Keine Sorgenkinder

Die Aktion Sorgenkind war die bekannteste und erfolgreichste Soziallotterie Deutschlands. Doch Behindertenverbände kritisierten den Namen und das Konzept. Im Jahr 2000 kam ein neuer Name: Aktion Mensch. Warum das wichtig war, aber die Aktion bis heute kritisiert wird.

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  • In diesem Text geht es um die Aktion Mensch, die früher Aktion Sorgenkind hieß.

  • Es geht auch um die Frage:
 Wie werden Menschen mit Behinderung in Medien dargestellt?

 

“Der Schlüssel für die Toilette ist gegen eine kleine Spende zugunsten der Aktion Sorgenkind bei der Hausfrau abzuholen”, stand 1982 auf einem Zettel an einer Klotür bei einer privaten Geburtstagsparty. Neben einer Torwand in einem hessischen Einkaufszentrum hatte ein Mitarbeiter geschrieben: “Für jedes geschossene Tor gibt es 100 Mark für die Aktion Sorgenkind.” Bei einem Torwandschießen im Einkaufszentrum konnten die Besucher:innen neben dem Einkaufen mit berühmten Fußballstars Tore schießen. Mit dem Einnahmen, der durch die Aktionen zusammenkam, unterstützte die Aktion Sorgenkind Projekte für behinderte Menschen.

So einfach geht Helfen, damals wie heute. Die deutsche Aktion Sorgenkind gibt es heute noch immer, doch seit 2000 trägt sie einen neuen Namen: Aktion Mensch.

Grund für die Namensänderung: Menschen mit Behinderungen fühlten sich durch den Namen diskriminiert und kritisierten, wie Menschen mit Behinderungen in den Videos der Aktion dargestellt werden. Die Kritik an der Aktion Sorgenkind von damals ähnelt der Kritik an der österreichischen Spenden-Aktion „Licht ins Dunkel“ von heute. Der Unterschied: In Deutschland hat man sich dazu entschlossen, das Spenden-Format zu verändern. Trotzdem kritisieren Menschen mit Behinderungen die Aktion Mensch auch heute noch.

Nebenbei Gutes tun?

Anders als „Licht ins Dunkel“ ist die Aktion Mensch keine reine Spendenaktion, sondern eine Sozial-Lotterie und Förderorganisation. Das heißt: Durch den Verkauf von Losen werden unter anderem soziale Projekte für Menschen mit Behinderungen ermöglicht, zum Beispiel für Freizeit, Sport, Arbeit und Wohnen. Menschen können sich also Lose kaufen, dadurch vielleicht ein Haus gewinnen und nebenbei auch behinderte Menschen unterstützen.

 

  • Die Aktion Sorgenkind verkauft Lose. 
Mit dem Geld von den Losen unterstützen 
sie Projekte für Menschen mit Behinderungen.

  • Menschen mit Behinderungen haben die Aktion Sorgenkind kritisiert.
Sie haben gesagt: Der Name und die Videos der Aktion sind herabwürdigend

  • Vor 22 Jahren hat sich die Aktion Sorgenkind umbenannt. Heute heißt sie: Aktion Mensch.

 

Die immer gleichen Bilder

In den 60er-Jahren wurde die Aktion Mensch vom ZDF-Redakteur Hans Mohl gegründet. Zu dieser Zeit waren viele Kinder mit verkürzten oder fehlenden Armen und Beinen zur Welt gekommen, nachdem schwangere Frauen das Schlafmittel Contergan eingenommen hatten. Der Umstand bereitete den Menschen Sorgen. So sei der Name “Aktion Sorgenkind” entstanden, erklärt Ann-Kathrin Akalin von der Aktion Mensch. Die ersten Spendeneinnahmen der Aktion förderten „Anstalten und Heime“, wie es damals hieß, Tagesstätten, Fahrzeuge oder „Krankengymnastinnen“ und „Sprecherzieher“. 74 Millionen Deutsche Mark kamen so vor 45 Jahren zusammen, 585 Millionen Euro waren es vergangenes Jahr (2021). Zum Vergleich: 20,5 Millionen Euro waren es 2021 für „Licht ins Dunkel“.

