Freitagabend. Ich bin wieder allein in meinem Wohnzimmer. Der einzige Mensch, mit dem ich jeden Abend telefoniere, ist meine Mutter. Wir haben ein sehr gutes Verhältnis. Später am Abend arbeite ich. Ich arbeite, um mir nicht eingestehen zu müssen, wie einsam ich wirklich bin. Auch am Wochenende. Erst wenn ich mit der ganzen Arbeit fertig bin, entspanne ich. Doch einen Gedanken kann ich dabei nie abschütteln: Eines Tages werden meine Eltern nicht mehr da sein. Auch arbeiten werde ich nicht für immer. Was bleibt mir dann?
Die regelmäßigen Telefonate mit meiner Mutter und die Arbeit im Journalismus sind mir wichtig. Doch so wertvoll sie auch sind, sie ersetzen keine tiefen Freundschaften, keine Partnerschaft, keine Intimität. Ich bin Anfang 30 und enge Freund*innen, eine feste Beziehung oder eine beste Freundin habe ich bisher nicht gefunden.
Mit meiner Einsamkeit bin ich als Mensch mit Beeinträchtigungen nicht allein: Laut dem Teilhabe-Bericht des deutschen Paritätischen Gesamt-Verbandes aus dem Jahr 2020 fühlten sich Menschen mit Beeinträchtigungen fast fünfmal so häufig einsam wie Menschen ohne Beeinträchtigungen. Warum ist das so?
Ich habe lange Zeit nicht meinen Platz in der Welt gefunden. Ich war so beschäftigt damit, ihn zu suchen, dass ich gar nicht an Freundschaften arbeiten konnte. Ich dachte lange, das wäre meine Schuld.
Heute weiß ich, dass das nicht stimmt. Es liegt auch an baulichen und unsichtbaren Barrieren, die mir die Teilhabe schwer machen. Der ewige Kampf um Teilhabe hat mich einsam gemacht.
Einen Großteil meines Lebens hatte ich nur Kontakt zu Gleichaltrigen, die auch mit Einschränkungen leben. Das hat mich gestört. Ich wollte nicht in einer abgetrennten Welt leben und aus der Sonderwelt ausbrechen. Ich wollte einen inklusiven Freundeskreis. Menschen mit und ohne Behinderungen gemeinsam.
Doch wie wird man Teil einer Welt, die einem immer wieder Barrieren in den Weg stellt?
Ich musste über 30 Jahre alt werden, bis ich meine erste Freundesgruppe fand. Es sind Jungs, sie leben gemeinsam in einer Wohngemeinschaft. Ich investiere seither sehr viel in diese Freundschaften, weil sie für mich so selten sind.
Dadurch entsteht aber ein gefühltes Ungleich-Gewicht: Meine Freunde haben oft nicht so viel Zeit wie ich, sie haben mehr soziale Kontakte, für sie ist unsere Freundschaft nicht so etwas Seltenes wie für mich.
Die Suche nach einem Ort, an dem ich mich zugehörig fühlte, begann schon in der Schulzeit. Ich war eine ehrgeizige Schülerin und hatte immer sehr gute Noten. Weil ich zielstrebig war, hatte ich den Ruf, eine Streberin zu sein. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, mich immer wieder beweisen zu müssen. Vor allem gegenüber Lehrkräften. Ich hatte immer das Gefühl, dass sie mir nichts zutrauen.
Ich lebe mit einer körperlichen Einschränkung, nutze einen Rollstuhl und kann nur sehr langsam mit der Hand schreiben. Je nach Tagesform fällt es mir schwer, Texte mit der Hand zu schreiben oder zu tippen. Eine inklusive Schule, in der auf die Bedürfnisse von allen eingegangen wird, fanden meine Eltern damals nicht. Doch ich hatte das Gefühl, der Lern-Stoff meiner Klasse war auf Menschen mit Lern-Schwierigkeiten zugeschnitten, nicht auf meine Bedürfnisse.
Einige meiner Klassenkamerad*innen wechselten nach unserem Lernhilfe-Abschluss im Jahr 2010 in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. Wie viele Kinder von Förderschulen in Werkstätten von Menschen mit Behinderungen wechseln, dazu gibt es laut Bundesministerium für Bildung und Forschung und der Kultusminister-Konferenz keine Zahlen.
Ich wollte das nicht. Durch den vorgezeichneten Weg in Sonder-Systemen für Menschen mit Beeinträchtigungen verlor ich den Kontakt zu meinen Klassenkamerad*innen nach der weiterführenden Schule. Selbst oberflächliche Freundschaften gingen so verloren.
Nach meiner Schulzeit suchte ich nach einem Neuanfang. Mit meiner Ausbildung zur Kauffrau für Büro-Management hatte ich eine neue Chance Freund*innen zu finden – in einem inklusiven Umfeld. Während dieser Zeit war ich Teil einer Gruppe von Auszubildenden mit und ohne Beeinträchtigungen. Wir waren gemeinsam Mittagessen und besuchten Veranstaltungen. Ich war ein fester Bestandteil der Gruppe. Ich dachte, ich wäre endlich raus aus der Trennung von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen.
