Das Foto zeigt die Hände einer Person, die in einem Stuhl sitzt. Der Hintergrund ist verschwommen.

Elke sagt nein

9. Mai 2024

Elke* hat Lernschwierigkeiten und erlebte eine Vergewaltigung. Geglaubt hat ihr damals niemand. Der Verein Ninlil unterstützt sie seit 20 Jahren und füllt damit eine große Versorgungs-Lücke. Denn Frauen mit Behinderungen erleben zwei- bis dreimal häufiger sexualisierte Gewalt als Frauen ohne Behinderungen.

Dieser Text ist lang. Hier findest du eine Zusammen-Fassung von diesem Text in einfachen Worten. Wir erklären dort auch schwierige Worte.

„Ich muss jetzt los, sonst wird es dunkel“, sagt Elke. Ihre Augen hinter der Brille wendet sie nicht ab, sie schaut ihrem Gegenüber tief in die Augen, wie immer. Sie trinkt den letzten Schluck ihrer heißen Schokolade und packt ihre Sachen zusammen. Alleine hat sie Angst auf der Straße. Nachts und manchmal auch am Tag fürchtet Elke sich davor, dass ihr jemand zu nahe kommt, sie anspricht oder anfasst. „Ich muss auch noch eine reparierte Halskette für meinen Freund abholen“, murmelt sie. Beim Weggehen schwankt sie, ihr Knie wurde schon oft operiert.

Elke ist 56 Jahre alt. Vor kurzem hat sie ihren Behinderten-Ausweis neu machen lassen, weil sie den alten verloren hat. „50 Prozent steht drauf“, sagt sie und hält ihn hoch.

Weil Elke eine Frau ist und Behinderungen hat, ist das Leben für sie gefährlicher als für Frauen ohne Behinderungen. Es ist wahrscheinlicher, dass sie psychische, sexualisierte oder körperliche Gewalt erlebt. Sexualisierte Gewalt kann vieles sein. Zum Beispiel: Wenn einen jemand berührt oder küsst, obwohl man es nicht mag. Wenn jemand sich auszieht und einen zwingt zuzuschauen. Oder wenn einen jemand vergewaltigt. Das heißt wenn man zu Sex gezwungen wird. Das ist eine Straftat.

Studien aus Deutschland und Österreich haben herausgefunden: Frauen mit Behinderungen sind zwei- bis dreimal häufiger von sexualisierter Gewalt betroffen als Frauen ohne Behinderungen.

Gleichzeitig gibt es in Österreich nur wenige Beratungs-Stellen, die Frauen mit Behinderungen aktiv ansprechen und auf allen Ebenen barrierefrei sind – für Rollstuhl-Fahrerinnen genauso wie für Frauen mit Lernschwierigkeiten. Der Verein Ninlil aus Wien ist der einzige in Österreich, der sich darauf spezialisiert hat. Frauen mit und ohne Behinderungen beraten und unterstützen Frauen mit Lern-Schwierigkeiten, die sexualisierte Gewalt erfahren haben. Diese Unterstützung brauchen viele Frauen, doch es gibt sie nicht überall in Österreich.

Das Bild zeigt eine geschlossene Tür an der ein Schild mit dem Titel "Bitte Leise" hängt.

Das kritisiert der Monitoring-Ausschuss. Das ist eine Gruppe von Menschen, die überwacht und überprüft, ob die Rechte von Menschen mit Behinderungen eingehalten werden. Auch die Vereinten Nationen sagen: Frauen mit Behinderungen haben in Österreich immer noch schlechten Zugang zu Gewalt-Schutz-Stellen. Schon bei der ersten Staaten-Prüfung vor 10 Jahren für die Einhaltung der UN-Behinderten-Rechts-Konvention haben Prüfer*innen festgehalten: Österreich macht zu wenig gegen Gewalt an Frauen mit Behinderungen.

