Vom Dunklen ins Helle. So zeichnet Juewen Zhang. Auf seinem Tisch liegt Papier. Es ist acht Meter lang und hängt bis zum Boden. Eine kleine Schreibtisch-Lampe spendet zusätzliches Licht. Denn Zhang muss gut sehen, was er macht. Er arbeitet genau. Mit einem Kohle-Stift bemalt er eine große Fläche und pustet den Kohle-Staub weg. Er verreibt die Kohle mit seiner Hand, bis die Fläche gleichmäßig tiefschwarz ist.
Erst dann beginnt seine richtige Arbeit: Mit einem Knet-Radierer entfernt er Schritt für Schritt wieder Kohle. Wie ein Bildhauer, der aus Stein eine Skulptur formt. „Zuerst Foto, dann Bleistift, dann Kohle, dann Radierer“, so erklärt Zhang, wie er seine Bilder macht.
Juewen Zhang ist 29 Jahre alt und Künstler. Geboren wurde er in Berlin, der Hauptstadt von Deutschland. Aber heute lebt und arbeitet er in Langen und Frankfurt am Main. Seine Bilder werden in Deutschland und im Ausland ausgestellt. Wie ist Juewen Zhang zu dem Künstler geworden, der er heute ist?
Schon als Kind hat Juewen Zhang gezeichnet. Mit 16 Jahren wurde sein Talent entdeckt. Damals hat er seine Ausbildung im Atelier Goldstein begonnen. Ein Atelier ist ein Ort, an dem Künstler*innen ihre Kunst machen. Das Atelier Goldstein ist für Künstler*innen, die an anderen Orten nicht so leicht Kunst machen können.
Zum Beispiel für Künstler*innen mit Behinderungen, für die es sonst zu viele Barrieren gibt. Also für Menschen wie Juewen Zhang. Das Atelier ist auch mit Rollstuhl erreichbar – das Team schaut bei allen Künstler*innen was sie brauchen, um gut Kunst machen zu können. Juewen Zhang hat nach 27 Monaten Ausbildung einen Vertrag beim Atelier Goldstein bekommen. Das bedeutet: Für jedes verkaufte Bild und für Ausstellungen bekommt er Geld.

Zhang musste das Kunst machen nicht beigebracht werden. “Das ist einfach”, sagt er und lächelt. Natürlich hat er einige Zeichen-Techniken und Tricks im Atelier Goldstein gelernt. Aber vor allem hat das Atelier ihn dabei unterstützt, Kunst auch zum Beruf zu machen. Denn zum Künstler Dasein gehört mehr als gut zeichnen zu können. Zum Beispiel: Wissen, was man zeichnen will. Man sagt dazu auch: Zhang musste erst seine Sprache als Künstler finden.
Das war gar nicht so einfach. In seinen Anfangszeiten hat Zhang einfach drauf los gezeichnet. Oft hat er Fotos von Tieren abgemalt. Aber eigentlich weiß Zhang genau, was ihn interessiert: “Ich liebe Vans und S-Bahnen und Scheitel”, sagt er. Aus einer kleinen grünen Stofftasche holt er einen Ring. Den hat er bei einem Praktikum bei einem Juwelier selbst gemacht.
Auf dem Ring ist ein kleiner Schuh aus Silber befestigt. Zhang steckt den Ring an seinen Finger und küsst den Schuh darauf. Er ist von der Marke “Vans”. Die findet Zhang viel besser als die Marke “Adidas”, erzählt er.

Deshalb trägt er auch immer Vans. Die Marke ist sein Marken-Zeichen. Sechs oder sieben verschiedene Paare hat Zhang. Wie viele genau weiß er nicht sicher. Aber Vans-Schuhe faszinieren Zhang. Und genauso wie auf das, was wir an den Füßen tragen, achtet Zhang auch genau darauf, was wir am Kopf haben: Haare. Genauer gesagt: Den Scheitel.
Heute weiß Zhang: Er will Kunst über genau diese Dinge machen, die ihn faszinieren. Sein Professor, Heiner Blum, hat ihn dazu ermutigt. Denn Zhang ist nicht nur Künstler, sondern auch Kunst-Student. Seit 2019 geht er nicht nur ins Atelier Goldstein, sondern lernt auch an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach.
Einen Studien-Platz auf einer Universität zu bekommen, hat viel Bürokratie gebraucht. Bürokratie bedeutet zum Beispiel: Wenn ein Mensch viele Anträge schreiben muss. An der Hochschule gab es noch keine Regelung für Menschen ohne körperliche Behinderung, die Assistenz brauchen.
Juewen Zhang ist der erste Student, bei dem das so ist. Sein Professor Heiner Blum hat das Talent von ihm gesehen – und sich deshalb für ihn eingesetzt. Im Studium wird Zhang von einem Assistenten begleitet. Er unterstützt ihn zum Beispiel beim Schreiben von Hausarbeiten. Die muss Zhang wie alle anderen Studierenden auch machen.
Mit seinem Assistenten hat Zhang auch einen Text über Scheitel geschrieben. Ein Ausschnitt: “Manche Menschen mögen ihre Haare. Manche Menschen mögen ihre Haare nicht. Manche sagen Haarpracht. Aber der Scheitel ist privat.”
Vielleicht ist das der Grund, warum Zhang Scheitel so interessant findet. Weil sie ein Teil vom Körper sind. Aber wenige beachten ihn. Stimmt diese Vermutung? Warum zeichnet Zhang Scheitel? Wieso findet er Vans so gut? Wie viele große Künstler antwortet er auf die Frage nach dem Warum nicht. So bleibt seine Kunst geheimnisvoll. Man muss selbst überlegen, was sie bedeutet. Zhang sagt nur so viel: “Mittelscheitel sind besonders interessant. Aber alle Scheitel sind gut.”

Gerade zeichnet Zhang zum Beispiel den Scheitel einer Kollegin. In einer Hand hält er ein Foto von ihm. Mit der anderen Hand radiert er schnell und locker die Kohle weg. Es sieht aus, als müsste er sich dabei nicht konzentrieren. Wie nebenbei überträgt er die Haare genauso wie auf dem Foto. Nur viel größer. “Ein paar Tage oder eine Woche”, meint Zhang zu der Frage, wie lange er für so ein Scheitel-Bild braucht. Im Atelier Goldstein ist er von Montag bis Donnerstag, am Freitag ist es zu.

Seine Werke verlassen immer öfter das Atelier. 2025 wird ein großes Jahr für ihn. „Es wird viel ausgestellt. In Fürth. Bei der Kunstmesse in Düsseldorf.“, sagt Zhang. Auch seine Abschluss-Prüfung bei der Hochschule hat er bald. Und sein nächstes Motiv hat er vielleicht auch schon gefunden: Zum Abschied fotografiert Zhang die Haare von der Fotografin, die davor noch Fotos von ihm gemacht hat. “Ein guter Scheitel”, sagt er.
Der kostenlose Newsletter für alle, die Behinderung besser verstehen wollen!
Geschrieben Von
Juewen Zhang
Geprüft von
Luise Jäger
Redaktion
Lisa Kreutzer
Fotos von
Evelyn Dragan