Wien hat eine neue Stadtregierung. So wie viele zuvor, setzen die Politiker einen Fokus auf Mobilität. Das Budget für Radwege soll vervierfacht, Straßenbahn-Verbindungen ausgebaut werden. Können wir uns eine Stadt ohne Autos vorstellen? Ein Gespräch mit Harald Frey, Wissenschaftler am Institut für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik der Technischen Universität Wien.
Wieso haben Radfahrer in Wien nicht so viel Platz wie Autos?
Im Moment stehen zwei Drittel des Straßenraumes fürs Autofahren zur Verfügung und nur ein Bruchteil für das Radfahren. Deswegen enden viele Radwege im Nichts, zum Teil ist es objektiv gefährlich für Radfahrer in der Stadt. Da wäre es notwendig, dass man die Flächen neu verteilt. Das müssen nicht immer baulich getrennte Radwege sein, sondern auch ein Mischverkehr, wo der Autoverkehr entsprechend langsam fährt – zum Beispiel wie auf der Mariahilfer Straße. Wir sehen heute die Resultate einer 50, 60, 70 Jahre alten Stadtplanung, die stark auf das Auto orientiert war. Die Neuaufteilung des Raumes zu Gunsten des Fußgänger und des Radverkehrs ist ein entscheidendes Kriterium aber auch eine der größten Herausforderungen.
Ich habe gesehen, dass Radfahrer manchmal auch am Zebrastreifen fahren.
Wenn Radfahrer auf Infrastruktur für Fußgängerverkehr ausweichen, ist das natürlich kritisch, keine Frage. Aber es ist weniger ein Problem des Radfahrers als eine Konsequenz des Autoverkehrs. Weil das Auto einfach alles dominiert und den Platz beansprucht, auf dem Radfahrer sein sollten. Das sind Ergebnisse einer Planung mit diesem Separierungs-Denken und die Folgen einer Platzvergeudung für den Autoverkehr – das muss man so nennen, dann im Durchschnitt sitzt nur eine Person im Auto. Dieses braucht aber alleine wenn es steht, 12 bis 15 Mal soviel Fläche wie das Rad oder der Fußgänger. Wenn es mit 40 km/h fährt, braucht es 60 Quadratmeter Fläche. Da hätten 60 Fußgänger Platz.
Wie ändert man das: Reduziert man Platz für Autos oder schafft man zuerst Anreize, damit Menschen auf andere Verkehrsmittel umsteigen?
Man muss sowohl als auch machen, aber zuerst die Fläche für den Autoverkehr reduzieren. Gerade in Wien gibt es schon ein sehr gutes Angebot an öffentlichen Verkehrsmitteln. Nur Angebote zu schaffen reicht nicht, wenn man nicht gleichzeitig auch Autofahren unattraktiver macht.
Auch bei den Wien-Wahlen war das ein großes Thema.
Das Thema ist ein politisches und es eignet sich zwar gut für den Wahlkampf, aber nur gering für die Alltagspolitik. Wenn es darum geht, Flächen vom Autoverkehr wegzunehmen, kommt sofort eine Diskussion auf, bei der sich gewisse Parteien dagegen stellen. Das Thema polarisiert stark. Jetzt, wo nicht mehr die Grünen diese Agenda haben, wird man sehen, wie es weiterläuft.
Aber auch in den letzten Jahren hat sich in der Verkehrsmittelwahl in Wien relativ wenig verändert: Der Radverkehr hat sich etwas gesteigert, liegt aber „nur“ bei sieben Prozent. Schon seit 1993 will man ihn auf 10 Prozent steigern. Der öffentliche Verkehr hat sich in etwa gehalten. In der Vergangenheit war es einfacher, weil man mit dem U-Bahnausbau und ähnlichen Maßnahmen etwas bewirken konnte. Je näher man dem Ziel kommt, desto schwieriger wird es, Dinge bequem umzusetzen. Die neue Parkraumbewirtschaftung in Wien könnte ein Thema sein, bei dem etwas weitergeht und bei dem sich auch im Verhalten der Menschen etwas ändern kann.
Könnte man Autos einfach auf Autobahnen verbannen, die rund um die Stadt verlaufen?
Ja, es gibt die Idee, Nachbarschaftsquartiere autofrei zu gestalten und Autos ins „höherrangige“ Straßennetz zurückzudrängen. Das würde heißen, dass man kurze Wege zu Fuß oder mit dem Rad zurücklegt und nicht mit dem Auto in kleinen Gassen unterwegs ist. Es gibt auch die Idee des „Superblocks“, bei der man sagt: Das Auto braucht nicht die kleinteiligen Raster wie der Fußgänger oder der Radverkehr. Stattdessen parkt es am Rande der Quartiere, in Garagen und nimmt nicht dem öffentlichen Raum den Platz weg.
