Eine Behinderung zu haben, ist keine Frage des Aussehens. Personen mit unsichtbaren Behinderungen stoßen im Alltag mitunter auf Unverständnis. In diesem Text erzählt eine von ihnen über ihre lange Krankheitsgeschichte.
„Du siehst nicht krank aus.“ „Du siehst nicht behindert aus.“ „Du siehst normal aus.“ „Du bist zu jung.“ „Du bist zu hübsch.“ „Du siehst aus wie das blühende Leben.“ Solche Aussagen habe ich fast mein ganzes Leben lang von der Gesellschaft und sogar von medizinischer Seite über mich ergehen lassen müssen. Daher habe ich den Eindruck, dass für viele Menschen eine Behinderung etwas ist, das einer betroffenen Person klar von außen angesehen werden kann. Offenbar scheint unsere Gesellschaft Krankheit und Behinderung mit einem hohen Alter und sogar einem bestimmten – oftmals nicht attraktiven – Aussehen zu verbinden.
Meine Lebensgeschichte erzählt davon: Meine Kindheit und frühe Teenagerzeit war für mich eine großteils unbeschwerte Zeit, in der ich fröhlich, aktiv, selbständig und selbstbestimmt mein Leben leben konnte. Das änderte sich mit dem Auftreten meiner ersten ernsthaften Erkrankung im Alter von zwölf Jahren, nämlich der Interstitiellen Zystitis, einer chronischen, schmerzhaften Blasenerkrankung. Dabei wird die Blase aufgrund einer Entzündung immer weiter irreparabel geschädigt. Blutungen sind typisch, aber auch Geschwüre und sogar eine Schrumpfblase sind möglich. Die Diagnose dafür habe ich erst im Alter von 20 Jahren bekommen – viel zu spät um den Verlauf noch eindämmen zu können. Dieser Umstand hat dazu geführt, dass ich im Alter von 26 Jahren vor der medizinischen Notwendigkeit stand, mir die Blase und Harnröhre entfernen und einen künstlichen Ausgang – ein sogenanntes Stoma – anlegen lassen zu müssen.
Im Laufe der Jahre sind immer mehr Symptome dazugekommen und bestehende haben sich verstärkt. Mehr und mehr Krankheiten traten aufgrund eines Gendefekts auf. Immer mehr Organe und Bereiche meines Körpers waren betroffen. Mittlerweile ist die Liste meiner diagnostizierten Krankheiten leider ziemlich lange. Unter anderem wurden Morbus Crohn, eine Hypoganglionose, das Ehlers-Danlos-Syndrom und das Posturale orthostatische Tachykardiesyndrom diagnostiziert. Diese Fachbegriffe bedeuten: Massive Blasen-, Magen-, Darm- und Bauchschmerzen, Muskel- und Gelenkprobleme, konstanter Harndrang, Schwindel, Sehstörungen, Herzrasen, Migräne, übermäßiges Schwitzen und Zittern sowie Präsynkopen – ein Zustand kurz vor der Bewusstlosigkeit – prägen seit vielen Jahren meinen Alltag.
Mit Ausnahme meines schmerzgeplagten Gangbildes und – sofern gerade sichtbar –, meines Stomas, können mir meine Erkrankungen nicht oder nur sehr schwierig angesehen werden. Die meiste Zeit sind meine Behinderungen unsichtbar. Das hatte und hat nach wie vor einen gravierenden Einfluss auf all meine Lebensbereiche. Durch meine schweren körperlichen Einschränkungen sind meine Möglichkeiten am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, stark eingeschränkt. Die Unsichtbarkeit meiner Leiden verstärkt diesen Umstand.
Neben der Tatsache, dass ich konstant auf Toiletten, Medikamente, häufige Flüssigkeitszufuhr und spezielle Nahrung, besondere Hygienemaßnahmen sowie Ruhe-, Sitz- und Liegemöglichkeiten angewiesen bin, sind durch meine starken Medikamente noch weitere Einschränkungen für mich entstanden. Aufgrund meiner Immunsuppression leide ich unter einer höheren Infektionsanfälligkeit und durch die häufige Einnahme von Kortison sind meine Knochen anfällig für Brüche, da sich eine Osteoporose entwickelt hat – auch eine Erkrankung, die offenbar die meisten Menschen ausschließlich mit einem höheren Alter verbinden.
Bereits in der Schulzeit entstanden die ersten gesellschaftlichen Probleme für mich. Da ich noch keine offiziellen Diagnosen hatte, durfte ich – wie alle anderen – die Toilette nicht während des Unterrichts aufsuchen. Mein ärztliches Attest wurde nicht akzeptiert. Aufgrund des fehlenden Verständnisses für meine Situation musste ich während Prüfungen auf lokale Betäubungsmittel zurückgreifen. Auch die Matura war nur durch eine Betäubung der Blase für mich möglich. Die harten Holzstühle, die Sitzposition, der kalte Gang des Schulgebäudes, wo wir zwischen den mündlichen Prüfungen warten mussten, und die lange Dauer der Maturaprüfungen ließen mir keine andere Wahl. Hätte man mich und meine Erkrankung ernst genommen, wäre mir viel Leid erspart geblieben.
