Werkstätten sollen Menschen mit Behinderungen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt vorbereiten. Doch die meisten bleiben ihr Leben lang dort. Was läuft schief?
5:30 aufstehen, 6:30 losfahren. Sebastian Wirth ist es wichtig, morgens genug Zeit einzuplanen. „Ich will immer einen Puffer haben“, sagt der große Mann mit kurzen blonden Haaren. Ankommen in der Firma. 7:30 Arbeitsbeginn. Maschinen bedienen, Bauteile aus Edelstahl zuschneiden und sortieren. Aufschreiben, was gemacht wurde. 5 Tage, 40 Stunden die Woche. Und am Ende des Monats ein Gehalt auf dem Konto.
Für die einen klingt es wie ein normaler Job. Für den 34-jährigen Sebastian Wirth ist es etwas Besonderes: „Als ich den Arbeits-Vertrag bekommen habe, habe ich vor Freude geweint“, erinnert sich Wirth. Seine Mutter Roswitha Wirth hat Tränen in den Augen. Sie weiß, wie selten der Weg ihres Sohnes ist.
Förder-Schule, Werkstatt. So hat es auch bei Sebastian Wirth begonnen. Ein Leben im Sonder-System für Menschen mit Behinderungen schien vorgezeichnet.
Heute ist Sebastian Wirth einer von wenigen Werkstatt-Beschäftigten, die zu Angestellten wurden. Weniger als einer von hundert Werkstatt-Beschäftigten macht diesen Wechsel. Dabei sind Werkstätten gesetzlich verpflichtet, den „Übergang geeigneter Personen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt […] zu fördern.“
Menschen mit Behinderungen haben ein Recht auf Teilhabe außerhalb von Sonder-Systemen. Die Vereinten Nationen ermahnen Deutschland deshalb schon lange, Werkstätten Schritt für Schritt ab- oder umzubauen. Im Jahr 2015 forderten sie etwa die „Abschaffung geschützter Werkstätten durch sofort umsetzbare Ausstiegs-Strategien“.
Denn Menschen mit Behinderungen haben ein Recht auf Teilhabe außerhalb vom Sonder-System – und darauf, für ihre Arbeit genug Geld zum Leben zu verdienen. Doch auch nach 2009, dem Jahr, seitdem die UN-Behinderten-Rechts-Konvention in Deutschland gilt, stieg die Anzahl der Werkstatt-Beschäftigten weiter. Warum sind Geschichten wie die von Sebastian Wirth bis heute die Ausnahme?
Wirth arbeitet als Produktions-Helfer für Auto-Hersteller – wie viele Menschen in Werkstätten, aber mit echtem Lohn und gleichen Arbeits-Rechten. Sein Chef wünscht sich mehr verlässliche Angestellte wie ihn.
Die Suche nach einer Anstellung war für Wirth nicht einfach: Einmal machten Kolleg*innen sich lustig über ihn. Einmal gab es Probleme mit dem Chef. Ein anderer Arbeitgeber habe laut Roswitha Wirth kaum mehr als die Werkstatt zahlen wollen, um den „sozialen Frieden“ im Team nicht zu gefährden. Nach mehreren erfolglosen Versuchen fand Wirth schließlich seine jetzige Anstellung.
Sebastian Wirth in seinem Elternhaus
Ganz allein musste die Familie Wirth den Weg nicht gehen: Der Vermittlungs-Dienst „Access“ hat geholfen. Er hilft bei der Job-Suche und bringt laut eigenen Angaben drei von fünf Werkstatt-Beschäftigten erfolgreich in Anstellungen. Trotzdem ist Access immer noch auf Sponsoren, Stiftungen und Spenden angewiesen.
Vom Staat allein gibt es nicht genug Geld für die Arbeit von Access. Doch auch die Arbeit in der Werkstatt kostet viel. Besonders viel Geld bekommen Werkstätten von der Eingliederungshilfe: 2022 waren es rund fünf Milliarden Euro.
Wenn man auch andere Geld-Geber dazu nimmt, gibt der Staat im Schnitt über 35 Tausend Euro jährlich pro Werkstatt-Beschäftigtem aus. Das Geld ist etwa für das Personal in der Werkstatt und Fahrten-Dienste. Außerdem für Sozial-Versicherungen, Taschen-Geld-Zuschüsse und Sozial-Leistungen der Werkstatt-Beschäftigten.