Um große Spendensummen wie diese zusammenzubekommen, werde in Österreich oft auf ganz bestimmte Bilder zurückgegriffen, sagt Maria Pernegger. Sie leitete 2015/16 eine Studie des Forschungsinstituts MediaAffairs, die sich mit der Darstellung von Menschen mit Behinderungen in den österreichischen Medien befasste. Auch solche, die Mitleid oder Bewunderung bei den Zuseher:innen auslösen. Maria Pernegger sagt: Das ist auch heute noch so. Viele Betroffene kritisieren das.

Auch die 18-jährige Lisa Vas stören solche Bilder. Sie hat vor zwei Jahren durch die österreichische Spenden-Aktion „Licht ins Dunkel“ ein Handbike erhalten. Das ist ein kleiner Motor, den man vorne an ihren Rollstuhl montieren kann. Damit kann Lisa bergauf und mit ihrem Hund in den Wald fahren. Bemitleidet will Lisa deswegen nicht werden. Die junge Frau, die ihre Freizeit am allerliebsten im Reitstall bei ihren Pferden verbringt, erzählt, dass sie sich pudelwohl in ihrem Körper fühlt. “Und ich finde einfach, dass ,Licht ins Dunkel’ immer nur zeigt: Behinderte Menschen ist gleich ein Mensch, der Hilfe braucht.”

 

  • Eine Studie sagt: Menschen mit Behinderungen
werden in den Medien oft als Opfer dargestellt.

  • Lisa Vas stört das.
 Sie hat eine Behinderung, aber sie möchte kein Mitleid.
 Sie fühlt sich wohl in ihrem Körper.


 

Bilder wie diese prägen bis heute unsere Vorstellung über das Leben mit Behinderung, sagt die Inklusionsforscherin Ursula Naue von der Universität Wien. Aber die Studie des Forschungsinstituts MediaAffairs zeigt: Diese Bilder beruhen auf Klischees und verletzen außerdem die Menschenrechte behinderter Personen.

Maria Pernegger beschäftigt sich noch heute viel mit der Darstellung von behinderten Menschen in Österreichs Medien. Sie hält fest: “Vor allem bei Charity-Aktionen steht das Narrativ der leidenden Behinderten im Fokus, denen von Promis, Unternehmen, Politiker:innen mit einer großzügigen Geldspende aus der Patsche geholfen wird. Der Mensch mit Behinderung bleibt Bittsteller:in.”

Über Menschen mit Behinderungen wird laut der Studie in österreichischen Nachrichtenmedien generell wenig berichtet. Dabei leben in Österreich rund 1,3 Millionen Menschen mit Behinderungen. Ganz besonders selten kommen jene Personen mit Behinderung vor, die “medial nicht gut vermarktbar“ seien, sagt Pernegger: “Allgemein kann man sagen: Es werden Personen gezeigt, die über Emotionen wie Bewunderung oder Mitleid wirken”

Das führe zu einem verzerrten Bild, sagt sie. Ein Beispiel: Sehr häufig werden Personen gezeigt, deren Behinderung offensichtlich ist. Dabei haben ungefähr 70 Prozent der Menschen mit Behinderungen eine „unsichtbare“ Behinderung (z.B.: chronische Schmerzen oder psychische Probleme), so Wolfgang Kowatsch Geschäftsführer der inklusiven Unternehmensberatung myAbility in einem Interview mit der Tageszeitung „Kurier“. Dieser Umstand wird in der Berichterstattung nicht gezeigt.

„,Gut gemeint’ ist dabei auch in der medialen Debatte manchmal das Gegenteil von ,gut’ im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention – ein Problem, welches vor allem in der medialen Inszenierung von Wohltätigkeitsaktionen für Menschen mit Behinderung offensichtlich wird”, schreibt Pernegger in ihrer Studie. In der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen steht: Eine klischeehafte Berichterstattung über behinderte Menschen verletzt die Menschenrechte, wenn sie diskriminierend ist und ihre Lebensrealität einseitig oder falsch darstellt. Besser wäre es zu zeigen: Welche Barrieren müssen Menschen mit Behinderungen überwinden und welche Schwierigkeiten gibt es im gesellschaftlichen Leben?

