Wichtige Worte in diesem Text:
Justiz bedeutet, dass das Gericht entscheidet, wer sich richtig und wer sich falsch verhalten hat. Die Justiz sorgt dafür, dass die Gesetze eingehalten werden und verteilt Strafen, wenn jemand gegen die Regeln verstößt.
Ein Gutachten vor Gericht ist eine Einschätzung von Expert*innen, die dem Gericht hilft, eine Entscheidung zu treffen.
Ein Verfassungs-Gerichtshof ist ein Gericht, das überprüft, ob Gesetze mit der Verfassung übereinstimmen. Er sorgt dafür, dass die Grundrechte und Regeln des Landes eingehalten werden.
Die Staats-Anwaltschaft ist eine Gruppe von Leuten, die Verbrechen untersucht und entscheidet, ob jemand vor Gericht muss.
Sonja M. zeigte ihren Chef wegen sexueller Belästigung an. Weil sie Lernschwierigkeiten hat, durfte sie vor Gericht nicht aussagen. Sie wurde als aussage-unfähig erklärt. Dagegen legte sie Beschwerde ein. Das oberste Gericht in Berlin gab ihr in Teilen recht: das Verfahren muss neu geprüft werden.
andererseits hat mir ihrer Anwält*in Ronska Grimm über strukturelle Diskriminierung von Frauen mit Behinderungen, Gerechtigkeit in der Justiz und wie es jetzt mit Sonja M. weitergeht gesprochen.
andererseits: Was genau ist im Fall von Sonja M. passiert?
Ronska Grimm: Sonja M. hat in einer Werkstätte für Menschen mit Behinderungen gearbeitet. Dort hat ihr Chef sie gegen ihren Willen geküsst und angefasst, und zwar mehrmals – das hat sie ausgesagt. Sie hat sich nicht getraut, in der Arbeit davon zu erzählen. Erst in der Wohn-Einrichtung hat sie es erzählt. Die Einrichtung hat die Polizei verständigt. Sonja M. hat Anzeige erstattet und sie wurde vernommen. Das heißt sie hat Polizist*innen erzählt, was ihr passiert ist. Die Staats-Anwaltschaft hat danach eine Gutachterin bestellt. Die sollte entscheiden, ob Sonja M. überhaupt eine Aussage machen kann. Das war der erste Fehler der Staats-Anwaltschaft.
andererseits: Welchen Fehler hat die Staats-Anwaltschaft gemacht?
Ronska Grimm: Es hat eine Gutachterin beauftragt, über die Aussage-Fähigkeit von Sonja M. zu entscheiden und nicht über die Glaub-Haftigkeit. Sie haben nicht geprüft: Ist die Aussage wahrscheinlich erlebnis-basiert? Oder einfach gesagt: Erzählt Sonja M., was sie wirklich erlebt hat? Sondern die Gutachterin hat geprüft, ob sie überhaupt eine Aussage machen kann.
Die Gutachterin hat festgestellt, dass Sonja M. nicht aussage-fähig ist. Das bedeutet: Egal was irgendwer jemals mit ihr macht, ihr Wort hat niemals Gewicht. Sie kann sich nicht vor Gericht gegen Unrecht wehren. Das war erschütternd. Schlimm für ihre Zukunft und auch schlimm für diesen Fall. Wir haben später festgestellt, dass Sonja M. sehr wohl aussagen kann.
andererseits: Wie kam es zu diesem Gutachten?
Ronska Grimm: Ihre Gutachterin kannte sich offensichtlich nicht gut damit aus, Gutachten mit Menschen mit Lernschwierigkeiten zu erstellen. Sie verwendete zum Beispiel Tests, die für Kinder sind. Sonja M. ist aber weit über 20 Jahre alt. Die Methoden der Gutachterin waren offensichtlich nicht auf Sonja M. und ihre Behinderungen angepasst. Sie hat angegeben, sie sei schlecht behandelt worden. Zuhause hat sie erzählt, dass die Gutachterin sie angeschrien habe. Sie wurde mehrere Stunden hinweg befragt. Insgesamt war diskriminierend, wie das Gutachten erstellt wurde und das Ergebnis war wissenschaftlich falsch.
andererseits: Ihre Beschwerde dagegen wurde zuerst noch wegen einem kleinen Fehler im Antrag zurückgewiesen. Nun hat aber der Verfassungs-Gerichts-Hof von Berlin gesagt: Was am Gericht Berlin passiert ist, war falsch. Was bedeutet das für den Fall?
