Drei gemalte Figuren auf einer Kassette.

Der Kampf um Anerkennung

9. Oktober 2020

Es waren die 90er. Mein Bruder und ich saßen in […]

Es waren die 90er. Mein Bruder und ich saßen in unserem Kinderzimmer auf dem Fußboden, vor uns stand der Kassettenrekorder. Um etwas aufnehmen zu können, musste man die Start- und Aufnahmetaste gleichzeitig drücken. Wir bespielten, wie so oft, eine leere Kassette mit Gesangseinlagen, Witzen und ausgedachten Geschichten. Danach hörten wir uns unser Werk immer wieder an und lachten darüber, wie lustig unsere Stimmen auf Band klangen. An einem dieser Nachmittage fragten wir uns, wie sich wohl die Stimme unseres wenige Monate alten Bruders anhören wird, wenn er zu sprechen beginnt. Dass wir den Klang seiner Stimme erst Jahre später hören würden, wussten wir da noch nicht.

Maximilian war drei als er seine Diagnose bekam: frühkindlicher Autismus. Wie eine Decke legte sie sich über unsere Familie. Fortan standen Arztbesuche auf der Tagesordnung, Bücher von Autist:innen wie Birger Sellin und Temple Grandin stapelten sich im Haus, der Fahrdienst zum weit entfernten heilpädagogischen Kindergarten stand morgens in unserer Einfahrt noch bevor wir uns auf den Weg zur Schule machten. Therapeut:innen, Mitarbeiter:innen vom Jugendamt, Erzieherinnen, Integrationshelfer:innen, und Mitarbeiter:innen vom FED (Familienentlastenden Dienst) gingen bei uns ein und aus. Dazwischen wir Kinder.

Für mich war er einfach mein Bruder, aber jede:r, der oder die ihn kennenlernte, wollte von mir  wissen, warum er so war wie er war.

“Normal”

Mein Bruder fiel auf. Er lief auf Zehenspitzen, lautierte, machte komische Bewegungen. Wenn mich andere Kinder fragten, was mit ihm sei, antwortete ich routiniert: „‚Er ist Autist, das heißt er ist mental retardiert und lebt in seiner eigenen Welt.“ So stimmt das natürlich nicht, und zum Glück gelten Autismus oder auch ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) heute nicht mehr ausschließlich als Behinderung, sondern werden als natürliche Form der Neurodiversität angesehen – als angeborener Unterschied zur neurotypischen Mehrheitsgesellschaft. Also zu den Menschen, deren Sprach- und Sozialentwicklung so verläuft, wie bei den meisten Menschen, die manche auch heute noch als “normal” bezeichnen würden. Als Achtjährige wusste ich davon allerdings noch nichts. Und um ehrlich zu sein, wusste ich auch nicht, was die Worte bedeuten. Sie waren einfach so präsent, dass ich sie immer wieder aufgeschnappt hatte und sie wiederholte. Für mich war er einfach mein Bruder, aber jede:r, der oder die ihn kennenlernte, wollte von mir  wissen, warum er so war wie er war.

Meine Antworten darauf genügen nicht. Die fehlenden Berührungspunkte zu Menschen mit Behinderung führen bei den meisten zu Vorurteilen oder Angst, anstatt zum Willen, sie verstehen zu wollen. In der Grundschule fragte ich eine Freundin, ob sie bei mir übernachten möchte. Sie wollte nicht, da sie sich davor fürchtete, dass mein Bruder ihr etwas antun könnte. Da wurde mir das erste Mal bewusst, dass mein Leben sich von denen anderer Kinder unterschied. Ich realisierte, dass ich meinen Bruder immer in Schutz nehmen und dafür sorgen musste, dass andere ihn so sehen wie wir und nicht nur seine Behinderung. Es war der Beginn vom Kampf um Anerkennung für seine, für meine, für unsere Lebensrealität. Weil er nicht in die Norm passte, wurde sein Verhalten, seine Existenz ständig hinterfragt. Das Autist-Sein stand immer im Vordergrund. Meine Freundin übernachtete schlussendlich doch bei mir und lernte meinen Bruder kennen. 

Der Vater meiner besten Freundin meinte sogar, es sei heutzutage ja nicht mehr nötig, ein behindertes Kind zu bekommen.

Ausgrenzung im Stillen

Natürlicherweise hatten meine Eltern durch den Kindergarten und das Autismus Therapie Zentrum viel Kontakt zu anderen Familien mit autistischen Kindern. Eltern in ähnlichen Situationen, denen man nicht erklären musste, warum Maximilian sich verhielt wie er es tat. Menschen, die wussten was es heißt, sozial isoliert zu leben, weil beispielsweise Restaurantbesuche unmöglich waren. Nicht nur wegen fehlender Barrierefreiheit, sondern auch, wegen der Reaktionen der anderen. Das normabweichende Verhalten meines Bruders führte häufig zu Irritationen, meistens wurde er begafft und manchmal gab es negative Kommentare. Wir wurden nicht offensichtlich ausgegrenzt, sondern im Stillen oder beiläufig. Verwandte rieten meinen Eltern schon früh Maximilian ins Heim zu geben. Der Vater meiner besten Freundin meinte sogar, es sei heutzutage ja nicht mehr nötig, ein behindertes Kind zu bekommen.