Machen Versuche wie Pop-up Radwege einen Unterschied?
Versuche, bei denen man für eine Zeit eine Straße für den Straßenverkehr sperrt, sind auf jeden Fall die richtige Herangehensweise. Dabei sieht man, dass nichts Großartiges im System passiert, weil der Autoverkehr so viele Kapazitätsreserven hat. Als für die EM 2008 der Ring für ein Monat gesperrt war, haben wir eine Begleituntersuchung gemacht. Wir haben gesehen, dass auch auf der 2-er Linie – der Parallelroute zum Ring – 11 Prozent weniger Verkehr war als im Vergleichsmonat 2007. Die Menschen weichen also großräumiger aus, Wege werden unterlassen oder sie steigen auf andere Verkehrsmittel um.
Wie viel Energie verbraucht der ganze Straßenverkehr?
In Wien stammen 98% des fossilen Energieverbrauchs im Verkehrsaufkommen vom Autoverkehr. Der öffentliche Verkehr ist sehr energieeffizient und fährt überwiegend mit elektrischer Energie. Im österreichischen Durchschnitt muss man aber sagen, dass sich der Energieverbrauch im Verkehr in den letzten 70 Jahren um den Faktor 50 erhöht hat.
Spielt die Größe der Autos hier eine Rolle?
Fahrzeuge – Stichwort SUVs – sind deutlich größer als noch vor 50 Jahren. Alles was an Effizienzsteigerungen passiert, also Verbesserungen von Motoren und so weiter, wird durch größere Fahrzeuge und technischer Ausstattung wie Klimaanlagen wieder zunichte gemacht.
Was würde es ändern, wenn Autos statt Benzin mit erneuerbarer Energie angetrieben werden würden?
Das kommt auf die Antriebstechnologie an. Der Elektromotor ist ungefähr dreimal so effizient wie der Verbrennungskraftmotor. In Österreich haben wir viel Wasserkraft und zum Teil auch Windenergie. Die Errichtung von Windkraftwerken und Wasserkraftwerken sind aber auch Eingriffe in Ökosysteme. Nur die Antriebstechnik zu verändern, ist also die falsche Diskussion. Wir müssen über den Energieverbrauch insgesamt sprechen, der ist zu hoch. Das Elektroauto ist genauso unsinnig, wenn nur eine Person drin sitzt. Dann brauche ich den Großteil der Energie dafür, dieses tonnenschwere Teil zu bewegen.
Setzen wir falsche Anreize?
Im Moment sind 50 Prozent der Autowege kürzer als fünf Kilometer, 40 Prozent kürzer als zweieinhalb Kilometer! Das sind Distanzen, die man zu Fuß gehen oder mit dem Rad fahren könnte. Wenn ich weiß, dass ich am Zielort gratis parken kann, kommen viele gar nicht auf die Idee, andere Verkehrsmittel zu verwenden. Zum Vergleich: Wenn ich weiß, dieser Raum hat eine Tür, verlasse ich ihn auch nicht durchs Fenster. Weniger Autofahren führt auch zu der Belebung des öffentlichen Raumes. Leute übernehmen dann mehr Verantwortung für die Nachbarschaft, das Gebiet. Wenn sich Kinder sicher draußen aufhalten können, steigen auch die Freundschaften mit Menschen auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Hat man während des ersten Lockdowns große Unterschiede gesehen?
Prinzipiell birgt jede kurze Störung im System die Möglichkeit, etwas zu verändern. Während der Lockdown-Phase im März und April ist der Autoverkehr deutlich zurückgegangen. Jetzt sind wir aber schon wieder bei 70 Prozent des Verkehrsaufkommens des Vorjahres. Im Juni war der Autoverkehr sogar leicht über dem Vergleichswert. Und auch wenn man alle Home office Potentiale ausschöpft, könnte man nur etwa vier Prozent aller CO2-Emissionen im Verkehrssektor einsparen. Ich befürchte also, dass wir einen Backlash auf alte Verhaltensmuster sehen werden – aus Angst vor Ansteckung auf individueller ebene und auf Systemebene, weil kein Geld für Innovationen in die Hand genommen werden wird. Die Ansätze wären da gewesen, aber sie wurden nicht genutzt – trotz Klimawandel. Man hat das massiv verschlafen.
Johannes Stangl hat für Fridays4Future einen Algorithmus erstellt…
mit dem man sich virtuell eine Stadt ohne Autos basteln kann.
Interview: Matthias Porak, unterstützt von Katharina Kropshofer
Collage: Armin Länge & Moritz Wildberger
Infografik: Katharina Brunner