Ronska Grimm: Wir haben uns beschwert, dass das Gericht, einen formalen Fehler als Grund vorgeschoben hat, um den Fall vom Tisch zu haben. Und da hat uns der Verfassungs-Gerichts-Hof nun Recht gegeben. Das war ein wichtiger Beschluss. Der Beschluss sagt: Richter*innen dürfen die Anforderungen nicht zu hoch setzen, wenn die Betroffenen Gerechtigkeit wollen. Außerdem steht im Beschluss, dass das Kammer-Gericht die UN-Behinderten-Rechts-Konvention einhalten muss. Ich kenne keinen anderen Fall, wo das so genau gesagt wurde.
andererseits: Sie vertreten viele Menschen mit Behinderungen. Was fällt Ihnen bei der Arbeit auf?
Ronska Grimm: Ich bin seit 2015 Rechtsanwält*in, seit sechs Jahren arbeite ich vermehrt auch für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen (Anm.: Lernschwierigkeiten). Und ich habe bisher noch keine einzige Verurteilung erlebt.
andererseits: Warum gibt es so wenige Fälle von betroffenen Menschen mit Behinderungen vor Gericht?
Ronska Grimm: Es wird im Straf-Verfahren nicht offen gesagt: „Wir glauben der Person nicht, weil sie eine Behinderung hat.“ Es scheitert vielmehr an den versteckten Hürden im Straf-Verfahren: Die Art, wie Vernehmungen ablaufen und wie lange sie dauern. Wie zum Beispiel nicht-geschulte Polizeibeamt*innen oder Gutachter*innen mit den Betroffenen umgehen und die Staats-Anwaltschaften, nicht erkennen, was Menschen mit Behinderungen brauchen. Hier ändert sich aber gerade schon viel zum Positiven.
Staats-Anwaltschaften wägen ab, wie wahrscheinlich es ist, dass es zu einer Verurteilung kommt. Wenn sie dann sehen, dass die Person kognitive Behinderungen hat, gehen sie häufig davon aus, dass die Aussage nicht so perfekt ist, wie die von einer Person ohne Behinderungen. Dadurch haben es Menschen mit Behinderungen häufig schwerer.
andererseits: Was braucht es, damit sich das ändert?
Ronska Grimm: Sehr viel. In Werkstätten und Einrichtungen braucht es Schutz-Konzepte und ein sicheres System, wo sich Betroffene hinwenden können.
Es braucht verpflichtende Fortbildungen für alle Menschen, die in der Justiz solche Fälle bearbeiten, weil wir sonst falsche Entscheidungen haben. Damit erfahren viele Menschen mit Behinderungen keine Gerechtigkeit vor Gericht.
Und wir brauchen Betroffene, die die Kraft haben, diese Schritte weiterzugehen. Das ist gar nicht so häufig, weil ihr Leben oft so schon sehr anstrengend ist. Sie arbeiten oft in Werkstätten unterhalb des Mindest-Lohns. Straf-Verfahren reißen aus der Routine heraus. Wenn die Routine wegfällt, haben sie oft gar keine Kraft mehr, sich wirklich zu wehren.
andererseits: Könnten sich alle so ein Verfahren leisten?
Ronska Grimm: Nein, es ist keine Selbstverständlichkeit. Und viele Leute finden auch schon gar keine Anwält*in, die zum Beispiel so eine Beschwerde verfasst, wie wir es im Fall von Sonja M. gemacht haben.
Es braucht eine bessere Finanzierung. Bei uns haben viele Leute ehrenamtlich mitgeholfen. Und wir hatten Unterstützung von NGOs, die uns auch auf verschiedenen Ebenen unterstützt haben.
andererseits: Wie geht es nun für Sonja M. weiter?
Ronska Grimm: Wenn das Verfahren weitergeht, kann es sein, dass Sonja M. erneut begutachtet wird. Das wird viel Kraft kosten. Hier hätte die Justiz von Anfang an anders vorgehen müssen, um mehrfache Vernehmungen zu vermeiden.
Katharina Brunner hat mit Ronska Grimm gesprochen.
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