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Werkstätten verdienen oft viel Geld, zum Teil viele Millionen Euro. Trotzdem bekommen die Menschen mit Behinderungen, die dort arbeiten, nur ein Taschen-Geld und sind meist armutsgefährdet. Wie kann das sein?
Eine Schrank-Schiene aus der Box nehmen. Eine Feder spannen. Eine Schraube rechts, eine Schraube links. Ablegen, nächste. Diese Schritte erledigt Petra Loose 250 Mal. Sie macht das sorgfältig, damit die Schrauben gut sitzen. Man merkt: Loose macht das nicht zum ersten Mal. Eine Firma bezahlt dafür, dass sie diese Arbeit erledigt. Doch Loose arbeitet in keiner Fabrik, sondern in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen. Von ihr bekommt sie dafür knapp drei Euro die Stunde.
So ähnlich wie Loose erleben es fast 300 Tausend Menschen mit Behinderungen in Deutschland. Für ein Taschen-Geld bauen sie Autoteile zusammen, ernten Gemüse, sortieren Schrauben. Sie sind Teil eines Systems, das Loose und viele andere seit Jahren kritisieren.
In Werkstätten gibt es ein geringes Taschen-Geld statt Mindest-Lohn. Beschäftigte sind deshalb von Sozial-Leistungen abhängig – im Schnitt müssen sie von 1100 Euro leben. Auch wenn sie Vollzeit arbeiten, sind sie oft armutsgefährdet.
Die geringe Bezahlung ist laut der Entgelt-Studie, die letztes Jahr im Auftrag vom Bundes-Sozial-Ministerium veröffentlicht wurde, rechtswidrig. Sie verstößt laut den Autor*innen der Studie gegen die UN-Behinderten-Rechts-Konvention, der Deutschland zugestimmt hat, gegen die deutsche Verfassung und das EU-Recht.
Menschen mit Behinderungen haben laut Behinderten-Rechts-Konvention ein Recht auf gleiche Teilhabe am Arbeitsleben – und darauf, mit ihrer Arbeit das Geld zum Leben selbst zu verdienen. Im System Werkstatt können sie das nicht. Obwohl Werkstätten viel Geld verdienen. Wie kann das sein?
Es ist ein Montag Ende Juli, als Petra Loose die Schrank-Schienen zusammenschraubt. Zwei Journalistinnen von andererseits und der Süddeutschen Zeitung besuchen sie an diesem Tag in ihrer Werkstatt. Loose ist vorbereitet: Sie hat einen Flyer mitgebracht und übergibt ihn an die Geschäfts-Führerin der Werkstatt, die neben ihr steht.
„Gegen die Ausbeutung in Werkstätten für Menschen mit Behinderung“ steht groß auf der ersten Seite. „Ich beute keinen aus“, widerspricht die Geschäftsführerin Karla Bredenbals später verärgert.
Der Flyer ist von der Organisation uLPeDi, die Petra Loose mitgegründet hat. Sie setzt sich mit ihr für Veränderung in Werkstätten, vor allem für eine bessere Bezahlung, ein. Mit ihrer Kritik ist sie nicht allein: Etwa zwei Drittel der Werkstatt-Beschäftigten finden ihre Bezahlung laut Entgelt-Studie zu niedrig.
Vom Staat abhängig
Zuhause bei Petra Loose. Sie sitzt am Tisch in ihrer Wohn-Küche. Der Raum ist einer von zwei in ihrer Wohnung. Immer wieder steht Loose auf, um Dokumente zu suchen. „Schau, hier“, sagt sie und zeigt auf die unterste Zahl auf einem Zettel. 199,81 Euro steht da. Diesen Beitrag hat die Werkstatt ihr im März 2024 überwiesen – nachdem knapp 80 Euro für das Mittagessen abgezogen wurden.
In den 70er Jahren gab es eine große Studie. Damals dachte man: Werkstätten werden einmal faire Löhne zahlen können. Aber das ist nicht passiert.
Mindestens 70 Prozent der eigenen Einnahmen durch Werkstatt-Aufträge müssen an Beschäftigte gehen. Den Rest darf die Werkstatt sparen oder für den Betrieb ausgeben.
Das Geld, das Werkstätten mit Aufträgen verdienen, nennt man auch Arbeits-Ergebnis. Bei den Werkstätten, die von der Entgelt-Studie untersucht wurden, waren es 2019 im Schnitt etwa eine Millionen Euro. Das klingt nach viel Geld. Doch pro Werkstatt-Beschäftigtem sind das nur rund 176 Euro monatlich gewesen – für ihre Arbeits-Zeit wird also viel weniger als der Mindest-Lohn verrechnet.
