Text: Theresa-Marie Stütz
Mitarbeit: Fabian Füreder, Lisa Kober
Rebekka sitzt auf der Steinstiege vorm Wahl-Lokal. Langsam zieht sie sich rückwärts Stufe für Stufe hoch, um zur Wahl-Kabine zu gelangen. Es sind Gemeinderats-Wahlen. 2022 im österreichischen Bundes-Land Burgenland. Sie wurde, um ihre Stimme abzugeben, in einem Gebäude mit fünf Stein-Stufen eingeteilt. Rebekka sitzt im Rollstuhl, weil sie Glasknochen hat. Das heißt, ihre Knochen können sehr leicht brechen.
An Wahl-Tagen entscheiden die Menschen, von welchen Personen sie in der Politik vertreten werden. Eigentlich sollten Wahlen für alle Menschen zugänglich sein. Denn im Jahr 2011 trat die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in der EU in Kraft. Darin steht das Recht auf Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben. Damit ist auch das Recht zu wählen gemeint. Menschen mit Behinderungen müssen unbeeinflusst und frei wählen können.
Doch für Menschen mit Behinderungen wie Rebekka ist das schwierig. Nicht alle Menschen in der EU haben den gleichen Zugang zu Wahlen. Das Europäische Parlament schätzt, dass 2019 rund 800.000 Tausend Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen in der EU nicht an der EU-Wahl teilnehmen konnten.
In manchen EU-Ländern dürfen Menschen mit Behinderungen nicht wählen. Menschen, die Hilfe bei Entscheidungen brauchen, sind manchmal von der Wahl ausgeschlossen. Zum Beispiel Menschen mit gesetzlicher Vertretung. In Österreich nennt man das Erwachsenen-Vertretung. Manche von ihnen bekamen in Deutschland erst im Jahr 2019 das Recht zu wählen. In Bulgarien, Zypern, Estland, Griechenland, Luxemburg, Polen und Rumänien sind Menschen mit Erwachsen-Vertretung noch immer vom Wählen ausgeschlossen. In 19 EU-Ländern dürfen sich Menschen mit Behinderungen nicht zur Wahl aufstellen lassen. Österreich ist eines von acht Ländern, in denen das erlaubt ist.
Eigentlich sieht es also gut aus in Österreich: Menschen mit Behinderungen dürfen wählen und gewählt werden. Aber können sie das auch?
Barrieren in Österreich
Rebekkas Fall zeigt: Nicht immer. Rebekka kann kurz aufstehen. Nur darum ist sie 2022 in der Lage ihr Wahlrecht zu nutzen. Für viele andere Rollstuhl-Fahrer*innen geht das nicht. Und auch für Rebekka ist das gefährlich. “Bei mir ist jede Bewegung ein gesundheitliches Risiko”, sagt Rebekka. “Ich könnte mir sogar beim Niesen eine Rippe brechen.”
Aber für eine Wahl-Karte ist es zu spät, weiß Rebekka. “Also dachte ich mir, ich ziehe es jetzt durch.” Die Wahl-Beisitzer*innen bieten Rebekka an, sie mit dem Rollstuhl hochzuheben. Das fühlt sich aber noch gefährlicher an. Sie vertraut lieber auf sich selbst. Denn: “Wenn ich mit dem Rollstuhl stürze, ist viel kaputt.”
Später in der Wahlkabine sagt ein Wahl-Beisitzer zu ihr: “Ja, wenn du nicht aufstehen kannst, soll halt die Mama das Kreuzerl machen.” Denn die Schreib-Unterlage in der Wahl-Kabine war so hoch, dass Rebekka mit dem Rollstuhl darunter fahren konnte. Aber Rebekka möchte selbst wählen. Also steht sie wieder kurz auf: “Jede*r Österreicher*in hat das Recht auf ein Wahl-Geheimnis. Das muss auch für Menschen mit Behinderungen gelten”, sagt sie.
Tut die EU was dagegen?
Rebekkas Recht auf Teilhabe wurde missachtet und nicht ernst genommen. Viele andere Menschen mit Behinderungen dürfen gar nicht wählen. Wie kann das sein? Wir haben beim Europäischen Parlament nachgefragt. Die Pressestelle antwortet, dass sie viel machen, um diese Barrieren abzubauen. Die EU hat ihre Mitglied-Staaten dazu aufgefordert, die Wahl-Bedingungen für Menschen mit Behinderungen zu verbessern. Dafür gibt es auch einen Leitfaden für alle Länder in der EU: Die Strategie für die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2021-2030. Er soll allen Mitgliedstaaten zeigen, wie die Wahlen besser funktionieren. Das European Disability Forum , ein europäischer Verband von Menschen mit Behinderungen, findet: Der Leitfaden hat gute Tipps. Aber: Er löst das Problem in der EU nicht. Es geht nämlich darum, allen Menschen mit Behinderungen ein Recht aufs Wählen zu geben.