Das Geld wird also für die Unterstützung von Werkstatt-Beschäftigten ausgegeben. Doch es fließt gleichzeitig in ein System, das die Vereinten Nationen in der jetzigen Form als menschenrechtswidrig einstufen. Denn es gibt kein echtes Wahl-Recht bei der Berufs-Wahl, solange man außerhalb vom Sonder-System nicht genauso viel und leicht die Unterstützung kriegt, die man braucht.
„Es braucht die Möglichkeit, dass dieselbe Unterstützung wie in der Werkstatt außerhalb bei einer Anstellung finanziert wird“, sagt Inklusions-Forscher Stefan Doose von der FH Potsdam.
Die Art, wie der Staat das Geld verteilt, ist auch ein Grund dafür, warum nicht mehr Beschäftigte zu Angestellten werden: Werkstätten verlieren Geld, wenn jemand geht. Denn die Anzahl der Beschäftigten entscheidet über die Finanzierung: Werkstätten müssen sich also fragen: Können wir uns das leisten?
Die Bundes-Arbeits-Gemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen sagt dazu auf Anfrage, dass der Besuch einer Werkstatt freiwillig ist. Werkstätten würden nicht selbst entscheiden, wer kommt, bleibt und geht – sondern Betroffene und die Behörden, die Werkstätten finanzieren.
Doch das Beispiel Hamburg zeigt, dass eine andere Finanzierung etwas verändern kann. Hamburg ist das einzige deutsche Bundesland, das Werkstätten seit 2005 nicht mehr vorrangig pro Beschäftigtem finanziert. Alle vier Jahre verhandelt die Behörde, die das Geld verteilt, mit den Werkstatt-Anbietern.
Wenn dann die Anzahl der Beschäftigten abnimmt, gibt es nicht sofort weniger Geld. Das ist für Werkstatt-Anbieter ein Anreiz, mehr Menschen in Anstellungen zu bringen. Hamburg ist eines von wenigen Bundesländern, in denen die Anzahl der Werkstatt-Beschäftigten im Schnitt seit zehn Jahren sinkt.
Hamburg zeigt, dass finanzielle Anreize etwas verändern können. Auch Bonus-Zahlungen an Werkstätten bei erfolgreicher Vermittlung sind ein Versuch, die Anreize zu verändern.
Aber das allein reicht nicht aus, sagt Inklusions-Forscher Stefan Doose. Er weist auf ein weiteres grundlegendes Problem hin: „Werkstätten sollen laut Gesetz Teilhabe ermöglichen, aber auch wirtschaftlich arbeiten. Wer will da schon seine besten Mitarbeiter gehen lassen?“ Denn: Werkstätten müssen das Taschengeld für alle selbst verdienen. Wer schnell und viel arbeiten kann, schafft mehr Aufträge in der Werkstatt.
Auch das Bundes-Sozial-Ministerium erkennt darin eine Spannung: „Die Werkstätten erfüllen neben der wirtschaftlichen Funktion auch eine rehabilitative sowie eine soziale Funktion. Dabei können auch Zielkonflikte auftreten.“
Dieser Sicht-Weise widerspricht Werkstatt-Geschäfts-Führerin Karla Bredenbals: „Wenn jemand bei uns sagt: ‚Ich kann die Person nicht abgeben. Wer soll denn die Arbeiten machen?‘, zählt das nicht.“ In den Verträgen ihrer Werkstatt mit Behörden gebe es Vorgaben für die Vermittlung in Anstellungen.
Doch auch Bredenbals, die Werkstätten verteidigt, wünscht sich eigentlich mehr Veränderung: „Wenn ich das machen könnte, dann würde ich unsere Werkstatt zu einem Teil des inklusiven Arbeitsmarktes machen.“ Aber eine Werkstatt zu einer inklusiven Firma machen, das sieht das Gesetz nicht vor.
Selbst-Zweifel nach Jahren in der Werkstatt
Die 54-jährige Werkstatt-Beschäftigte Petra Loose aus der Werkstatt von Bredenbals will mittlerweile selbst keine Anstellung mehr. Zweimal habe Loose für ein paar Tage ein Praktikum in Betrieben gemacht, mit denen ihre damalige Werkstatt gearbeitet hat, erzählt sie: „Das war für mich schwere körperliche Arbeit. Das kann ich nicht von meinem Rücken her.“ Weitere Versuche gab es laut Loose in 26 Jahren Werkstatt nicht.
