Sonderschule

Gemeinsam oder getrennt: Braucht die Schule Inklusion? 

29. September 2022

Inklusion in der Schule ist noch immer eine Seltenheit. Nikolai und Theresa von andererseits wollen wissen: Warum ist das eigentlich so? Und wie unterscheidet sich inklusiver Unterricht von Sonderschulen?

Inklusion in der Schule ist noch immer eine Seltenheit. Nikolai und Theresa von andererseits wollen wissen: Warum ist das eigentlich so? Und wie unterscheidet sich inklusiver Unterricht von Sonderschulen? 

Text: Theresa Stütz und Nikolai Prodöhl

10.15 Uhr: Wenn man das Gelände der Erich-Kästner-Schule in Hamburg betritt, hört man erstmals Kinder kreischen. Manche essen ihre Pausenbrote, andere spielen im Hof, laufen herum oder sind am Spielplatz. Sie brüllen und quietschen vor Spaß.  Das ist etwas erschreckend am Anfang. Denn es hört sich dort laut an, macht aber auch neugierig.

Von außen sieht die Schule gewöhnlich aus: Es gibt ein Veranstaltungsräume, ein Musikgebäude, Unterrichtsräume und ein Schulrestaurant. Aber die Erich-Kästner-Schule ist ziemlich besonders: Sie ist eine inklusive Schule in Hamburg. Das bedeutet, dass hier von der Vorschule bis zum Abitur Kinder mit und ohne Behinderung zusammen lernen können. Ein solches Unterrichtsmodell wird auch so von der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) vorgesehen. Sie verlangt: Ein inklusives Bildungssystem muss Zugang zu Bildung für alle ermöglichen. Österreich hat sich 2008 und Deutschland 2009 dazu verpflichtet. Eigentlich sollten Schule wie die Erich Kästner Schule also die Norm sein. Aber Schüler*innen mit und ohne Behinderung werden trotzdem noch getrennt voneinander unterrichtet. Warum ist das so? Und welchen Unterschied macht es, ob die Kinder miteinander oder getrennt lernen?

 
 

An der Erich Kästner Schule in Hamburg lernen Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam.
In vielen anderen Schulen ist das nicht so.
Obwohl Österreich und Deutschland das versprochen haben.
Was ist anders, wenn Kinder gemeinsam lernen?

Ist-Zustand in Österreich und Deutschland

Bisher gibt es in Österreich laut dem Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung 287 Sonderschulen. In Deutschland gibt es mehr als 2.800.  Ungefähr 5% der Pflichtschüler*innen in Österreich und circa 8% der Lernenden in Deutschland, haben einen sogenannten Sonderpädagogischen Förderbedarf (SPF). Aber nur ungefähr die Hälfte der deutschen Schüler*innen wird in sogenannten  Regelschulen unterrichtet. Eine Regelschule bedeutet, dass man eine Grundschule, Hauptschule, Realschule, Gymnasium oder Gesamtschule besucht. 

Das Schulgebäude der Erich Kästner Schule in Hamburg

Unterricht – eine Herausforderung 

10.30 Uhr, Erich Kästner Schule, Hamburg: In der Englischstunde  ist es unruhig – ähnlich wie am Schulhof. Zu Beginn arbeiten die Schüler*innen mit beschrifteten Plakaten. Sie sagen auf Englisch, was darauf zu sehen ist. Danach wird ihnen aus dem Englisch-Buch per CD vorgelesen. Die Schüler sprechen durcheinander. Man hat den Eindruck, dass der Unterricht für die Lehrerin herausfordernd ist. Manchen Schüler*innen hilft sie beim Schreiben. 

Laut der Inklusions-Beauftragten der Erich-Kästner-Schule Astrid Jung ist dieser Lärm aber halb so schlimm. Sie erklärt, dass es ruhige und laute Lernphasen gibt. Die Lehrer*innen schauen aber immer darauf, dass sich die Schüler*innen konzentrieren können. Es gibt zum Beispiel Schüler*innen im Autismus-Spektrum, die sich gerne Kopfhörer aufsetzen. Das dämpft den Klassenlärm und hilft der Konzentration. 