Die EU hat versprochen: Sie wird das EU-Wahlgesetz ändern. Dadurch sollen alle Menschen für die EU-Wahlen kandidieren können. Und es soll den gleichen Zugang zu Wahlen für alle geben. Die Änderung ist aber noch nicht endgültig beschlossen. Für die EU-Wahl im Juni gilt sie noch nicht.
Auch in Österreich kann Rebekka aber nicht so einfach wählen wie eine Person ohne Behinderungen. Dabei trifft sie nur auf eine Art von vielen verschiedenen Barrieren: Bauliche Barrieren. Es gibt Barrieren in der Sprache. Und optische Hindernisse. Das ist zum Beispiel eine zu kleine Schrift auf einem Informationsblatt. Oder jemand hat eine soziale Barriere und ist gestresst beim Wählen.
13 Jahre leere Versprechen
Damit das nicht passiert, steht dazu in der UN-Behinderten-Rechts-Konvention: Wahlen müssen barrierefrei und leicht verständlich sein. In Österreich gab es 2023 eine Wahl-Rechts-Reform. Seit dem 1. Jänner 2024 sollen Informationen zum Wählen in “leicht lesbarer” Form erhältlich sein. Vom Bundesministerium für Inneres gibt es dafür zum Beispiel Informationen zu der EU-Wahl in “Leichter Lesen”.
Daniela Pittl sagt: Viele Informationen zu Wahlen sind immer noch zu schwierig geschrieben. Sie ist Beraterin bei Wir informieren, beraten und bestimmen selbst-Tirol (WIBS). Sie braucht leichte Sprache. “Die Informationen zu den Wahlen sind nicht alle in leichter Sprache”, sagt Pittl. Das fängt schon bei den Wahl-Plakaten an. Um zu wichtigen Informationen zu gelangen, braucht sie Unterstützung. Hier helfen ihr zum Beispiel Unterstützungs-Personen von WIBS, die mit ihr die Wahl-Programme durchgehen.
Viele Wahl-Programme sind schwierig geschrieben. In Österreich sind rund 700.000 Menschen auf leichte Sprache angewiesen, um Zusammenhänge gut verstehen zu können. Dazu zählen auch gehörlose Menschen. Caroline Strobl ist von Geburt an gehörlos. Sie sagt: “Die Homepage für die Wahlen ist für Gehörlose schwierig zu verstehen.” Ein Problem sind zum Beispiel zu lange Sätze.
Nachgefragt
Andererseits hat alle sieben Parteien kontaktiert, die zur EU-Wahl aufgestellt sind. Wir haben gefragt, ob ihre Wahl-Programme auch in einfacher oder leichter Sprache veröffentlicht werden. ÖVP, DNA und SPÖ haben geantwortet, dass sie kein Programm in einfacher oder leichter Sprache veröffentlichen werden.
Die Grünen, die KPÖ und die FPÖ haben auf andererseits-Nachfrage Anfang Mai gesagt, dass sie ein Programm in leichter Sprache veröffentlichen werden. Aber: Drei Tage vor der Wahl hatte keine Partei ein Programm in leichter Sprache. Leichte Sprache ist noch einfacher als einfache Sprache. Das ist vor allem für Menschen mit Lernschwierigkeiten wichtig. Keine Partei hat ihr Versprechen gehalten. Aber: Die Grünen, die NEOS und die KPÖ haben ein Wahl-Programm in einfacher Sprache.
Für viele ist es auch kompliziert, wie ein Stimmzettel aussieht: Je mehr Parteien zur EU-Wahl antreten, desto mehr Zeilen gibt es. Eine Zeile liest man von links nach rechts. Und eine Spalte von oben nach unten. Für viele Menschen ist das verwirrend.
In so einem Fall haben behinderte Menschen das Recht, eine Begleit-Person mitzunehmen. Sie muss nicht davor angemeldet sein. Man kann sie einfach mitnehmen. Die wählende Person muss die Begleit-Person gegenüber der Wahl-Leitung selbst bestätigen können. Herrschen Zweifel im Wahl-Lokal, findet eine kleine Abstimmung in der Wahl-Behörde statt. Diese muss auch aufgeschrieben werden.