Loose ist nicht die Einzige, die nach Jahren in der Werkstatt den Übergang in den allgemeinen Arbeits-Markt scheut. Die Bundes-Arbeits-Gemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen erklärt, dass dieses „Nicht-Wollen“ ein häufiger Grund dafür sei, dass wenige Werkstatt-Beschäftigte zu Angestellten werden: „Viele Beschäftigte fühlen sich in der Werkstatt wohl und wertgeschätzt.“ Wegen fehlender inklusiver Jobs außerhalb seien Werkstätten „nach wie vor unverzichtbar“ – nicht für alle Beschäftigten sei das “Erreichen der Erwerbs-Fähigkeit” möglich.
Doch gleichzeitig beeinflusst die lange Zeit in der Sonder-Welt oft das Selbst-Bewusst-Sein von Menschen mit Behinderungen – und zwar nicht immer positiv. Petra Loose selbst spricht etwa – wie Kolleg*innen mit und ohne Behinderungen – von „den Fitten“. Nur die Fitten können es schaffen, sagt sie. Sie sei nicht „fit“ genug. Das werde ihr oft vermittelt.
„Um es böse zu sagen: Das Prinzip ist, erst auszusondern und dann zu versuchen, mühsam und meist wenig erfolgreich wieder einzugliedern“, sagt Dieter Basener, 73 Jahre. Er hat früher selbst als Pädagoge in Werkstätten gearbeitet. Später gründete er Organisationen, die sich für berufliche Inklusion einsetzen.
Laut Basener haben Werkstätten nicht genug Anreiz, Menschen mit Behinderungen zu ermutigen, anstatt sie vor dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu warnen: „40 Jahre lang sind die Werkstätten gewachsen. Wachstum bedeutete für Werkstätten immer wirtschaftlichen Erfolg, aber auch Größe und Bedeutung“, sagt er.
Eine große Befragung von Werkstatt-Beschäftigten aus 2023 zeigt: Nur ein Drittel der Werkstatt-Beschäftigten wünscht sich den Wechsel auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Anders gesagt: Nur ein Drittel traut sich den Umstieg zu. Denn wer einmal am allgemeinen Arbeitsmarkt gearbeitet hat, hat größeres Interesse.
Außerdem nimmt der Wunsch immer mehr ab, je länger Personen in der Werkstatt sind. Das heißt: Je weiter die Menschen von Inklusion entfernt sind, desto größer sind die Ängste. Die Werkstatt von Loose betont, dass sie viele Programme hat, um die Persönlichkeits-Entwicklung und das Selbst-Bewusst-Sein ihrer Beschäftigten zu fördern.
In den letzten 30 Jahren ist die Anzahl der Werkstatt-Beschäftigten 15 Mal so stark gestiegen wie die Anzahl der Bevölkerung in Deutschland. Die Bundes-Arbeits-Gemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen erklärt den Anstieg damit, dass Behinderungen und psychische Erkrankungen häufiger geworden sind – seit 2020 sinke die Anzahl der Werkstatt-Beschäftigten außerdem leicht.
Im Jahr 1994 arbeiten rund 159 Tausend Menschen mit Behinderungen in Werkstätten.
Im Jahr 2023 arbeiten rund 260 Tausend Menschen mit Behinderungen in Werkstätten.
Aber der Anstieg bisher liegt auch daran, dass viele ins System reinkommen und wenige wieder raus. Werkstätten müssen sich um mehrere Aufgaben kümmern. Sie müssen selbst mit Aufträgen Geld verdienen und Arbeit für Menschen schaffen, die gerade keine Anstellung haben können oder wollen. Gleichzeitig sollen sie Übergänge in Anstellungen fördern. Laut Dieter Basener schädigen sich diese Aufgaben gegenseitig: „Die Aufträge passen nicht zusammen. Beides einer Institution zu geben, konnte nur scheitern.“
Außen-Arbeits-Plätze: Lösung oder Teil des Problems?
Ein Versuch, beide Aufträge umzusetzen, sind ausgelagerte Arbeitsplätze. Fast jeder zehnte Werkstatt-Beschäftigte in Deutschland arbeitet auf so einem Arbeitsplatz. Seit 2006 hat sich der Anteil mehr als verdoppelt.
Das bedeutet: Menschen mit Behinderungen arbeiten nicht in ihrer Werkstatt, sondern etwa in Firmen, Behörden, Hotels, Altersheimen oder Küchen. Bezahlt wird dafür die Werkstatt. Sie begleitet die Beschäftigten und zahlt ihnen weiter Taschen-Geld. Das soll am Ende auch Übergänge in Anstellungen fördern – tut es aber kaum.