Auch Elke kam vor rund 20 Jahren zu Ninlil. Denn Elke hat aus einem bestimmten Grund Angst, alleine im Dunkeln auf der Straße unterwegs zu sein: Sie wurde vergewaltigt. Vor vierzig Jahren habe ein Arbeitskollege sie vergewaltigt, erzählt Elke. Damals habe es keine Zeug*innen gegeben, sagt sie. Auch darum glaubte ihr niemand. Zu einer Anzeige bei der Polizei sei es nie gekommen: „Ich wusste nicht, was tun. Ich war ganz alleine damit“, sagt Elke oft. Die Vergewaltigung hat ihr Leben sehr verändert. Elke sagt: „Meine Vergangenheit, die hört irgendwie nicht auf.“ Nach der Vergewaltigung habe sie einen großen Teil ihrer Selbstständigkeit verloren. Sie kündigte ihren Job, denn sie hatte Angst, wieder hinzugehen. Der Täter habe nämlich weiterhin dort gearbeitet, erinnert sich Elke.

Der Job war ihr einziger am Ersten Arbeitsmarkt. Den 20-Stunden-Job hatte ihre Mutter ihr vermittelt. Auch später im Leben fürchtete sich Elke davor, dass es bei anderen Arbeitsstellen wieder passieren könnte. Elke heißt in Wirklichkeit anders. Sie will, dass Menschen ihre Geschichte hier lesen können. Aber sie will nicht, dass ihr richtiger Name veröffentlicht wird. Sie hat Angst davor, wie ihr Partner, ihre Familie, Bekannte und Freund*innen darauf reagieren würden.

Das Foto zeigt eine gelbe Wand, an der bunte Plakate mit dem Titel "Nein" hängen. Davor stehen blaue Stühle und rechts eine Zimmerpflanze.

Zu wenig Wissen

Die Vergewaltigung im Jahr 1984 sei nicht das erste Mal gewesen, dass sie sexuelle Übergriffe erlebt habe, erzählt Elke. Schon als Kind fühlte sie, dass ihr erwachsene Männer aus dem Umfeld zu nahe kamen, mehr von ihr wollten als Freundschaft, erinnert sich Elke. „Ich bin oft weggelaufen vor den Männern“, sagt sie. Zeugen gab es für die sexualisierten Belästigungen keine, und Elke erzählte auch niemandem davon. Damit ist Elke nicht alleine. Nur 6 Prozent der Frauen, die sexualisierte Gewalt erleben, erstatten auch Anzeige.

Anwältin Sonja Aziz vertritt viele Opfer von sexualisierter Gewalt in Österreich. Sie schrieb 2018 in einer juristischen Zeitschrift: Oft wird dem Opfer vor Gericht nicht geglaubt, weil es „weder Zeugen nennen noch Verletzungsnachweise vorlegen konnte“. Außerdem sagt sie: Das Justiz-Personal weiß zu wenig über den Umgang mit den psychischen Folgen bei Opfern.

Karin Dietz vom 24-Stunden-Frauennotruf in Wien betreut Frauen, die Gewalt erleben und Sexual-Straftaten anzeigen wollen. Sie sieht sehr oft, dass das Verfahren noch vor der Haupt-Verhandlung eingestellt wird: „Bei der Polizei muss man das genaue Datum, Uhrzeit, Wortlaut und Zeugen der Tat nennen. Das ist schwierig für Menschen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben. Sie sind wegen der Folgen der Tat keine besonders ‚guten Zeuginnen‘, so wie die Justiz sie bräuchte. In unserem Rechtsstaat fehlt es scheinbar an Werkzeugen, wie man mit sexualisierter Gewalt umgeht, die im sozialen Nahraum passiert und vielleicht schon etwas länger zurückliegt.“

Elke hat erst viele Jahre nach der Vergewaltigung in einer Werkstätte erzählt, was ihr passiert ist. Eine Betreuerin von der Werkstätte begleitete Elke danach zu Ninlil. Dort bekommt Elke Einzel-Beratung von Therapeutinnen und Sozial-Arbeiterinnen und macht bei Seminaren mit.