Außerdem müssen Behinderten-Werkstätten per Gesetz nicht nur wirtschaftlich arbeiten. Sie sollen gleichzeitig einem sozialen Anspruch gerecht werden. Das bedeutet: Sie müssen nicht nur Geld verdienen, sondern sich auch um die Förderung, Teilhabe und Inklusion der Beschäftigten kümmern.
Den Vorwurf der Ausbeutung findet Karla Bredenbals deshalb falsch. Sie sitzt zwei Räume von der Halle entfernt, in der Petra Loose gerade die Schrank-Schienen zusammenbaut. Bredenbals arbeitet als Geschäfts-Führerin in Looses Werkstatt und spricht mit ernstem Blick. Sie verteidigt nicht nur sich selbst, sondern auch das System: „Alle Einkünfte zusammengerechnet ergibt einen Stundenlohn, der nicht weit vom allgemeinen Arbeitsmarkt entfernt ist.“
Damit meint Bredenbals Sozial-Leistungen. Weil Werkstatt-Beschäftigte unmöglich vom Taschen-Geld allein leben könnten, springt der Staat ein. Für die ersten 20 Jahre in der Werkstatt erhalten fast alle Beschäftigten Grund-Sicherung, danach erhöhte Erwerbs-Minderungsrente.
Mit beidem kommen sie laut Entgelt-Studie im Schnitt nur auf ein Einkommen von etwas mehr als 1100 Euro – mit Taschen-Geld. Das liegt unterhalb der Grenze der Armuts-Gefährdung. Und es sind fast 300 Euro weniger als der Mindest-Lohn bei 35 Wochen-Stunden. So viele Stunden sollten Beschäftigte laut Gesetz mindestens in der Werkstatt sein.
Und es macht einen Unterschied, ob man einen Lohn oder Sozial-Leistungen bekommt: Denn Werkstatt-Beschäftigte, die Grund-Sicherung bekommen, müssen alle Einnahmen angeben. Wenn sie Weihnachts-Geld oder mehr Taschen-Geld bekommen, erhalten sie weniger Grund-Sicherung. Selbst wenn sie in der Werkstatt Vollzeit arbeiten – und nichts dafür können, dass sie Sozial-Leistungen brauchen, weil sie dafür keinen Mindest-Lohn bekommen.
Hier plant das Bundes-Sozial-Ministerium Änderungen, bevor das nächste Mal gewählt wird: Das Taschen-Geld soll in Zukunft nicht mehr auf die Grund-Sicherung angerechnet werden, heißt es auf Anfrage.
Außerdem will das Ministerium ein vom Staat finanziertes „Werkstatt-Geld“ statt dem Mindest-Lohn einführen. Denn der Mindest-Lohn könne „bei geringer Arbeits-Zeit sogar zu einer finanziellen Schlechter-Stellung“ führen. Stattdessen soll es mehr Geld als Zuschuss zum Taschen-Geld geben – für alle Beschäftigten, egal wie viel sie leisten. Von Sozial-Leistungen werden sie so jedoch weiter abhängig sein.
Auf einen Urlaub zu sparen oder Freund*innen teure Geschenke zu machen, ist für Werkstatt-Beschäftigte oft kaum möglich. „Ich bin froh, nicht zur Tafel für Lebensmittel zu müssen“, sagt Cornelia M. Sie hat jahrelang in einer Werkstatt gearbeitet.
Weil Armut immer noch ein Tabu ist, möchte sie ihren Nachnamen nicht in diesem Text lesen. Cornelia M. ist mittlerweile in Rente. Ihren Traum kann sie sich aber nicht leisten, sagt sie: einen Urlaub am Meer.
Ihr Leben lang hat Cornelia M. für Firmen Arbeiten erledigt. Sie hat Schrauben verpackt und Kugelschreiber zusammengebaut. „Ich war billige Arbeitskraft. Das war kein gutes Gefühl“, sagt sie. Sie habe nie mehr als 80 Euro monatlich von ihrer Werkstatt selbst bekommen.
80 Euro, das war bis 2020 das Mindest-Taschengeld in Werkstätten. Man sagt dazu auch: der Grund-Betrag. Dazu kommen noch bis zu 52 Euro vom Staat: das Arbeits-Förderungs-Geld.