Was sie nicht sahen, war der Mensch hinter der Behinderung. Meinen Bruder, der dazugehören wollte, um seine Besonderheiten wusste und ebenso fühlte wie jede:r andere auch. Sie sahen nur seine Verletzungen von den Auto-aggressionen, sie hörten nicht richtig zu, weil er sich wenig lautsprachlich ausdrücken konnte, sie dachten nicht darüber nach, dass er sie verstand, dass er sie sehr wohl hören konnte, und was ihre Worte in ihm auslösten. Ihnen fehlte die Empathie und Wissen.

Schmerz wegen fehlender Empathie 

Besonders junge erwachsene Autist:innen sind von Depressionen und Angststörungen betroffen. Sie gelten als einer der häufigsten Begleiterkrankungen, ausgelöst durch negative Emotionen wie Verzweiflung, Stress oder Trauer, die auftreten, wenn Menschen sich ausgeschlossen fühlen oder wenn ihr Anders-sein in sensiblen Phasen wie der Identitätssuche, offensichtlich wird.  Das zu wissen, ist die Grundlage, um zu verstehen, wie wichtig Einfühlungsvermögen und die Anerkennung ihrer Lebensrealität ist. 

Meine Brüder und ich lernten jeden Tag, jede Minute mehr darüber. Meine Eltern banden mich bei Entscheidungen über das Leben meines Bruders mit ein. Teilweise überforderte es mich. Die ständigen Gedanken darüber, in welcher körperlichen und psychischen Verfassung mein Bruder ist, wie er später leben wird, wie seine Zukunft aussieht und welchen Anteil ich daran übernehmen werde, waren ständig präsent. Denn es war früh klar, dass er niemals alleine wohnen können wird und lebenslange Unterstützung benötigt. Mir fehlte jemand, mit der oder dem ich mich austauschen konnte, der ähnliche Erfahrung machte. Aber wer interessiert sich dafür, wenn man in der Pubertät ist und ganz andere Themen Priorität haben. Zum Glück hatte ich Freundinnen, die mir zuhörten, auch wenn sie es nicht nachvollziehen konnten. 

Die ständigen Gedanken darüber, in welcher körperlichen und psychischen Verfassung mein Bruder ist, wie er später leben wird, wie seine Zukunft aussieht und welchen Anteil ich daran übernehmen werde, waren ständig präsent.

Kämpfen um Rechte

So lernte ich früh Verantwortung zu übernehmen, mich mehr um andere als um mich selbst zu kümmern, meinen Eltern nicht zusätzlich zur Last zu fallen. Ich sah, wie sie alle Energie in Behördenkämpfe investierten, ständig klagen mussten, damit mein Bruder teilhaben konnte an unserer Gesellschaft. Sie klagten beispielsweise auf Kostenübernahme für mehr Therapiestunden. Mit den damaligen Gesetzen mussten sie fordern, dass die die Kosten vom deutschen Jugendamt und nicht vom Sozialamt übernommen werden. Dafür mussten sie die Stadt, in der sie auch heute noch wohnen, verklagen. Bevor es zu einem Prozess kam, stimmten sie meinen Eltern zu, sonst wäre es zu einem Präzedenzfall geworden. Noch heute profitiert mein Bruder davon, weil er mehr Therapiestunden erhält als andere in seiner Situation. Meine Eltern klagten auch, um eine bessere Betreuung in der Wohngruppe meines Bruders zu bekommen, mit dem Ziel, die Medikation gegen die Autoaggression zu reduzieren – sie gewannen.  Diese Kämpfe kosteten zu viel Zeit und raubten meinen Eltern fast alle Ressourcen, die an anderer Stelle fehlten: Zeit für die Familie, für sich selbst, für meinen anderen Bruder und mich.

Als Kind war ich oft genervt. Heute weiß ich: für Familien wie unsere gibt es einfach keinen Platz in der Mehrheitsgesellschaft. Unsere Lebensrealität passt nicht in das Weltbild anderer. Wir sollen uns anpassen, mein Bruder soll sich anpassen, anstatt, dass andere unser Leben anerkennen. Die kindliche Verdrossenheit ist mittlerweile der Wut gewichen:  Darüber, dass sich innerhalb der letzten 24 Jahre seit der Diagnose meines Bruders viel zu wenig geändert hat. Immer noch fehlt es daran, dass die Mehrheitsgesellschaft das Leben von Menschen mit Behinderung als Teil der Normalität akzeptiert und solidarisch ist. Wir brauchen Empathie für Familien, für Eltern, Geschwister und vor allem für Menschen mit Behinderung. Damit ihre Realität gleichberechtigt neben der von anderen stehen kann, damit sie ebenso Raum einnehmen können im öffentlichen Diskurs. 

Es bleibt ein Kampf um Anerkennung. Für alle Betroffenen und am Ende auch für mich selbst. Für das Stück unbeschwerte Kindheit, das mir fehlt.

Text: Melina Schmid
Illustration: Steffi Frossard
Fotografie: Irene Ungarboeck