Barrierearm wählen als blinde und sehbehinderte Person
Sehbehinderte und blinde Menschen benutzen eine Stimmzettel-Schablone. Sie hilft beim Ausfüllen. “Ich kann den Wahl-Zettel selber in eine Papier-Schablone hineinstecken”, sagt Josef Baumgartner. Er ist 55 Jahre alt, lebt in Wien und ist stark sehbehindert. “Dort, wo man die Kreuzchen machen oder die Vorzugs-Stimme vergeben kann, gibt es Löcher.”
Um den Wahl-Zettel als sehbehinderte oder vollblinde Person auszufüllen, braucht es davor eine Recherche. “Wenn ich eine bestimmte Partei wählen will, muss ich davor wissen, welches Kästchen ich ankreuzen muss”, so Baumgartner.
In Österreich können sich alle Menschen seit der Nationalrats-Wahl 2008 für die Brief-Wahl entscheiden. Viele Menschen mit Behinderungen nutzen diese Möglichkeit gerne. "Die Wahl-Karte nachhause bestellen zu können und in aller Ruhe auszufüllen war für uns Blinde und Sehbehinderte ein Riesenschritt", sagt Baumgartner.
Doch Rebekka entscheidet sich 2022 zu einem Wahl-Lokal zu gehen. Warum? “Ich habe mir mit Freunden ausgemacht, dass wir nach dem Wählen Eis essen gehen”, sagt sie. “Im Normalfall nutze ich die Brief-Wahl, aber manchmal möchte man am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Hat in dem Fall leider nicht funktioniert.”
Aber auch die Möglichkeit, per Brief zu wählen, gibt es nicht überall. In Zypern und Griechenland, wo alle eigentlich wählen dürfen, gibt es zum Beispiel laut dem European Human Rights Reports 2022 keine Maßnahmen für Menschen mit Behinderungen, um außerhalb der Wahl-Kabinen abzustimmen. Das heißt: Viele Menschen mit Behinderungen können nicht wählen gehen, weil sie nicht in die Wahl-Kabine kommen. Es gibt in Österreich auch eine fliegende Wahl-Kommission. Sie ist für Menschen gedacht, die es körperlich nicht zu einem Wahl-Lokal schaffen. Trotzdem ist das Problem mit fliegender Wahl-Kommission und Brief-Wahl nicht gelöst, sagt Rebekka: “Solange es für uns Menschen mit Behinderungen einfacher ist, sich für die Brief-Wahl zu entscheiden, als ins Wahl-Lokal zu gehen, sind die Wahlen nicht barrierefrei.”
Welche Unterstützungsmaßnahmen gibt es in Österreich noch?
Dabei geht es nicht nur ums Prinzip, sondern auch darum, ob Menschen mit Behinderungen überhaupt wählen. “Die Barrieren sind oft ein Grund, warum jemand nicht wählen geht”, sagt Rebekka. In ihrem Freundes-Kreis hört sie oft: ‘Ich gehe gar nicht wählen, weil ich bin eh nicht erwünscht’. Doch Rebekka ist der Meinung, dass es gerade für Menschen mit Behinderungen wichtig ist, wählen zu gehen. “Weil gerade, wenn es um uns geht, wird so viel auf politischer Ebene beschlossen”, sagt sie. “Immer über uns, ohne uns.”
Verglichen mit anderen EU-Ländern gibt es in Österreich viele Maßnahmen und politische Rechte für Personen mit Behinderungen. Rebekkas Beispiel zeigt aber: Österreich und die EU haben noch einen langen Weg vor sich. Und das obwohl ein wichtiges EU-Ziel ist, Diskriminierung abzuschaffen.
In Österreich verändert sich mit der Wahl-Rechts-Reform gerade viel: Bis zum 1. Jänner 2028 sollen alle Wahl-Lokale in Österreich barrierefrei sein. Seit Anfang diesen Jahres muss es in jedem Gebäude mit Wahl-Lokalen mindestens eine barrierefreie Wahl-Kabine geben. Für blinde und sehbehinderte Menschen soll der Weg zum Wahl-Lokal durch ein Leit-System oder mithilfe von Ordner*innen zugänglich sein.
Rebekka lässt es diesmal nicht darauf ankommen: Sie wählt per Brief-Wahl.
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