Wer mehr will, muss sich beweisen
Dass es in Werkstätten nur ein Taschen-Geld gibt, rechtfertigen Gesetzgeber*innen und Werkstatt-Anbieter mit dem Argument, dass dort nicht nur gearbeitet wird. Die Bundes-Arbeits-Gemeinschaft der Werkstätten für Menschen mit Behinderung erklärt den fehlenden Mindest-Lohn etwa damit, „dass in Werkstätten keine Erwerbs-Arbeit stattfindet.“
Denn Werkstätten haben noch eine Aufgabe: Rehabilitation. Das bedeutet: Sie sollen die Fähigkeiten von Menschen mit Behinderungen fördern und sie auf Jobs vorbereiten. Etwa mit Schulungen. So soll ohne Druck der Arbeitsalltag gelernt werden. Und sie übernehmen Pflege oder Therapie – auch das brauchen manche Menschen, um zu arbeiten. Für Reha gibt es keinen Mindest-Lohn, so das Argument. Aber in Werkstätten wird viel gearbeitet – oft vor allem.
Wer nur Reha braucht und gar nicht arbeiten kann, darf sogar nicht in die Werkstatt: Beschäftigte müssen in allen Bundes-Ländern außer Nordrhein-Westfalen ein „Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeit“ leisten können.
Und Werkstätten bieten laut den Autor*innen der Entgelt-Studie „in großen Teilen dieselben Produkte und Dienstleistungen wie Betriebe des ersten Arbeitsmarktes an“. Ihr Fazit ist deshalb: „Das Beschäftigungsverhältnis geht somit deutlich über ein Rehabilitationsverhältnis hinaus.“
Dieses Spannungs-Feld zeigt sich auch bei der Bezahlung. Denn auch beim Taschen-Geld spielt Leistung eine Rolle. Wer mehr will, muss sich beweisen. Das funktioniert über den Steigerungs-Betrag. Ihn bekommen Beschäftigte nur, wenn sie mehr leisten.
Die Leistung wird oft mit Punkten bewertet. Verschiedene Werkstätten haben verschiedene Systeme, um etwa Genauigkeit, Schnelligkeit, Motivation und zum Teil das Sozial-Verhalten zu bewerten.
Als Beispiel: Arbeitet ein*e Mitarbeiter*in in einer Werkstatt in Norddeutschland besonders motiviert, erhält die Person 5 Punkte und bekommt 40 Euro mehr. Arbeitet sie besonders schnell, kann sie bis zu 5 Punkte und bis zu 60 Euro mehr Taschen-Geld bekommen.
Doch wer mehr Pausen braucht oder langsam arbeitet, ist nicht automatisch faul. Das kann an der Behinderung liegen, mit der man lebt. In Werkstätten ist es trotzdem verpflichtend, das Geld nach Leistung zu verteilen.
Auch Petra Loose sagt: „Das fühlt sich minderwertig an. Da wird über dich bestimmt. Du wirst nach Punkten bewertet. Was soll das?“ Sie findet: Das ist Leistungs-Druck wie am allgemeinen Arbeitsmarkt.
Kritiker*innen sehen in dem System eine Möglichkeit, Druck auszuüben und Beschäftigte bei unerwünschtem Verhalten zu bestrafen. Werkstatt-Geschäftsführerin Karla Bredenbals erklärt dazu, dass in ihrer Werkstatt zwei Mitarbeiter*innen die Leistung prüfen und verschiedene Arbeiten bewertet werden – wenn die Ergebnisse der Überprüfungen nicht zusammenpassen, werde das nochmal überprüft.
Taschen-Geld-Erhöhung führt gleichzeitig zu Kürzungen
Seit 2016 hat die Regierung den Grund-Betrag für das Taschen-Geld immer wieder erhöht. Er ist jetzt bei 133 Euro. Aber laut der Entgelt-Studie hat 2020 und 2021 jeweils etwa eine von fünf Werkstätten den Steigerungs-Betrag von einigen Mitarbeiter*innen gekürzt, um allen den Grund-Betrag zahlen zu können. Das war auch in Looses Werkstatt einmal so.
Das bedeutet: Mitarbeiter*innen, die vorher mehr erhalten haben, mussten weniger Geld akzeptieren, damit andere mehr Taschen-Geld bekommen können. Obwohl sie selbst oft wenig Geld haben und armutsgefährdet sind.
