Text von Verena Bauer und Fanny Neumayer
Bilder: privat
Steffi, 28 Jahre, aus München
Steffis Bein tat neun Jahre lang weh. Ärzt*innen fanden die Ursache nicht. In diesem Jahr wurde ihr Bein abgenommen. Warum es ihr jetzt besser geht.
Steffi ist 28 Jahre alt und musste jahrelang Schmerzen aushalten, die eigentlich zu verhindern gewesen wären. Im Jahr 2015 hatte sie einen Unfall, bei dem sie sich ihr Bein verletzte. Es wurde eine harmlose Prellung diagnostiziert. Nach einiger Zeit stellten ihre Ärzt*innen fest, dass das Bein nicht nur geprellt war, sondern gebrochen war. Ein Nerv war eingeklemmt. Alle Ärzt*innen waren aber derselben Meinung: Das Bein wird schon wieder, das dauert nur seine Zeit.
Steffi sagt, sie habe damals gespürt, dass etwas mit ihrem Bein nicht stimmt. Sie ging zu weiteren Ärzt*innen, weil sie das Bein kaum mehr bewegen konnte.
Heute weiß sie: es war die Krankheit CRPS, ein länger andauernder, starker Schmerz.
Steffi erinnert sich an die Schmerzen: « Es fühlt sich an, wie dieses Gefühl im Winter, wenn du lange draußen unterwegs bist. Deine Finger sind schon so richtig abgefroren, und wenn du reinkommst und die Finger unter das Wasser hältst, dann brennt das doch so. So fühlt sich das bei meinem Fuß an. » Der Fuß war chronisch entzündet. Es waren überall Wunden, die nicht mehr verheilt sind. Die Haut war außerdem viel zu dünn. Steffi konnte zeitweise nicht einmal duschen gehen, weil sie sofort anfing zu bluten.
Das Problem: Wenn eingeklemmte Nerven nicht behandelt werden, können sie absterben. Der Nerv kann nicht mehr nachwachsen. Das war bei Steffis Bein der Fall. Obwohl sie das Bein nicht mehr bewegen konnte, hatte Steffi das Gefühl, das ihre Ärztin*innen nicht Klartext mit ihr reden. Sie wurde nicht ernst genommen und vertröstet.
Weil Steffi so lange nichts machen konnte und nicht wusste, was los ist, wurde sie depressiv. Sie ging nicht mehr aus dem Haus, wollte so nicht mehr leben. Sie nahm sehr starke Medikamente. Die Medikamente sollten ihre Schmerzen lindern. Außerdem sollten sie Steffi bei ihrer Depression helfen.
Im Jahr 2024, neun Jahre nach Steffis Unfall, war klar: Der Fuß wird absterben. Entweder er wird amputiert, oder man riskiert eine Blutvergiftung. Für Steffi war klar: Der Fuß soll abgenommen werden. Seit dieser Entscheidung geht es Steffi besser. Aber der Weg dorthin war hart, erzählt sie: « Ich habe mich sehr unverstanden und im Stich gelassen gefühlt. Wenn nicht einmal das Fachpersonal dich versteht und dir helfen kann, ist das unbegreiflich. »
Elisabeth, 55 Jahre, aus Wien
Elisabeth lebte 54 Jahre ohne die Gewissheit, warum es ihr manchmal so schlecht ging. Dann kam die Diagnose: Autismus und ADHS.
54 Jahre lang wusste Elisabeth nicht, warum sie im Alltag oft Probleme hatte. Erst seit letztem Jahr weiss sie: Sie ist Autistin und hat ADHS.
Deshalb hat Elisabeth erst sehr spät und nur durch Zufall eine Diagnose bekommen. Es gibt keine Zahlen dazu, wie viele Menschen in Österreich von Autismus und ADHS betroffen sind. Man weiß aber: Es ist etwa ein Prozent der Gesamtbevölkerung von Autismus betroffen. Das sind fast 90.000 Menschen. Außerdem hat etwa vier Prozent der erwachsenen Personen in Österreich ADHS.
Seit sie weiß, dass sie Autistin ist und ADHS hat, fällt ihr sehr vieles im Alltag leichter. Sie kann sich viele Dinge aus der Vergangenheit besser erklären. Zum Beispiel, warum sie immer stark ausgeprägte Interessen für ein bestimmtes Gebiet hatte – diesen Interessen aber nie lange nachkommen konnte. Da spielen Autismus und ADHS ganz stark zusammen.
Auch in ihrem Job hatte Elisabeth oft Probleme, die sie sich seit ihrer Diagnose erklären kann. Sie hat teilweise Aufgaben erledigt, die eigentlich für fünf Personen gedacht gewesen wären, schildert sie.
Sie erzählt, sie habe oft Probleme damit zu verstehen, was man von ihr will: « Ich kann einfach nicht zwischen den Zeilen lesen. Man muss mir klipp und klar sagen, was ich machen soll. Sonst verstehe ich das nicht. »
Zahlreiche Probleme wären zu verhindern gewesen, sagt Elisabeth, wenn sie viel früher diagnostiziert worden wäre und bereits früher in Verhaltenstherapie hätte gehen können. So hätte sie Hilfsmittel selbstbewusster einsetzen und Aufgaben besser bewältigen können.