Flexiblerer Unterricht

In der Englischstunde arbeiten alle gemeinsam. Es gibt in der Klasse Schüler*innen mit Lernbehinderung und Verhaltensstörung. Es wird darauf geschaut, dass alle im Unterricht mitkommen. Schulsprecher Jephthah Y. erzählt: “Wir haben Arbeitspläne mit verschiedenen Schwierigkeitsstufen. Sie sind für die Schüler angepasst.“

Das Gleiche passiert auch in Sonderschulen. Mit Unterschied, dass hier nur Kinder mit Beeinträchtigung unterrichtet werden. Die Sonderschullehrerin Maria L. (Anm. Name von der Redaktion geändert) aus Niederösterreich erzählt, woran sie im Unterricht alles denken muss. Sie bereitet verschiedene Lernmaterialien vor, schaut, dass sie immer zur Stelle sein kann, wenn die Lernenden Hilfe brauchen, und will auch, dass die Schüler*innen lernen, sich selbst zu vertrauen. “Das fängt mit der Sprache an, dass man Kinder nicht schlecht über sich selbst reden lässt“, sagt sie. “Du darfst nicht sagen ‘Ich bin so dumm, ich schaffe das nicht’, sondern du sollst sagen ‘Ich schaffe das. Ich habe meine Fehler gemacht und habe daraus etwas gelernt.’ ” 

 
 

An der Erich Kästner Schule ist es manchmal laut. Das ist aber nicht schlimm.
Es ist gut für die Inklusion.
Unterschiedliche Kinder brauchen unterschiedliche Sachen.
An der Sonderschule ist das auch so. Das sagt eine Lehrerin.

11.30 Uhr, Hamburg:In der Erich-Kästner-Schule steht Sportunterricht auf dem Programm. Dabei ist ein Schulbegleiter. Er unterstützt. Schulbegleiter helfen den Lehrer*innen nicht beim Unterrichten, sondern Schüler*innen, damit sie den Unterricht bewältigen können. Sie unterstützen jede*n individuell. Die eine Person braucht vielleicht Hilfe bei der Organisation des Schulalltags, die andere wiederum Unterstützung beim Umgang mit starken Emotionen. Die Eltern oder Schüler selbst müssen dafür nichts bezahlen. Und in Österreich gibt es diesen Beruf auch. 

Fachkräftemangel

Die Sportstunde beginnt damit, dass die Kinder durch die Turnhalle laufen. Danach werden drei Reihen gebildet. Beim Aufstellen der Reihe zanken sich ein paar Schüler*innen. Der Schulbegleiter schreitet ein und versuchte die Schüler*innen zu beruhigen. Doch es gibt nicht in jeder Schule einen Schulbegleiter. Sowohl in Deutschland als auch in Österreich herrscht ein Mangel an Schulbegleiter*innen. Das zeigt zum Beispiel ein Schattenbericht zur Situation von Menschen mit Behinderungen in Österreich aus 2020, der vom österreichischen Monitoringausschuss veröffentlicht wurde. Der Bericht zeigt, dass Schulbegleiter*innen noch nicht überall da eingesetzt werden, wo sie gebraucht werden. Aber es gibt auch zu wenige Lehrer*innen. Zu Beginn dieses Schuljahres ging das deutsche Schulportal davon aus, dass in Deutschland bis zu 40.000 Lehrkräfte fehlen. 

 
 

Schulbegleiter können Kindern mit Behinderungen in der Schule helfen.
Aber es gibt zu wenige. Sie fehlen.

Doch ist eines der beiden Schulkonzepte besser als das andere? 

Sowohl in der inklusiven Schule als auch in Sonder- bzw. Förderschulen scheint der Unterricht ähnlich abzulaufen. Oft werden Sonderschulen als Schutzraum beschrieben, in denen Menschen mit Behinderung geschützt lernen können und in denen den Bedürfnissen der Lernenden besser nachgegangen werden. 

Björn Serke, Dozent an der Universität Bielefeld, sagt, dass ein inklusives Schulkonzept aus menschenrechtlicher Perspektive aber am besten dem Kindeswohl entspricht. Im Rahmen der BiLieF-Studie hat er vier Jahre lang verschiedene Schulformen erforscht. Die Studie ergab: Kinder mit einem SPF im Förderschwerpunkt Lernen lernen mehr, wenn sie in inklusiven Schulen sind. Warum? “Ich glaube, dass hat auch damit zu tun, dass die Kinder mehr Anregungen durch ihre Mitschüler*innen haben”, sagt Serke. Auch eine Studie des Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen IQB belegt, dass Schüler*innen mit Behinderungen in inklusiven Schulen besser lernen und sich genauso wohlfühlen wie in Förderschulen. “In der ersten Klasse und in der fünften Klasse üben wir das mit den Kindern, wie die sich gegenseitig unterstützen”, sagt Schulleiterin Maike Drewes der Erich Kästner Schule. “Und das machen die ganz toll. Die helfen sich auch gerne gegenseitig.” 

