Ablehnung mit System?

»Meine Gesundheit ist ständig gefährdet, solange ich falsche Rollstühle probiere.« – Franziska Seehausen
Eine Frau mit kurzen braunen Haaren, Brille, einem orangen Pullover, einem schwarz-weißen Schal und einer grauen Hose sitzt im Rollstuhl. Sie befindet sich in einem Zimmer, im Hintergrund sieht man eine aufgeschlagene Musikmappe. Sie blickt lächelnd an der Kamera vorbei.

Unsere Autorin Elisabeth Linnerz erzählt: Menschen mit Behinderungen müssen oft anfechten, was Krankenkassen entscheiden. Und darum, dass es in Deutschland sehr unterschiedlich ist, wie gut Menschen mit Behinderungen versorgt werden.

Das ist der zweite Teil unseres Artikels über Kranken-Kassen. Teil 1 kannst Du hier lesen.

Im Frühling 2017 wartet meine Mutter nach der Schule auf mich. Ich kenne ihren Gesichts-Ausdruck. Etwas ist passiert. „Der Antrag für deinen Klinik-Aufenthalt wurde schon wieder abgelehnt”, sagt sie. Ihre Stimme zittert. Sie nimmt mich in den Arm. 

Die Begründung der Krankenkasse in ihrem Brief: „Die Kosten einer stationären Reha dürfen wir nur dann übernehmen, wenn die Behandlungs-Möglichkeiten am Wohnort nicht ausreichen oder bereits ausgeschöpft sind.” 

Damals war ich 15 und sollte das zweite Mal in eine Klinik. Ich ging wegen meiner Skoliose zweimal die Woche zur Physio-Therapie, machte jeden Abend Übungen und trug 23 Stunden am Tag mein hartes Plastik-Korsett. 

Im Brief mit der Absage zur Reha wurde mir erklärt, was ich stattdessen für meine Behandlung alles tun kann. Darin standen nur Dinge, die ich bereits gemacht habe. Mein ganzes Leben drehte sich nur noch um meine Skoliose und jetzt sollte ich angeblich immer noch nicht alles getan haben?

Wie es mir 2017 ging, geht es vielen Menschen mit Behinderungen.

Zum Beispiel Franziska Seehausen. Sie ist Musikerin und Medien-Gestalterin. Franziska Seehausen hat unter anderem auch Skoliose. Und sie hat eine seltene Muskelerkrankung. Im Jahr 2018 wurde das erste Mal ein Rollstuhl für sie beantragt – bis heute versucht sie, einen passenden Rollstuhl zu bekommen. 

Zuerst sollte Franziska Seehausen auf Rat der Krankenkasse einen Elektro-Rollstuhl nehmen. Damit würden ihre Muskeln aber schneller abbauen. Also ging Seehausen in den Widerspruch. Damit hatte sie Erfolg.

„Man braucht einen langen Atem”

Auch ich habe ähnliche Erfahrungen wie Franziska Seehausen gemacht. Meine Mutter wollte sich 2017 nicht damit abfinden, dass ich nicht nochmal in die Klinik konnte. Ich war sauer – aber auch verletzt. Mich so zu sehen, machte meine Mutter sehr traurig. Heute verstehe ich: Sie hatte das Gefühl, versagt zu haben. Sie gab nicht nur dem System Schuld an diesen Problemen. Sie sah die Verantwortung auch bei sich, erfolgreiche Widersprüche zu schreiben, damit ich eine gute Therapie erhalte. Auch in diesem Fall hat sie wieder für mich gekämpft: Nach einem Widerspruch wurde mein Reha-Aufenthalt doch noch genehmigt.

Das ist oft so: 40 Prozent der Wider-Sprüche sind erfolgreich. Auch bei Gerichts-Verfahren gewinnen Versicherte oft. Das zeigt: Vieles, was Menschen eigentlich zusteht, wird zuerst abgelehnt.

Weil sich viele nicht dagegen wehren, sparen sich die Krankenkassen Geld. „Es wird doch öfter nein statt ja gesagt, weil viele nicht in den Wider-Spruch gehen“, sagt Svenja Weuster. Sie ist rechtliche Beraterin beim Sozial-Verband Deutschland im Bundesland Nordrhein-Westfalen. Oft haben die Menschen, die Weuster berät, Angst, sich gegen Entscheidungen der Krankenkassen zu wehren.