So aber war sie eigentlich dauerhaft überstimuliert. Bis sie eines Tages ein sogenanntes « Autismus-Burnout » hatte. Sie war erschöpft, konnte nicht mehr weitermachen: « Ich konnte kaum noch das Bett verlassen. Sogar ein Glas Wasser zu trinken, war mir zu viel. » Das Burnout war nichts, was sich von einem auf den anderen Tag ergeben hat. Über viele Jahre baute es sich auf, weil sie nichts von ihrer Neurodiversität wusste und nicht entsprechend darauf reagieren konnte.
Mit ihrer Erfahrung ist Elisabeth nicht allein. Lange wurden die Symptome von ADHS und Autismus bei Burschen oder Männern erforscht. Die Symptome von Frauen, die ADHS oder Autismus haben, sind aber ganz anders. Deshalb dauert es immer noch oft viele Jahre, bis Frauen eine Diagnose bekommen. Von Autismus sind ungefähr viermal mehr Burschen oder Männer diagnostiziert als Mädchen oder Frauen.
Seit Elisabeth ihre Diagnose bekommen hat, war sie ein Jahr im Krankenstand, um sich zu erholen. Außerdem ist sie jetzt in einer Gruppe mit anderen Frauen, die eine ähnliche Erfahrung gemacht haben wie Elisabeth. Das hilft ihr sehr. Seit kurzem hat Elisabeth auch wieder einen neuen Job – bei dem sie auf ihre Bedürfnisse achtet und weiß, was ihr gut tut.
Max, 32, aus Reutlingen, hat ME/CFS. Bis zur Diagnose dauerte es fast ein Jahrzehnt.
Max hat sich eine Woche auf das Interview vorbereitet. Das Gespräch soll eine Stunde dauern. Danach, erzählt er, wird er wahrscheinlich sehr müde sein. Manchmal kann er nach einer Anstrengung mehrere Tage nichts machen, außer im Bett zu liegen.
Max ist 32 Jahre alt und kommt aus Reutlingen. Er hat eine Krankheit. Die Krankheit heißt ME/CFS. Durch die Krankheit ist er sehr erschöpft und kann viele Tage oft nichts machen außer zu liegen, zu trinken und zu essen. Die Krankheit hat Max bereits seit elf Jahren. Die Diagnose ME/CFS erhielt er erst vor zwei Jahren.
Lange war die Krankheit sehr unbekannt. Erst seit kurzem gibt es mehr Aufmerksamkeit für ME/CFS. Es gibt kein Heilmittel. Das liegt auch daran, dass die Krankheit viel zu wenig erforscht ist. Dabei ist ME/CFS vor allem seit der Corona-Pandemie sehr häufig in Österreich. Laut der österreichischen Gesellschaft für ME/CFS hat sich die Zahl seit der Pandemie ungefähr verdoppelt. Genaue Zahlen gibt es bisher aber noch nicht. Zwischen 26.000 und 80.000 Menschen in Österreich sind betroffen. Genauere Zahlen gibt es bisher nicht. Rund ein Viertel der Betroffenen können ihr Bett kaum noch verlassen.
Max’ Leben war früher anders : « Ich habe sehr gerne Gitarre gespielt. Das kann ich jetzt nicht mehr machen. Ich kann meine Arme nicht so lange halten. Und der Klang der Gitarre ist zu laut in meinen Ohren. » Gitarre ist nicht das einzige Hobby, das Max aufgeben musste: « Früher habe ich sehr gerne Fremdsprachen gelernt. Zum Beispiel japanisch. Ich konnte die Sprache aber noch nie anwenden, weil ich kaum das Bett verlassen kann. »
Außerdem war Max früher sehr gerne draußen. Er war gern auf Partys und hat seine Freund*innen getroffen. Mittlerweile sieht er keine*n einzigen seiner Freund*innen von damals noch. « Meine Freund*innen haben mich oft gefragt, ob ich zu Geburtstagsfeiern komme oder etwas unternehmen will. Und ich muss jedes Mal absagen, weil ich es einfach nicht schaffe. » Max sagt, bei seinen Freund*innen käme das so an, als habe er keine Lust. « Aber das ist überhaupt nicht der Fall! »
Neun Jahre dauerte es, bis Max die richtige Diagnose bekam. Erst 2022 fand er einen Arzt, der ME/CFS erkannte. Seitdem ist Max krankgeschrieben. Er bekommt Arbeitslosengeld, als wäre er auf Arbeitssuche. Ob er jemals wieder arbeiten kann, weiß er nicht. Er kann nur hoffen, sagt er, dass die Forschung irgendwann so weit ist, eine Therapie für seine Krankheit zu finden. Er wünscht sich, seine Freund*innen wiederzusehen. Und dass er endlich nach Japan reisen kann.
Anmerkung der Redaktion am 24.10.2024 um 12:00 Uhr:
In einer früheren Version dieses Artikels ist uns ein Fehler unterlaufen: Wir haben geschrieben: Die Kombination von Autismus und ADHS ist selten.
Tatsächlich treten Autismus und ADHS relativ häufig zusammen auf. Diese Kombination ist also nicht selten. Studien zeigen, dass etwa 30–80 % der Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung auch Symptome von ADHS haben, und umgekehrt weisen viele Menschen mit ADHS Merkmale von Autismus auf.
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