Doch als die Ausbildung sich dem Ende zuneigte, löste sich die Gruppe auf. Wir waren gute Kolleg*innen, aber keine Freund*innen. Vielleicht auch, weil alle anderen viel jünger waren als ich – ich musste nach der Förderschule alle Schul-Abschlüsse nachholen. Das hat sieben Jahre gebraucht. Der Weg kostete mich freie Zeit und Freundschaften. Es fühlte sich für mich an, als würde ich gegen Gegner*innen kämpfen, die für niemand anderen sichtbar waren.
Aber ich glaube, es hat noch einen Grund: Viele Menschen können sich gar nicht vorstellen, mit mir befreundet zu sein. Unsere Welt trennt Menschen mit und ohne Einschränkungen früh – diese Trennung verstärkt Vorurteile. Menschen ohne Beeinträchtigungen, die Menschen mit Beeinträchtigungen kennen, sind ihnen gegenüber offener eingestellt.
Ich denke deshalb: Die Trennung im System ist ein Teufelskreis. Denn Menschen, die sich nicht treffen, sind weniger offen dafür, sich zu treffen.
Auch bei mir haben viele Menschen Vorurteile. Sie denken, ich könne nicht sprechen. Sie sprechen mit meiner Assistenz statt mit mir. Sie glauben, ich verstehe sie nicht. Diese Unsicherheit bemerke ich sofort an der Körper-Sprache von anderen. Sie steht auch möglichen Freundschaften im Weg. Ich muss erst Vorurteile beseitigen, damit andere mich als mögliche Freundin sehen können. Auch romantische Beziehungen zu führen ist für mich deshalb fast unmöglich.
Darüber habe ich hier schon einmal einen eigenen Text geschrieben.
Bauliche Barrieren
Aber es gibt nicht nur unsichtbare Barrieren. Es sind auch bauliche Hindernisse, die Freundschaften schwer machen. Die Wohn-Gemeinschaft meiner Freunde ist zum Beispiel nicht barrierefrei. Das ist keine Überraschung: Laut statistischem Bundes-Amt im Jahr 2018 waren nur zwei von 100 Wohnungen in Deutschland barrierefrei zugänglich, und auch Geschäfte und öffentliche Verkehrsmittel sind oft nicht barrierefrei.
Wenn Aufzüge defekt sind, oder die Einstiege in die U-Bahn hoch, kann ich ohne meinen Assistenten gleich wieder nach Hause fahren. Spontan mal Essen gehen oder Einkaufen, das geht für mich nicht. Nie weiß ich im Vorhinein genau, auf welche Barrieren ich mit meinem Roll-Stuhl stoßen werde.
Meine Freunde waren oft in Clubs und auf Geburtstags-Feiern, zu denen ich nicht konnte. Sie fragen manchmal für mich bei Konzerten oder bei Haus-Partys nach, ob man mit Roll-Stühlen rein kann. Meistens haben die Veranstalter*innen in kleineren Lokalen noch nicht mal darüber nachgedacht. Es fühlt sich so an, als wäre es komplett egal, ob ich dabei sein kann, oder nicht. So bleibe ich alleine zuhause.
Jede dieser Barrieren erinnert mich daran, dass die Welt nicht für Menschen wie mich gemacht ist – und jedes Mal fühle ich mich ein Stück mehr allein.
Wenn ich weiß, Orte sind nicht barrierefrei, dann fühle ich mich nicht willkommen.
Ich glaube, wir müssen Inklusion neu denken: Eine barrierefreie Welt wäre für alle Menschen gut, nicht nur für Menschen mit Einschränkungen. Es wäre eine Welt, in der es mehr um Gemeinschaft geht.
Einsamkeit betrifft viele Menschen – egal ob sie eine Einschränkung haben oder nicht. Ohne Barrieren könnten wir uns mehr begegnen und einander bereichern.
In der letzten Zeit hat sich in meinem Leben aber viel getan. Seit einem Jahr bin ich in einem Fußball-Verein. Ich schaue bei Spielen zu und engagiere mich.
Im Frühjahr hatten wir eine Vereins-Sitzung, es war sehr kühl draußen. Ich hatte Angst, dass ich von draußen zusehen musste, weil das Vereins-Heim nicht barrierefrei ist. Denn ich bin die einzige Rollstuhl-Fahrerin dort.
Ich kam abends an und war überwältigt: Dort war einfach eine Rampe. Ohne dass ich zuvor angerufen hatte. Ohne dass ich nachgefragt hatte, hatte jemand eine Rampe für mich aufgestellt.
Ich war so berührt. Für mich ist es kaum zu beschreiben, wie sich das angefühlt hat. Vielleicht am ehesten wie eine Einladung. Wie ein: „Du gehörst hierher.“
Es ist seither der einzige Ort, an dem ich mich zuhause fühle.
Geschrieben Von
Leonie Schüler
Mitarbeit
Emilia Garbsch
Redaktion
Lisa Kreutzer
Fotos von
Marie Häfner, privat
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