Die Werkstätten begründen die Kürzungen in der Befragung der Entgelt-Studie mit weniger Einnahmen wegen der Corona-Pandemie. Aber zwei von fünf sagen auch: Wegen der Erhöhung vom Grund-Betrag gab es zu wenig Geld für den Steigerungs-Betrag.
Durchschnittliches Taschen-Geld seit 2012:
Angaben mit Arbeits-Förderungsgeld, gerundet
Quelle: BAG WfbM
Mit den aktuellen Gesetzen und Förderungen sei es nicht möglich, dass in Werkstätten deutlich mehr gezahlt wird, meint auch die Bundes-Arbeits-Gemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen. Deshalb fordere man mehr Lohn-Zuschuss vom Staat – solange damit keine Rechte verlorengehen, die Werkstatt-Beschäftigte gerade haben.
Das Geld für Werkstatt-Mitarbeiter*innen ohne Behinderungen wird bereits vom Staat bezahlt – als Gehalt, nicht als Sozial-Leistung. Für sie gelten andere Bedingungen. Sie erhalten ein geregeltes Gehalt, das nicht so leicht gekürzt werden kann. Das verhindern ihre Arbeits-Rechte, die Menschen mit Behinderungen in Werkstätten nicht haben.
Manche Menschen ohne Behinderungen in Werkstätten verdienen sehr gut. Ein Geschäftsführer von den Elbe-Werkstätten in Hamburg hat letztes Jahr zum Beispiel 160 Tausend Euro Jahres-Gehalt bekommen – laut Wirtschaftsprüfer*innen ein angemessenes Gehalt für seinen Job. Damit verdient er fast 55 Mal mehr, als die Beschäftigten in seiner Werkstatt durchschnittlich Taschen-Geld erhalten.
Kritik an seinem Gehalt findet der Geschäftsführer der Elbe-Werkstätten Rolf Tretow auf Nachfrage nicht „zielführend“. Nicht sein Gehalt sei zu hoch, sondern das der Werkstatt-Beschäftigten zu niedrig. „Die Gesellschaft muss sich entscheiden, ob sie den Werkstatt-Beschäftigten einen fairen Arbeits-Lohn ermöglichen will“, schreibt er auf Anfrage.
Was stimmt: Auch wenn man das Gehalt vom Elbe-Geschäftsführer ganz streichen und seinen Beschäftigten geben würde, würden sie nur etwa vier Euro mehr Taschen-Geld bekommen. Werkstätten verdienen mit ihren Aufträgen aktuell zu wenig, um allen Beschäftigten ohne mehr Geld vom Staat einen Mindest-Lohn zahlen zu können.
Aber ihr doppelter Auftrag ist Teil vom Problem: Werkstätten müssen wirtschaftlich sein und das Taschen-Geld selbst verdienen. Aber weil sie nicht nur wirtschaftlich sind, verdienen sie zu wenig für den Mindest-Lohn.
Mitarbeiter*innen ohne Behinderungen können zum Teil in Werkstätten viel verdienen, die Beschäftigten mit Behinderungen sind gleichzeitig oft armutsbetroffen – obwohl sie den Großteil der Aufträge erledigen und ohne sie niemand an Werkstätten verdienen würde.
Ein paar Wochen, nachdem andererseits und die Süddeutsche Zeitung Petra Loose in ihrer Werkstatt besucht haben, schickt sie eine Sprach-Nachricht. Sie klingt betrübt. Ihr Taschen-Geld wurde wieder gekürzt, erzählt sie: „Jetzt geht man für 129 Euro ohne Essensgeld arbeiten. Das ist doch alles traurig.“
Das war der erste Teil von unserer Reihe über Werkstätten. Den zweiten Teil liest du hier.
Geschrieben Von
Nikolai Prodöhl,
Emilia Garbsch
und von
Sabrina Ebitsch,
Natalie Sablowski
Leichte Sprache
Constanze Busch,
Fabian Füreder
Redaktion
Lisa Kreutzer
Lektorat und Fakten
Katharina Bacher
Fotos
Natalie Sablowski
Zeichnung
Lisa-Marie Lehner
Grafik Design
Gabriel Gschaider
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Unsere Recherche zu Werkstätten haben wir in Zusammen-Arbeit mit der Süddeutschen Zeitung gemacht. Den Text der Süddeutschen Zeitung liest Du hier.
Unsere Autorin Emilia Garbsch wurde von ,Netzwerk Rechercheʽ gefördert und unterstützt.