Collage: Smartphone in Hand, darin Zeitungen und ein Zahnrad

Gefangen im News-Cycle

27. Januar 2021

Smartphones wollen ständig unsere Aufmerksamkeit. Die meisten von uns können sie jederzeit abschalten und weglegen. Was aber, wenn das nicht geht?

Smartphones wollen ständig unsere Aufmerksamkeit. Die meisten von uns können sie jederzeit abschalten und weglegen. Was aber, wenn das nicht geht? 

Es ist 00:30. Inzwischen tut sich wirklich nichts mehr. Seit Stunden ein ewiges Wechseln zwischen Instagram, Twitter, Nachrichtenapps, ein ewiges Aufsaugen von Informationen aus verschiedenen Quellen. Das eigentliche Abendprogramm – gemütlich lesen oder eine Serie schauen – hat Emina Mujagić längst vergessen. Ihre Augen brennen. Ihr Kopf schmerzt. Die 25- Jährige ist müde, ihr Körper sehnt sich nach Schlaf, doch ihr Kopf sagt “Nein”. Sie leidet unter exzessivem Smartphone-Konsum.

Wie Emina geht es vielen Menschen, die auf ihre Smartphones angewiesen sind. Social Media macht niemals Pause, Social Media ist endlos. Das wird fast jedem irgendwann mal zu viel. Die meisten legen dann das Smartphone weg, verstecken es, schalten ab. Was aber, wenn man das nicht kann? Was, wenn man online sein muss?  Das Bedürfnis immer auf dem neuesten Stand zu sein, das insbesondere Journalist*innen, Blogger*innen und Social-Media-Manager*innen häufig verspüren, ist dann größer als die Stimme der Vernunft, die eine schnelle Rückkehr in die “reale” Welt fordert. 

Vollzeitjob Instagram

Emina verbringt mehr Zeit mit ihrem Smartphone als die meisten Menschen. Sie liefert ihren knapp 7.300 Follower*innen auf Instagram dreimal wöchentlich ein persönlich zusammengestelltes Update mit Nachrichten aus aller Welt. Nach dem Abschluss ihres Publizistik-Studiums im Frühjahr 2020 machte sie ein Praktikum beim ZDF-Auslandskorrespondenz-Büro in Wien. Seitdem ist sie quasi “nicht beschäftigt”, sagt sie. Aber: Ihre Tätigkeit auf Instagram ist eigentlich ein Vollzeit-Job. 

Sie sensibilisiert Menschen für gesellschaftspolitisch relevante Themen und nimmt sich dabei kein Blatt vor den Mund. Sie betreibt Journalismus auf ihre Weise: “Es hat lange gedauert, bis ich geschafft habe, mir selbst bewusst zu machen, dass das “journalist” in meiner Instagram-Bio (Anm. der Red: gemeint ist die Beschreibung des Instagramprofils) berechtigt ist.” Bezahlt wird Emina dafür meistens nicht. Einige Kooperationspartner sind abgesprungen seit bei “Realtalkwithemina” immer mehr “Realtalk”, politische Statements und Meinungen, vorkommen. Black Lives Matter, die menschenunwürdigen Zustände in den Flüchtlingslagern in Griechenland und Bosnien oder die permanenten Schuldzuweisungen der österreichischen Bundesregierung gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund – Emina schweigt zu diesen Themen nicht mehr.

 
 
 
 
 
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Überkonsum wegen der Pandemie

Corona hat Auswirkungen auf unseren Umgang mit dem Smartphone, das zeigt eine Umfrage des deutschen Digitalverbandes Bitkom. Diese fragt jährlich die Bereitschaft in der deutschen Bevölkerung ab, für eine Zeit lang einen Digital Detox”, also eine digitale Pause, einzulegen. Das letzte Mal wurde diese repräsentative Umfrage Anfang Jänner 2021 durchgeführt. Sie gibt Hinweise darauf, dass es in Krisenzeiten noch schwieriger ist, diese digitale Pause durchzuziehen. 

Die Corona-Pandemie beeinflusst auch Eminas Umgang mit Nachrichten und ihrem Smartphone. Sie erzählt, dass sie sich ständig informiert, was es gerade Neues zu Corona gibt: „Mein Vater fragt mich immer: Warum liest du das? Er weiß nämlich, wie ich bin, er weiß, dass ich an dem untergehen werde. Aber ich kann halt nicht anders. Ich denke mir:  Je mehr ich darüber weiß, desto mehr habe ich die Kontrolle darüber.“ 

Im Vergleich zu 2019 haben 2020 nicht nur insgesamt weniger Menschen in Deutschland versucht, längere Zeit auf das Handy zu verzichten, es haben auch mehr ihren “Digital Detox” vorzeitig abgebrochen, wie die Umfrage zeigt. 

Auch Johannes Pucher, Journalist bei der Tageszeitung “Der Standard”, fällt das Abschalten zunehmend schwer. Sein Job drängt ihn in die Rolle des “Immer-online-sein-müssens”, vermutet er. Seitdem er als Journalist tätig ist, hat sich sein Informationsbedürfnis verändert. “Ich würde sagen es ist allumfassender geworden. Auch wenn ich nicht unbedingt länger online bin,  konsumiere ich berufsbedingt regelmäßig unterschiedliche Nachrichtenseiten.”, erzählt der 28-jährige. Sein Tag beginnt, wie für viele informationshungrige Medienmenschen mit dem Ö1-Morgenjournal oder seinem Twitter-Feed. Johannes’ Aufmerksamkeitsspanne hat sich durch den intensiven Medienkonsum verkürzt: “Wenn ich ein Buch lese, fällt mir alle zehn Seiten etwas anderes ein. Ich lege dann das Buch weg und nehme das Handy in die Hand und dann bin ich schon wieder draußen.”