Eine Frau mit kurzen braunen Haaren liegt in einem Krankenhaus-Bett. Sie ist halb zugedeckt. Bei ihr im Bett sitzt ein schwarz-weißer Hund, den sie streichelt. Die Frau trägt ein Schwarzes T-Shirt, einen roten Schal und einen Schlauch an der Nase für die Sauerstoff-Zufuhr.
Das ist Franziska Seehausen.

Der Spitzen-Verband Bund der Kranken-Kassen vertritt in Deutschland die Interessen der gesetzlichen Kranken- und Pflege-Kassen. Er betont auf Anfrage, dass die Kranken-Kassen den „weitaus größten Anteil der Versorgungen” direkt genehmigen. Es sei deshalb „kaum vorstellbar, dass die geringe Anzahl der Ablehnungen vor dem Hintergrund erfolgt, dass ohnehin kein Widerspruch eingelegt wird.” Rechts-Beraterin Svenja Weuster erlebt dennoch oft, dass Menschen erst nach viel Arbeit bekommen, was ihnen zu steht: „Man braucht einen langen Atem”, sagt sie.

Auch Franziska Seehausen muss lange durchhalten. Nach monatelanger Diskussion mit der Kranken-Kasse bekommt sie 2019 endlich einen Aktiv-Rollstuhl mit unterstützendem Antrieb. Also einen, den sie selbst bewegt. Doch der Rollstuhl ist viel zu groß für sie.

Der falsche Rollstuhl führt dazu, dass die Atmung von Franziska Seehausen stark eingeschränkt wird. „Das Schwächste an meinem Körper ist mein Rumpf. Ich kann mich nicht gut selbst halten”, sagt sie. Wenn der Rollstuhl nicht perfekt passt, sitzt sie deshalb schief darin. Und wenn er zu schwer ist, kann Seehausen ihn nicht selbst anschieben.

Franziska Seehausen geht daraufhin selbst zu einem Rollstuhl-Bauer. Dort probiert sie einen Maß-Rollstuhl, der endlich passt. Den Maß-Rollstuhl kann sie sich bei der Firma leihen. Aber das ist nicht immer möglich. Denn manchmal braucht die eigentliche Besitzerin den Rollstuhl auch zurück. Außerdem muss Franziska Seehausen den Verleih selbst bezahlen. Sie muss also weitere Rollstühle ausprobieren.

Im Frühjahr 2020 geht es Franziska Seehausen deswegen so schlecht, dass sie ins Krankenhaus muss: Sie hat so starke Schmerzen, dass sie dort das Schmerz-Mittel Morphium bekommt. Franziska Seehausen erzählt: „Die haben mich im Krankenhaus angeschaut und gesagt: Wie wollen Sie auch richtig atmen? Sie sitzen ja total schief im Rollstuhl.” Das steht auch im Befund des Krankenhauses von damals. Franziska Seehausen hat ihn und viele weitere Dokumente vorgelegt.

Der kostenlose Newsletter für alle, die Behinderung besser verstehen wollen!

Warum muss Franziska Seehausen all das über sich ergehen lassen, um den richtigen Rollstuhl zu bekommen? Und wie kann es sein, dass meine Reha ursprünglich nicht genehmigt wurde, obwohl ich sie brauchte?

„Es geht darum, was medizinisch notwendig ist und nicht, was medizinisch möglich ist”, sagt die rechtliche Beraterin Svenja Weuster. Sie weiß, wie Hilfsmittel in Deutschland vergeben werden. Bei Rollstühlen wird pro Person geschaut, welches Modell passt. Aber: Bei allen Leistungen müssen Krankenkassen auf das Geld schauen. Man sagt dazu: Sie sind verpflichtet, wirtschaftlich zu sein. 

Wie in Deutschland aktuell Hilfs-Mittel vergeben werden, verstößt gegen die UN-Behinderten-Rechts-Konvention. Deshalb haben die Vereinten Nationen Deutschland letztes Jahr auch ermahnt. Man sei „besorgt” über die Situation: Im ganzen Land müssten Hilfsmittel in Zukunft „auf der Grundlage der individuellen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen” vergeben werden – und zwar günstig und hochwertig.

Was hat die Politik seit dieser Ermahnung gemacht? Das Bundes-Ministerium für Gesundheit sagt dazu, dass es gerade „zahlreiche Regelungs-Entwürfe zur Verbesserung der Versorgung der Versicherten mit Hilfsmitteln” erarbeitet.