Forscher Serke erklärt, dass sich Schüler*innen aber in beiden Systemen wohlfühlen können: “Wir haben auch das schulische Wohlbefinden gemessen und erstaunlicherweise haben wir da keinen Unterschied gefunden”, sagt Forscher Serke.  

Außerdem hat das Forscherteam auch herausgefunden: “Wie Lehrer*innen sich verhalten ist sehr wichtig. Da geht es zum Beispiel um die Zusammenarbeit zwischen den Lehrer*innen oder allen Menschen, die in der Schule arbeiten. “Ich würde mir wünschen, dass die Zusammenarbeit an Schulen noch stärker ausgebaut wird”, sagt er. “Dass auch schon die Lehramtsstudierenden die gemeinsame Zusammenarbeit lernen ist ein Schlüsselfaktor, damit Inklusion in der Schule gelingen kann.”

 
 

Ein Experte sagt: Kinder lernen besser, wenn sie alle zusammenlernen.
Deshalb ist Inklusion besser.

Die Klassenräume der Erich Kästner Schule in Hamburg

Miteinander

Während an der Erich-Kästner-Schule in Hamburg unterschiedliche Kinder zusammenlernen, ist das an vielen Schule noch gar nicht so. In Sonderschulen sind Schüler*innen mit Behinderungen oft nur unter sich. So geht es auch Christina Wagner. Sie besuchte die Michael Reitter Landesschule in Linz. Wagner hat selber keine Behinderung, war aber in einer Integrationsklasse. Menschen mit und ohne Behinderung lernen dort gemeinsam. Wagner sagt: “Ich habe mich dort sehr wohlgefühlt, aber leider habe ich die Kinder aus den Sonderschul-Klassen kaum kennengelernt.” Die Kinder ohne Hörbehinderung haben keine Gebärdensprache gelernt, obwohl ihre Klassenlehrerinnen beide Österreichische Gebärdensprache beherrschten. Ein Austausch war also schwer zwischen den gehörlosen und hörenden Schüler*innen. “Das finde ich sehr schade”, sagt Wagner heute. 

Der Schulsprecher der Inklusionsschule in Hamburg hat andere Erfahrungen: “Was ich nicht so gut finde ist, dass Menschen mit Behinderungen den Unterricht stören. Dadurch gibt es Streitigkeiten und Missverständnisse”, sagt er. Aber trotzdem ist ihm Inklusion wichtig: “Uns wurde beigebracht, wie man mit einem Menschen mit Behinderung umgeht und wie man ihnen helfen kann,“ sagt er.  

Die Sonderschullehrerin aus Niederösterreich ist zwiegespalten, was Sonderschulen betrifft. Sie ist der Meinung, dass Sonderschulen jetzt noch notwendig sind, weil es in Sonderschulen oft die Ressourcen gibt, die eine Person mit Behinderung im Schulalltag braucht. Das ist zum Beispiel ein sicherer Lernraum und eine gute Ausstattung in der Schule. Weil es in Regelschulen noch immer oft an Ressourcen fehlt, und in nächster Zukunft keine Änderung in Sicht sei, würden Sonderschulen noch immer benötigt werden. 

 
 

Auch bei der Inklusion gibt es Probleme.
Zum Beispiel stören manchmal Kinder mit Behinderungen die anderen.
Aber alle sagen: Inklusion ist wichtig. Sie funktioniert gut.
Sonderschulen sind für manche auch wichtig.
Warum? In vielen anderen Schulen bekommen Kinder mit Behinderungen nicht genug Hilfe.

12.15 Uhr, Erich Kästner Schule, Hamburg: Der Sportunterricht ist zu Ende, die Klasse läuft in die Garderoben, um sich umzuziehen. Als die Kinder aus der Sporthalle laufen, kann man gerade nicht sehen, wer eine Behinderung hat und wer nicht. Aber: Schulen wie die Erich Kästner Schule bleiben eine Ausnahme. Kinder mit Behinderungen brauchen besondere Förderung. In einer inklusiven Schule bekommen sie spezielle Hilfe. Sie bekommen spezielles Material, so dass sie besser lernen können. Da es im Moment aber nicht genug inklusive Schulen gibt, muss die Sonderschule bis dahin als Zwischenlösung herhalten.  

 
 

Menschen, die viel über Menschen mit Behinderungen in der Schule wissen sagen: Inklusion ist besser.
Wir brauchen Sonderschulen nur, weil es zu wenig Inklusion gibt.

Redaktion und Lektorat: Lisa Kreutzer und Clara Porák

Grafik: Clara Sinnitsch

Fotos: Nikolai Prodöhl