Clara und muriel sitzen auf einer Parkbank links im Bild. Sie blicken auf einen Fluss.

Aufarbeiten

20. Juli 2023

Muriel Sievers hat die Flut im Ahrtal überlebt, während 13 ihrer Kolleg:innen und Bekannten in einem Heim der Lebenshilfe starben. Sie schreibt über Verlust und Schmerz, Zuversicht und die Suche nach Verantwortlichkeit. 

Ich kann nachts manchmal nicht schlafen, weil ich hin und wieder Besuch bekomme von den Personen, die gestorben sind. Jedes Mal wenn ich das Gefühl habe, ich höre ein lautes Rauschen, oder es käme eine riesengroße Flutwelle auf mich zu und direkt in meine Wohnung geschossen, wache ich auf und ringe nach Luft. Man mag mich jetzt vielleicht für verrückt halten, wegen dieser Einbildung, aber es ist keineswegs eine Einbildung, zumindest nicht das mit der Angst. Ich versuche mich dann immer unter der Decke oder im Kissen zu verstecken. Ich versuche, das alles nicht zu sehr an mich ran zu lassen, aber es klappt nicht. Deswegen verstecke ich mich unter der Decke, um nicht von der gedanklichen Flutwelle überfallen und erdrückt zu werden.

Die Gedanken kommen immer wieder mit dem Rauschen der Ahr.

Dann besuchen mich die verstorbenen Bewohner*innen des Lebenshilfe-Hauses. Meistens steht der Philipp bei mir am Bett. Hin und wieder auch die Annelore, die Brunhilde, die Kerstin oder auch der Peter.  Alle von ihnen setzen sich auf mein Bett. Brunhilde spürt meinen schneller gehenden Atem und legt mir beruhigend eine Hand auf. Dann fährt sie mir langsam und auch ganz behutsam über den Rücken und redet beruhigend auf mich ein. Immer wieder spüre ich, wie Brunhildes Hand über meine Haare und meinen Rücken streicht. Ich habe jedes Mal den Eindruck, dass mir ein eiskalter Schauer über den Rücken läuft, weil ihre Hände eiskalt sind. Brunhilde spürt meine Angst und Unruhe und versucht mich weiterhin zu beruhigen. Bald weicht die Kälte und die Berührungen werden wärmer und trockener. Endlich spüre ich nichts weiter als ein paar Hände, die mir liebevoll über die Haare streichen. Das Wasser ist weg und die Wärme breitet sich wieder aus.

Philipp ist weitaus weniger entspannt. Er sieht mich einfach nur an. In seinen Augen liegt ein Ausdruck von Panik. So, als habe er bereits gewusst, dass am 15. Juli 2021 eine riesengroße Flutwelle kommen und sie alle niedermachen würde. Irgendwann höre ich ganz leise aus dem Unterbewusstsein das Rauschen der Ahr, das sich nähert und alle wieder mit sich zieht. Ich höre ein Echo:„ Hilf uns!“. Die Hilferufe von den Bewohner*innen klingen durch das Rauschen der Ahr noch nach und ich verstecke mich wieder unter der Decke und weine den ganzen Druck aus mir raus. Die Illusion verschwindet wieder und ich werde erneut in die bittere Realität zurückgeholt.

Mir wurde gesagt, dass ich so langsam mal an was anderes denken soll, aber das geht nicht. Man fängt nur so langsam an zu begreifen, was in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 wirklich passiert ist. Gestern hatte ich ein Gespräch mit meiner Trauma-Therapeutin, das hat schon relativ viel gelöst. Tagsüber sind die Besuche von den Bewohner*innen relativ selten. Ich habe den Eindruck, dass die Albträume weniger werden. Die Ahr rauscht nur noch leise an meinem Ohr vorbei und es scheint jetzt unvorstellbar, dass dieser Fluss eine so enorme Zerstörungswut hatte und in der Lage war, 13 Personen einfach so aus dem Leben zu reißen. Ich ringe immer noch mit dem Gedanken, die Flut und ihre Folgen zu akzeptieren.

Mir wird zwar immer gesagt, ich solle nicht so sauer auf die Behörden  und deren Verantwortliche sein, weil alle davon überzeugt waren, dass das alles nur ein Naturereignis war, mit dem angeblich keiner hätte rechnen können, aber das halte ich schlichtweg nur für eine Ausrede. Gestern erst bin ich mit meinen Eltern, vor allem mit meinem Vater, deswegen zusammen gerasselt. Es wird sicher noch Jahre dauern, bis dieses Thema für mich endgültig abgeschlossen ist, und ich denke, so wird es auch noch einigen anderen ergehen. Ich hoffe, dass alle aus diesem Ereignis ihre Lehre ziehen werden. Ganz besonders hoffe ich das für die Behörden, damit ihnen nicht nochmal ein so tödlicher und gravierender Fehler unterläuft. So wäre eine zweite Nachtwache in der Flutnacht vielleicht die Rettung gewesen. Natürlich mag die Natur, der Regen und die Ahr dafür gesorgt haben, dass dieses Ereignis stattgefunden hat, aber es waren trotzdem auch Einzelne verantwortlich, die die Situation falsch eingeschätzt und deshalb zu spät reagiert haben, und ich finde es schlichtweg eine riesengroße Ausrede, wenn man jetzt alles auf die Natur schiebt.

Aber auch wenn die Ahr viel kaputt gemacht hat, eins wird keine Katastrophe der Welt schaffen: den „familiären“ Zusammenhalt der Lebenshilfe zu brechen. Wir sind alle noch zusammen, auch wenn wir 13 aus dem Lebenshilfehaus nicht mehr sehen können. Deswegen möchte ich euch noch eins zum Abschied sagen, auch wenn es für manche nur ein sehr kurzes Leben und ein plötzlicher Tod war. Danke! Danke für all die Jahre, die ihr uns begleitet habt. Eure unsichtbare Unsterblichkeit wird uns für immer verbinden. Ihr gebt uns allen Kraft, alle künftigen Herausforderungen zu überstehen.

Manchmal kommt es vor, dass ich mir nachts den Himmel anschaue. Jedes Mal wenn ich mir die Sterne anschaue, habe ich das Gefühl, dass sie heller leuchten würden als normal. Oft kann ich dann auch die Umrisse von den Bewohner*innen erkennen. Aus Sternen geformt werden die Formen sichtbar. Dabei erklingt auch immer wieder das helle Lachen von Brunhilde, oder ein ebenso aufheiterndes von Philipp. Ich stelle mich ans Fenster, schaue in den Himmel und werfe einen aufmunternden Handkuss in Richtung Sterne. Der Mond, der in der Mitte steht, scheint ebenfalls heller zu leuchten als sonst und sein helles Licht auch schützend und wärmend, um alle Sterne zu werfen. 13 dieser Sterne, die dem Mond besonders nahe stehen, haben sogar Namen, die wie eine Kette oder ein unsichtbares Band den Mond einschließen.

Ihre Namen sind Annelore, Anke, Andreas, Steve, Brunhilde, Philipp, Kerstin, Thomas, Peter, Alfons, Petra, Erwin und Annemarie.

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