Wir haben andere Beratungs-Stellen in verschiedenen Bundesländern angerufen. Wir wollten wissen, was sie tun, wenn Frauen mit Lern-Schwierigkeiten zu ihnen kommen und sexualisierte Gewalt erlebt haben. Die meisten Beratungs-Stellen schickten uns zuerst weiter zu Ninlil. Auch wenn sie uns sagten “für alle Frauen” da zu sein, sehen sie sich nicht als Expert*innen für Frauen mit Lern-Schwierigkeiten. Sie meinten: Ninlil kennt sich da besser aus.

Links unten sieht man verschwommenen Umrisse eines Gesichts. Im Hintergrund hängt ein Plakat mit dem Titel "Nein". Im Hintergrund ist eine gelben Wand.

Selbst-Verteidigung für behinderte Menschen

Ein Samstag-Morgen im April im Seminar-Raum von Ninlil. An den Wänden hängen bunte Plakate mit Aufschriften wie „Grenzen“, „Frauen-Gruppe“, „Jede Frau hat ihre eigene Art, ‚Nein‘ zu sagen“ und „Frauen haben Rechte“. Rund 10 Frauen stehen sich in zwei Reihen gegenüber. Sie sind unterschiedlich alt, die jüngste ist 23, die älteste über 60. Sie alle haben Lern-Schwierigkeiten, manche von ihnen haben auch körperliche Behinderungen.

In der Übung geht jeweils eine Teilnehmerin auf die andere zu. Die, die steht, soll „Stopp“ sagen, sobald ihr Gegenüber ihr zu nahe kommt. Manche rufen es laut, andere flüstern es, kichern dabei ein wenig. In der nächsten Runde sollen sie alle versuchen, „auch ein ernstes Gesicht zu machen“, sagt eine der beiden Leiterinnen. Die Körper-Sprache und das, was sie sagen, sollen zusammenpassen, sagt sie. Auf ihrem schwarzen T-Shirt steht: „Selbst-Verteidigung für behinderte Menschen“. Hier in diesem Seminar „Angstfrei leben“ sollen die Frauen Selbst-Verteidigung lernen. Im Sesselkreis erzählen viele Teilnehmerinnen Geschichten über Angst im Alltag: In der U-Bahn, auf der Straße, im Supermarkt voller Leute. Die Angst scheint fast immer da zu sein.

Worte für Gewalt fehlen

„Frauen mit Lern-Schwierigkeiten bekommen im System oft gesagt, dass sie nicht selbst wissen, was sie brauchen. Das ist auch ein wichtiger Grund, warum so selten Frauen alleine und von sich aus anrufen“, sagt Lisa Udl. Sie leitet den Verein Ninlil. Meistens kommen die Frauen wegen engagierter Betreuer*innen oder Angehöriger zu Ninlil. Seit 2022 hat Ninlil mehr Fördergeld zur Verfügung. Seitdem können die Mitarbeiter*innen direkt in Werkstätten und Wohnheime gehen und dort Frauen mit Behinderungen ansprechen. „Viele Frauen hören da zum ersten Mal, welche Formen von Gewalt es gibt und was alles sexualisierte Gewalt sein kann“, erzählt Lisa Udl.

Denn: Menschen mit Behinderungen und Lern-Schwierigkeiten bekommen in Schulen oder anderen Einrichtungen immer noch zu wenig Aufklärung. Kaum jemand spricht mit ihnen darüber, was Sexualität oder sexualisierte Gewalt ist.

Ein Portrait von Lisa Udl. Sie sitzt auf einem Stuhl, trägt eine Brille und ein rotes T-Shirt. Sie schaut in die Kamera.

Im Text Berührt werden schreibt andererseits-Autorin Leonie Schüler darüber, wie Sexualität von Menschen mit Behinderungen immer noch ein Tabu-Thema ist.