Bücher lesen bringt Auszeit

Für die Bloggerin Emina ist Lesen eine Strategie, um exzessiven Internet-Sessions zu entfliehen: “Wenn mir alles zu viel wird, lese ich, und dann lese ich noch mehr. Ich lese dann oft “Die Zeit”, in der viele Dinge vorkommen, mit denen ich mich sonst beschäftige, aber irgendwie entspannt mich das”. Das Handy muss dabei außer Reichweite sein, damit die Versuchung nicht zu groß ist, es wieder in die Hand zu nehmen. Wenn sie es schafft, dabei zu bleiben und in den “Flow” zu kommen, dann gelingt es ihr auch, mehrere Stunden lang zu lesen.

Eine Studie von US-amerikanischen Wissenschaftler*innen aus dem Jahr 2017 bestätigt, dass es bereits einen Unterschied macht, wenn das Smartphone neben einem liegt. Allein, dass es da ist, erschwert es, sich zu konzentrieren. In zwei Experimenten mit über 800 Proband*innen wurde die Fähigkeit, fokussiert an einer Sache zu arbeiten, durch die Anwesenheit des Smartphones negativ beeinflusst. Es gilt: je stärker Personen sowieso von ihrem Smartphone abhängig sind, desto mehr leidet ihre Aufmerksamkeit auch in diesen Situationen. Durch die Entfernung des Smartphone aus dem direkten Umfeld kann laut den Studienautor*innen jene kognitive Einschränkung, also die Einschränkung des Denkens, verhindert werden. Das Handy nur lautlos oder auszuschalten, beziehungsweise es mit dem Bildschirm nach unten hinzulegen, hilft nicht. 

Oft lenkt das Handy Emina nicht nur vom Lesen oder Arbeiten ab, sondern es bekommt ihre ganze Aufmerksamkeit. Das “Wischen” wird die einzige Tätigkeit. Stundenlang sitzt oder liegt sie dann mit dem Handy in der Hand da. Sie fragt sich dann, was sie da eigentlich macht und warum sie es nicht schafft, die Dinge, die sie eigentlich tun wollte, zu tun. Sie fühlt sich unproduktiv, ihre “Sucht” wirkt sich negativ auf ihr Wohlbefinden aus.

Zwischen Informationsbedürfnis und exzessiven Umgang

Lernen, damit umzugehen, wird immer wichtiger, denn das Handy wird nicht mehr aus dem Alltag verschwinden. Alle Menschen, aber ganz besonders Personen, die mit Social Media arbeiten, müssen lernen, das richtige Maß zwischen dem Stillen des Informationsbedürfnisses und einem exzessivem und schädlichem Handykonsum zu finden. Oft gelingt das nicht. Das Smartphone wird zur Sucht. 

Diese Schattenseite der Digitalisierung wird von der Politik bisher vernachlässigt. Das zeigt beispielsweise der 2020 präsentierte Aktionsplan “Digital Austria”. Damit möchte die österreichische Bundesregierung eine digitale Transformation für mehr Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Wohlstand in ganz Österreich einleiten. Strategien für einen angemessenen und gesunden Umgang mit Smartphone und Co. sucht man dort vergeblich. Stattdessen geht es darum, möglichst alle Arbeitsbereiche und die Verwaltung zu digitalisieren. 

Phasen, in denen er immer mehr am Smartphone hängt, kennt auch Johannes. Bei ihm geht das dann oft so weit, “bis es wirklich nicht mehr geht”. Dann muss er alles zusammenpacken und wegfahren. Dabei ist es ganz wichtig, dass das Handy physisch zuhause bleibt, da ansonsten das Gefühl etwas zu verpassen, zu stark wird: “Ich war mit Freunden ein paar Tage auf eine Almhütte und musste arbeitsbedingt mein Handy mitnehmen. Als der Akku ausgegangen ist, konnte ich nur daran denken, wie und wann ich es wieder aufladen kann. Wenn das Handy daheim bleibt, dann verschwindet es auch aus meinen Gedanken.”

Die Angst, etwas zu verpassen 

Die Angst, etwas Wichtiges zu verpassen, kann auch pathologisch werden. Beschrieben wird diese Angst in der Popkultur dann oft mit dem Wort Nomophobie, “No mobile phobia”. Eine offizielle Diagnose gibt es dafür aber (noch) nicht. Dieses Gefühl kennt auch Emina: “Wenn ich einen Tag lang nicht auf Twitter bin, hab ich das Gefühl alles zu verpassen. Aber ich weiß eh, dass das nicht so ist.” 

Im Jänner 2021 ist Emina  ausgelaugt. Die Pandemie macht sie müde, ihr Smartphone macht sie “fertig”, beschreibt sie. Wenn ihr alles zu viel wird, zieht sich Emina immer wieder eine Zeit lang von Instagram zurück. Sie entschuldigt sich dann im Nachhinein bei ihren Follower*innen, dass sie etwas Zeit für sich gebraucht hat. Zeit abzuschalten, Zeit runterzukommen. Jene Phasen, in denen ihr alles zu viel wird, kommen jetzt im Lockdown noch häufiger vor.  Auch der kalte, dunkle Winter macht es nochmal schwieriger. Emina hofft auf Zeiten, in denen es ihr wieder leicht fällt, ihr Smartphone einfach zu vergessen, auf den Frühling, den Sommer, das Ende der Pandemie.

Text: Emil Biller

Redaktionelle Bearbeitung: Kathi Kropshofer, Kathi Brunner, Clara Porak

Illustration: Moritz Wildberger