An der Universität und auch im Kolleg für Kindergartenpädagogik setzten sich meine Probleme fort. Hier war mir nun zwar der Toilettengang erlaubt, allerdings waren die Toilettenräumlichkeiten oft sehr weit entfernt oder für mich – trotz meines Euro-Keys, ein Schlüssel, der barrierefreie Toiletten sperrt – nicht zugänglich. Die hohe Anwesenheitspflicht und die Verweigerung des Lehrpersonals Kompensationsarbeiten zu gestatten, erschwerten mir das Vorankommen sehr und machten es mir letztlich sogar unmöglich.
Inzwischen bin ich 28 Jahre alt und auch heute erfahre ich von meinen Mitmenschen oft kein Verständnis. Am schlimmsten ist es für mich, wenn andere mir meine Behinderungen absprechen – und das, obwohl ich einen Ausweis und einen Parkausweis für Menschen mit Behinderungen habe –, oder wenn ich verbal angegriffen werde. Das Vorzeigen meiner Ausweise beziehungsweise das Benutzen meines Euro-Keys führen oft zu bösen Blicken, bissigen Kommentaren, sehr langem Mustern von mir und meinen Ausweisen und unverschämten, höchst intimen Fragen über meine Behinderungen.
Als ich zum Beispiel einmal vor einer Toilette für Menschen mit Behinderungen – die gleichzeitig als Wickelraum genutzt werden konnte – gewartet hatte, wurde mir von einer aus der Toilette herauskommenden Frau mit Kind folgender Kommentar patzig und mit lauter Stimme ins Gesicht gesagt: „Aha, weder behindert noch ein Kind dabei. Da bin ich aber erleichtert, dass keine behinderte Person draußen gewartet hat.“ Besonders in Freizeiteinrichtungen werde ich immer wieder in Diskussionen verwickelt, warum ich einen Ausweis für Menschen mit Behinderungen habe, was ich eigentlich für eine Behinderung hätte, ob die im Ausweis eingetragene Begleitperson denn wirklich notwendig sei und auch ob gewisse Dinge, wie zum Beispiel meine Pausen oder meine Tasche mit Medikamenten und anderen wichtigen Utensilien, tatsächlich nötig seien.
Aufgrund meines Alters und Aussehens war es sogar gegenüber Ärzt:innen häufig extrem schwierig ernst genommen zu werden. Viele haben mich bereits beim Betreten des Behandlungszimmers spürbar be- und verurteilt. Häufig hatte ich gar keine Chance auf eine faire medizinische Einschätzung. Ein Arzt sagte einmal zu mir, dass er, selbst wenn er in meine Blase hineinsehen und dabei etwas finden würde, keine Diagnose stellen würde und eine derartige Untersuchung deshalb keinen Sinn hätte. Sehr oft haben sich Ärzt:innen vehement geweigert irgendeine Untersuchung durchzuführen, da sie all meine Probleme direkt auf die Psyche geschoben haben. Das führte dazu, dass später andere Ärzt:innen es gar nicht mehr für nötig hielten eine Diagnose zu stellen, da sie meinten, dass sich derartig viele ihrer Kolleg:innen nicht irren könnten.
Viele meiner feststellbaren Symptome wurden bagatellisiert und teilweise durch – meiner Meinung nach häufig weithergeholten – Aussagen „wegerklärt“. Beispielsweise wurden meine erhöhten Entzündungswerte im Blut auf eine von mir unbemerkte, monatelange Erkältung und Blut in Ausscheidungsprodukten dauerhaft auf die Periode geschoben.
Aufgrund der Unsichtbarkeit und Seltenheit meiner Erkrankungen war und bin ich in meinem Leben mit vielen Schwierigkeiten und Barrieren konfrontiert – und das in allen Lebensbereichen: Gesellschaft, Freizeit, Medizin, Pflege, Wohnen, Behörden, usw.
Trotz aller Widrigkeiten und nach vielen Jahren habe ich einige wenige Ärzt:innen gefunden, die mich ernst genommen, mir Empathie entgegengebracht, sich Zeit genommen haben, mir wirklich zuzuhören. Sie bemühten sich, mit mir gemeinsam Lösungen zu finden. Inzwischen werde ich im Alltag durch persönliche Assistenz unterstützt. Das ist eine große Hilfe für mich und ermöglicht mir ein „selbsbestimmteres“ Leben – auch wenn immer wieder bürokratische Schwierigkeiten auftreten. Ein großes Problem ist hier besonders der Mangel an Personal, der meiner Einschätzung nach auch auf Unwissenheit und Vorurteile bezüglich Behinderungen zurückzuführen ist.
Aufklärung in diesem Bereich ist deshalb extrem wichtig und ich hoffe, dass Menschen einander mit mehr Empathie begegnen und Vorurteile sowie Vorverurteilungen nach und nach abbauen können. Es ist weder fair noch sinnvoll, Menschen nach ihrem Äußeren zu beurteilen. Gerade auch im Bereich „Behinderungen“ wäre es wichtig, das einzusehen, denn eine Behinderung ist sehr oft etwas, das von außen nicht gesehen werden kann.
Text von Anonym, Illustration von Steffi Frossard