Das zeigt auch eine Studie über Gewalt an Menschen mit Behinderungen aus 2019, die Österreichs Sozial-Ministerium veröffentlichte. Die meisten der Befragten lebten in Einrichtungen der Behinderten-Hilfe. Von diesen gab jede dritte Person an, keine Aufklärung erhalten zu haben. Mehr als 60 Prozent haben in ihrem Leben noch keine sexuellen Erfahrungen gemacht. 

Die Vereinten Nationen haben im Bericht über die Staaten-Prüfung 2023 geschrieben: Konzepte für Sexualität und Schutz vor sexualisierter Gewalt in Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen fehlen. Wenn man keinen Zugang zu Informationen und Aufklärung hat oder sehr wenig selbst bestimmen kann, nennt man das „strukturelle Gewalt“. Lisa Udl von Ninlil sagt: „Strukturelle Gewalt ist der Nährboden für alle anderen Formen von Gewalt. Vielen Menschen mit Lern-Schwierigkeiten wird ihr Leben lang erzählt, wann sie essen und schlafen sollen. Wie sollen sie dann bei Sexualität wissen, dass sie selbst bestimmen und Nein sagen können?“ Aufklärung und Wissen über Sexualität und Gewalt hilft also dabei, Menschen vor Gewalt zu schützen. Im Gang zu ihrem Büro steht eine Palette mit hunderten Heften. „Kraft-Rucksack“ steht darauf. Den bekommen Betroffene und Betreuer*innen, um mehr über Gewalt in Einfacher Sprache zu lesen. Lisa Udl sagt uns: Viele unterschiedliche Menschen aus allen Bundesländern in Österreich bestellen den Kraft-Rucksack. Auch nach Deutschland und in die Schweiz haben sie ihn verschickt. Elke hat ihn auch zu Hause.

Elke sagt „Nein“

„Vor vier Jahren hab ich meinem Freund endlich gesagt: ‚Ich will keinen Sex mehr‘“, sagt Elke. Der gemeinsame Sex war nicht mehr schön für sie. Nein zu sagen, habe sie bei Ninlil gelernt, erzählt sie. Seit 10 Jahren ist Elke mit ihrem Freund zusammen. Für immer trennen möchte sie sich nicht von ihm. Elke kann nicht so frei entscheiden, wo und wie sie wohnt, wie Menschen ohne Behinderungen. Mit ihrer Mindest-Pension und dem Werkstatt-Taschengeld hat sie nicht viel Geld zur Verfügung. Elke sagt: “Mein Freund will nicht, dass ich in eine betreute Wohn-Gemeinschaft gehe. Er möchte nicht immer mit Betreuern zu tun haben“, sagt Elke. Darum sieht sie derzeit nur die Möglichkeit, bei ihrem Freund wohnen zu bleiben. Sie benötigt Unterstützung, und ohne Partner sein möchte sie nicht. Dann würde sie sich alleine fühlen.

Eine Aufnahme von einem bunten Bild. In der Mitte steht "Stopp". Daneben ist ein ein trauriger Smiley.

Warum lernt Elke nicht jemand Neuen kennen? Auf die Frage schüttelt sie nur den Kopf und sagt: „Wie denn? Ich treffe nicht viele unterschiedliche Leute. „Es sind immer nur die gleichen aus der Werkstatt.“ Die Orte, wo nicht-behinderte Menschen oft neue Leute kennenlernen, sind meist nicht inklusiv: Bars, Konzerte, Theater, Dating-Apps. Elke wünscht sich eigentlich eine andere Beziehung als die, die sie jetzt hat. „Ich wünsch mir einen Mann, der mich liebt und sagt ‚Elke, du bist wunderschön!‘ oder ‚Elke, du bist immer so gut zu mir. Ich freu mich, dass du da bist.‘ Das würde mir gut tun.“

Fotos von Zoe Opratko

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