 

  • Menschen mit Behinderungen werden bei Aktionen, die für einen guten Zweck Geld sammeln, besonders oft als Opfer dargestellt.

  • Das passt nicht mit der UN-Konvention
über die Rechte von Menschen mit Behinderungen zusammen.

 

Vom „Sorgenkind“ zum Menschen

Diesen Forderungen der UN-Konvention zu den Rechten von Menschen mit Behinderungen versuche die Aktion Mensch heute gerecht zu werden, so Ann-Kathrin Akalin von Aktion Mensch. Nach anhaltender Kritik der Behindertenverbände wagte das ZDF im Jahr 2000 einen Neuanfang: Aus der Aktion Sorgenkind wurde die Aktion Mensch.

Die Macher:innen der Aktion Mensch hätten damals Angst gehabt, den Namen zu ändern, sagt Akalin. Die Sorge sei damals gewesen, dass sie weniger bekannt würden und dann auch weniger Geld einnehmen könnten. Es sind ähnliche Argumente, wie die von Pius Strobl, der für die ORF-Formate rund um „Licht ins Dunkel“ verantwortlich ist.

In Deutschland haben sich derartige Befürchtungen nicht bestätigt: Heute, zwanzig Jahre nach der Umbenennung, sei die Aktion Mensch erfolgreicher denn je, sagt Alkalin. Man wolle zeigen, welche Barrieren es gibt und wie Menschen mit Behinderung leben, sagt Akalin. Es gehe also um Aufklärung und nicht um Mitleid.

Das sind gute Vorsätze, aber wie sieht die Realität aus? In einem Youtube-Video der Aktion Mensch aus dem Jahr 2020 mit dem Titel “Gehörlos trifft blind” treffen sich Fabiana und Cindy zu einem Gespräch auf einem Sofa. Die Youtuberin Cindy ist gehörlos, Youtuberin Fabiana ist blind. Die beiden Frauen erzählen von ihrem Alltag. Cindy, liest zum Teil von den Lippen ab, der Rest ergibt sich aus Sinn und Logik, erklärt sie. Sie zeigen, wie gehörlose und blinde Menschen miteinander kommunizieren. Es gibt noch mehrere Videos dieser Art. Dort erfährt man, wie sich Menschen mit Rollstuhl fortbewegen oder wie Menschen mit Down-Syndrom und Tourette leben.
Eine mediale Darstellung, die auch Menschen mit Behinderungen in Österreich fordern.

 

  • Ann-Kathrin Akalin von der Aktion Mensch sagt: 
Die Aktion Mensch bemüht sich, 
Menschen mit Behinderungen gut darzustellen.

  • Die neuen Videos der Aktion Mensch sollen 
über Behinderung informieren. Schaffen sie das?

 

Bilder alleine reichen nicht

Mit dem neuen Namen und der neuen Bildsprache hat sich nicht nur das Image der Aktion verbessert, auch die Erlöse sind gestiegen, heißt es von Aktion Mensch. Trotzdem gibt es weiterhin Kritik.

Die Aktion Mensch sei immer „ganz vorne mit dabei“, wenn es darum gehe, über Behinderungen zu sprechen, sagt die Aktivistin Luisa L’Audace in einem öffentlichen Statement. Aber: Der Verein bestehe größtenteils aus nicht-behinderten Menschen, die mit dem Thema jedes Jahr Millionenumsätze machten. Die Aktivist*innen kritisieren auch, dass bei der Aktion Mensch nicht-behinderte Personen dafür bezahlt werden, über Menschen mit Behinderung aufzuklären. Besser fänden sie es, wenn Menschen mit Behinderungen für diese Arbeit bezahlt würden.

Was sie außerdem kritisieren: Fehlende Barrierefreiheit wird als ein Problem einzelner Personen gezeigt und nicht als ein gesellschaftliches Problem. Die deutsche Aktivistin Alina Buschmann sagt: “Behinderte Menschen brauchen keine Hilfsaktionen, sondern Rechte.”

Klatschende Hände

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Redaktion: Lisa Kreutzer

Lektorat: Patricia McAllister-Käfer

Graphik: Clara Sinnitsch

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