Der Spitzen-Verband Bund der Krankenkassen sagt, dass das Hilfsmittel-Verzeichnis mit „seinen Qualitäts-Anforderungen” einen „hohen Versorgungs-Standard” habe. „Beratungs-Verpflichtungen” würden sicherstellen, dass Versicherte „nicht durch ungerechtfertigte Mehrkosten belastet werden.”

Aber oft kennen Versicherte ihre Rechte nicht. Ein Beispiel: Kranken-Kassen sind nicht die einzige Stelle, die Hilfsmittel bezahlt. Auch die Eingliederungs-Hilfe ist zuständig. Sie zahlt Hilfsmittel, wenn sie vor allem für die Teilhabe und das selbstbestimmte Leben sind – zum Beispiel bei Geräten für Sport. Krankenkassen müssen Anträge für solche Hilfsmittel innerhalb von zwei Wochen an die Eingliederungs-Hilfe weiterleiten – oder sonst selbst bezahlen. Eine von vielen Regelungen, die viele Menschen mit Behinderungen oft nicht kennen.

Auch das Bundes-Ministerium für Gesundheit gibt auf Anfrage zu, dass es mehr Aufklärung braucht. Eigentlich seien Kranken-Kassen verpflichtet, Versicherten mit ausreichenden Informationen eine „informierte und mündige Entscheidung” bei der Versorgung zu ermöglichen. „Diese Verpflichtung wird nach derzeitigem Stand nicht von allen Krankenkassen flächendeckend umgesetzt”, erklärt das Ministerium auf Anfrage. Das bedeutet: Nicht bei allen Kranken-Kassen bekommen Versicherte die Infos, die sie brauchen. Man prüfe aktuell Veränderungen, um die gesetzlichen Krankenkassen stärker in die Pflicht zu nehmen.

Eine Frau mit kurzen braunen Haaren, einem Wollpullover, einer hellblauen Jeans und schwarzen Schuhen sitzt in einem Aktiv-Rollstuhl und macht einen Wheely. Am Kopf trägt sie einen Schlauch, der zur Nase führt für die Sauerstoffzufuhr. Sie blickt fröhlich in die Kamera und lächelt.

Franziska Seehausen hat in den letzten fünf Jahren lernen müssen, wie sie sich wehren kann. Nach ihrem Kranken-Haus-Aufenthalt weigerte sich ihre Kranken-Kasse weiterhin, einen Maß-Rollstuhl für sie zu bewilligen.

Sie muss also weitere Modelle und Zusatz-Ausstattungen wie Sitz-Schalen probieren, die ihre Sitz-Position verbessern sollen. Aber alle Versuche verstärken ihre Schmerzen und verschlechtern ihren Zustand.

Franziska Seehausen sagt: „Meine Gesundheit ist ständig gefährdet, solange ich falsche Rollstühle probiere.” Ein Maß-Rollstuhl würde über zehn Tausend Euro kosten. Das Geld hat Franziska Seehausen nicht. 

Einmal habe sie nach einer Rollstuhl-Erprobung ganze fünf Wochen im Krankenhaus verbracht, erzählt Franziska Seehausen: „Die sprechen von Wirtschaftlichkeit. Aber Krankenhaus-Aufenthalte sind extrem teuer. Das ist das Gegenteil von wirtschaftlich.”

Ihre Kranken-Kasse erklärt auf Anfrage, dass sie bei ihren Entscheidungen „an die gesetzlichen Vorgaben gebunden” sei. Diese würden vorschreiben, dass die Versorgung „notwendig und wirtschaftlich sein muss.” Bei der Frage der Wirtschaftlichkeit würde man aber sehr wohl auch „Folge- und Begleitkosten” wie Krankenhaus-Aufenthalte oder Besuche bei Ärzt*innen berücksichtigen. Außerdem vertraut die Kranken-Kasse der Expertise ihrer Vertrags-Partner, die Erprobungen von Hilfs-Mitteln mit Versicherten durchführen. 

Oft wäre es auf lange Sicht günstiger, direkt das passendste Hilfsmittel zu genehmigen”, sagt Weuster. Aber die Kassen entscheiden eher danach, was im Moment am günstigsten ist. Wenn ein Hilfsmittel nicht im Verzeichnis ist oder man wie Franziska Seehausen ein maßgeschneidertes Hilfsmittel braucht, ist es beinahe immer nötig zu klagen, sagt Weuster. Dann muss oft bewiesen werden, dass die von der Kranken-Kasse vorgeschlagenen Hilfsmittel wirklich nicht ausreichen.

