgeordnete ist Sprecherin für Menschen mit Behinderungen bei den Grünen und steht seit Frühjahr 2020 im ständigen Austausch mit der Regierung. „Die grundlegenden Maßnahmen wie Maskentragen und Hygieneregeln gelten also generell, darüber hinaus sollte vor Ort entschieden werden, wie zum Beispiel Besuche ermöglicht werden“, sagt Grebien. Dies habe größtmögliche Flexibilität für Einrichtungen bedeutet, in der Realität unterscheiden sich die Details der Umsetzung nun von Einrichtung zu Einrichtung (mehr dazu liest Du hier im Interview mit Heike Grebien).

Mehr als 1600 Bewohnerinnen und Bewohner von Behindertenheimen mit dem Virus infiziert, dazu kommen etwa 1800 Personen aus dem Personal.

Dass es im vergangenen Jahr auch in Einrichtungen der Behindertenhilfe zu Ausbrüchen des Coronavirus‘ kam, konnte trotz strenger Vorschriften nicht gänzlich verhindert werden. Insgesamt haben sich österreichweit bisher mehr als 1600 Bewohnerinnen und Bewohner von Behindertenheimen mit dem Virus infiziert, dazu kommen etwa 1800 Personen aus dem Personal. Etwa 50 Personen sind in dem Bereich bisher an oder mit dem Coronavirus gestorben. Im Vergleich zu Alten- und Pflegeheimen, in denen zwar zehnmal so viele Menschen leben aber 70 Mal so viele  verstorben sind (rund 3.500), ist der Bereich also relativ gut geschützt.

Im heurigen Januar wurden Menschen mit Behinderungen und persönlicher Assistenz nun in die Impfphase 1B aufgenommen, Behindertenheime sind laut Gesundheitsministerium – ebenso wie Alten- und Pflegeheime – in der Phase 1A priorisiert. Auch die Regelungen für Einrichtungen der Behindertenhilfe wurden im Februar nachgeschärft. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Einrichtungen müssen sich nun einmal pro Woche verpflichtend auf testen lassen, sonst dürfen sie die Einrichtung nicht betreten. Mit den derzeit geschehenden Impfungen könnten laut Grebien nun an anderer Stelle Lockerungsschritte in dem Bereich möglich werden. Für Leute, die in der Behindertenhilfe arbeiten, war die Umsetzung der Maßnahmen im vergangenen Jahr keineswegs befreit von emotionalen Fragen.

„Der Lockdown war für mich beruflich die schwerste Zeit jemals“, sagt der langjährige Behindertenbetreuer Wolfgang F.*. „Weil man die Menschen betreuen muss, ihnen dabei aber nicht ins Gesicht sehen kann“, sagt er. Im ersten Lockdown verlagerte sich Wolfgangs Tätigkeit mit behinderten Menschen fast ausschließlich auf digitale Kommunikationswege. „Ich habe nur über SMS, Whatsapp und Telefon mit den KlientInnen kommuniziert“, sagt er. Dabei hätte jeder Kontakt penibel dokumentiert werden müssen. „Das war eine extreme Stresssituation. Der bürokratische Aufwand ist enorm gestiegen und die ganze Situation war eine zusätzliche Belastung in dem ohnehin schon herausfordernden Job“, sagt Wolfgang.

„Es geht mir hier vor allem um die Leute, die Körperkontakt für ihr Wohlbefinden brauchen.“

„Die Klienten konnten sich früher frei bewegen, sind am Gelände spazieren gegangen und haben sich unter den Gruppen durchgemischt“, sagt Isabella M.*, die bis kurz vor Jahreswechsel in einer Tageseinrichtung einer großen Organisation tätig war. In ihrer Einrichtung wurden Bewohner*innen im Lockdown dazu angehalten, sich in ihren Räumen aufzuhalten und Gruppenansammlungen zu meiden. „Die Regeln wurden sehr streng eingehalten. So streng, dass dabei verloren gehen könnte, dass man Leute berühren, etwas mit ihnen unternehmen, ihnen Selbstständigkeit und Selbstwirksamkeit vermitteln sollte“, befürchtet sie. „Da kommen wir auf Dauer dahin, wo wir früher waren, als behinderte Menschen in Großinstitutionen untergebracht wurden und wenig bis gar keine persönliche Betreuung hatten,“ sagt Isabella. „Es geht mir hier vor allem um die Leute, die Körperkontakt für ihr Wohlbefinden brauchen.“

Heike Grebien hat Verständnis für diese Sorge, doch sieht sie die Krise als Chance. „Die Strukturen und Institutionen der Behindertenhilfe sind aus einer sehr paternalistischen Perspektive auf Menschen mit Behinderungen entstanden. Die Krise hat jetzt die Schwächen im Pflegebereich offengelegt“, sagt sie. Grebien bezeichnet die derzeitige Unterbringung und Betreuung von Menschen mit Behinderungen in Österreich als Auslaufmodell. „Die Idee der UN-Behindertenrechtskonvention ist, dass Menschen mit Behinderungen ein möglichst selbstbestimmtes Leben ohne Gewalt führen können, das ist bei uns bei weitem nicht für alle möglich“, sagt sie. In ihren Augen sei die Krise deshalb eine gute Gelegenheit, Betreuungsangebote zu überdenken und die De-Institutionalisierung in dem Bereich weiter voranzutreiben. „Die Bevölkerung mit Behinderung hat eigene Ideen und Meinungen, wie sie ihr Leben gestalten will und das hat oft wenig mit dem Leben in Institutionen zu tun”, sagt die Nationalratsabgeordnete.

„Es geht mir schon auf die Nerven, so eingeschränkt zu sein und ich bin auch oft traurig deswegen“, sagt Anastasia, „aber ich zeige das in der Nähe meiner Mama nicht, sondern gehe dann in mein Zimmer.“ Bald könnte sich das Leben auch für Anastasia F. wieder zum Positiven verändern. Die junge Frau plant gerade ihren Umzug. Sie wird dann zum ersten Mal alleine leben und ihrer Arbeit in der Tagesstruktur wieder nachgehen können. Der Umzug gibt Anastasia Hoffnung auf ein freies und selbstbestimmtes Leben. Kommende Woche erhält die 25-Jährige außerdem ihre erste Impfung. „Ich hoffe, dass mit den Impfungen bald alles besser funktioniert,“ sagt Anastasia. „Und vielleicht geht ja in meinem eigenen Leben bald etwas weiter, ich hoffe es jedenfalls.”

*Namen geändert

Grafik (c) Clara Sinnitsch