Auch Franziska Seehausen hat vor einem Jahr gegen die Entscheidung der Kranken-Kasse geklagt. Entschieden hat das Gericht noch nicht. „Ich muss kooperieren. Sonst können sie vor Gericht sagen, ich habe nicht alles probiert. Das ist meine einzige Chance”, sagt Franziska Seehausen. Deshalb probiert sie auf Aufforderung auch weitere Rollstühle. 

So ähnlich wie Franziska Seehausen ging es mir auch, als mein zweiter Klinik-Aufenthalt abgelehnt wurde: Ich musste beweisen, dass ich schon alles andere tat, das man tun konnte. Dabei wäre es wichtig, eine Skoliose möglichst früh zu behandeln.

Eine Frau mit kurzen braunen Haaren, Brille, einem orangen Pullover, einem schwarz-weißen Schal und einer grauen Hose sitzt im Rollstuhl. Sie befindet sich in einem Zimmer, im Hintergrund sieht man eine aufgeschlagene Musikmappe. Sie blickt lächelnd an der Kamera vorbei.

Hilfe kommt oft erst spät

Christof Verres ist Arzt. Auch er kennt das Problem mit den Kranken-Kassen: Eine noch nicht stark ausgeprägte Skoliose könnte zum Beispiel durch ein Nacht-Korsett gut behandelt werden. Ein Nacht-Korsett korrigiert ebenfalls die Krümmung der Wirbelsäule. Es wird aber im Gegensatz zum normalen Korsett nur nachts getragen.

Obwohl Nacht-Korsetts bei früher Behandlung von leichterer Skoliose hohe Erfolgschancen haben, werden diese Korsetts laut Verres von der Kranken-Kasse sehr häufig abgelehnt.

Der Spitzen-Verband Bund der Kranken-Kassen sagt dazu, es würden bisher Studien fehlen, um Nacht-Korsetts “in die Regel-Versorgung” aufzunehmen.

Auch Aufenthalte in Skoliose-Fachkliniken werden laut Verres immer öfter im ersten Verfahren abgelehnt und erst nach Widersprüchen bewilligt – so wie bei mir. Er erzählt: Es gebe für die Versorgung genaue Vorgaben, bei welcher Ausprägung von Skoliose welche Behandlung die Richtige ist. So könne man kaum auf den Menschen und seine Bedürfnisse eingehen. Oft werde die Vorbeugung nicht bezahlt, sondern erst bei starker Skoliose behandelt.

Auch bei mir war lange bekannt, dass ich Skoliose hatte. Getan wurde aber nichts. Ich hatte kein Nacht-Korsett oder Physio-Therapie. Als meiner Mutter eine starke Veränderung meines Rückens auffiel, war meine Skoliose schon stark ausgeprägt. Erst dann wurde ich behandelt.

Dass Hilfe zu spät oder gar nicht kommt, wissen viele Menschen mit Behinderungen. Etwa Franziska Seehausen, die schon so lange für einen passenden Rollstuhl kämpft. Ohne ihn muss sie zu Hause bleiben. Die Alternative: Ihrem Körper mit dem falschen Rollstuhl weiter schaden.

Dabei ist gerade für Menschen wie sie Teilhabe besonders wichtig. Das kenne ich auch von mir: Durch mein Korsett hatte ich lange jeden Tag Schmerzen. Gerade dann ist es wichtig, in Gemeinschaft sein zu können. 

Bevor ich das erste Mal in die Klinik gekommen bin, habe ich mich endlich getraut meinen Freund*innen mein Korsett zu zeigen. Sie waren bei mir zuhause, ich habe es ausgezogen und ihnen gezeigt. Dann haben alle meine Freund*innen darauf unterschrieben – von da an habe ich jeden Tag ihre Unterschriften und Glückwünsche getragen. Das hat mich daran erinnert, warum ich eigentlich versuche, dass es mir besser geht. Dass nicht alle Betroffenen diese Erfahrung machen können, macht mich traurig.

Denn unpassende Versorgung schränkt die Teilhabe ein. Darum geht es in Teil 3 dieser Reihe. Denn der Kampf um passende Versorgung hat gesundheitliche, soziale und emotionale Folgen. Du kannst den Text hier lesen. 

 

Geschrieben Von

Elisabeth Linnerz,

Emilia Garbsch

Redaktion

Clara Porak,
Lisa Kreutzer

Fotos von

Nirén Mahajan, 

privat