Das bestätigt das Bundes-Sozial-Ministerium. Es will deshalb Fach-Dienste wie Access stärker einbinden. Außerdem soll es in Zukunft „verpflichtende Ziele“ für den Anteil der Werkstatt-Beschäftigten geben, die in ausgelagerte Arbeitsplätze und Anstellungen gebracht werden – ob diese Pläne trotz der früheren Neu-Wahl umgesetzt werden, ist unklar.
Ausgelagerte Arbeitsplätze ermöglichen mehr Teilhabe außerhalb des Sonder-Systems. Aber sie bringen keine gleichen Rechte oder gleiches Gehalt. Meist sind sie günstiger für Betriebe als klassische Anstellungen. Außerdem lassen sich Beschäftigte leichter austauschen als bei Anstellungen.
„Man ist rechtlich schlechter gestellt als jeder Leiharbeiter“, kritisiert der CDU-Politiker Hubert Hüppe. Der 67-Jährige ist einer der größten Kritiker von Werkstätten für Menschen mit Behinderungen im politischen Raum. An einem regnerischen Herbsttag sitzt er an seinem Büro-Schreibtisch im Bundestag in Berlin. „Die Sonder-Strukturen haben sich durchgesetzt und massiven politischen Einfluss gewonnen“, sagt Hüppe: „Die wollen Inklusion nicht. Denn Inklusion ist schlecht für das Geschäft.“
Die Bundes-Arbeits-Gemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen widerspricht dem Vorwurf entschieden: „Werkstätten entwickeln sich stetig weiter, wobei diese Entwicklung klar in Richtung einer Öffnung geht.“ Man verhindere Teilhabe nicht, sondern ermögliche sie erst.
Doch zumindest bei Menschen wie Sebastian Wirth muss man sich fragen, warum Werkstätten sie nicht öfter in Anstellungen vermitteln. Er hat jung einen Job gefunden und kann Vollzeit und selbstständig arbeiten. Doch was, wenn es anders ist und man wenig arbeiten kann und mehr Unterstützung braucht? Dann wird man beinahe bestraft, wenn man eine Anstellung findet.
Denn Werkstatt-Beschäftigte bekommen eine Erwerbs-Minderungs-Rente. Nach 45 Jahren in der Werkstatt erhält man rund 1300 Euro. Wer genauso lange für 35 Stunden Mindest-Lohn arbeitet, bekommt 500 Euro weniger Rente. Außerdem verlieren die Eltern von Werkstatt-Beschäftigten dann 250 Euro Kindergeld. Einfach gesagt: Der Wechsel in die Anstellung lohnt sich nicht immer.
Hinweis: Bei der Erwerbs-Minderungs-Rente gibt es eine Unterstützungs-Möglichkeit, mit der man sie auch bei einer Anstellung weiter bekommt – bald soll sie damit genauso hoch sein wie in der Werkstatt. Mehr dazu im nächsten Teil unserer Serie, in der es um Lösungen geht.
Doch Anstellung ist oft der schwierigere Weg. Die Werkstatt liefert ein Gesamt-Paket: Arbeit, Freizeit-Aktivitäten, Fahrt-Dienste, Pflege und Therapie, ein ganzes Team aus Fach-Kräften. Wer die Werkstatt verlässt, muss die Unterstützung erst neu organisieren – und oft auf viel verzichten können. Viele wagen den Weg nicht oder scheitern, weil der in die Werkstatt oft der leichtere ist.
Menschen mit Behinderungen sollen laut Bundes-Sozial-Ministerium ein „echtes Wahlrecht haben“, wie und wo sie arbeiten möchten: „Dazu muss es leichter und ohne Nachteile möglich sein, auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu wechseln“, erklärt das Ministerium.
Man wolle keine „Abschaffung“ von Werkstätten, sondern eine „Weiter-Entwicklung“ durch Änderungen für Werkstatt-Betreibende, Arbeitgeber*innen und Beschäftigte selbst. Aber auch wenn alle Pläne umgesetzt werden, gibt es weiterhin Hürden. Für dieselbe Unterstützung außerhalb vom Sonder-System müsste das Geld anders verteilt werden.
Dann gäbe es vielleicht mehr Menschen wie Sebastian Wirth. Für ihn war der Weg in die Anstellung die richtige Entscheidung. Er ist selbstbewusster geworden, erzählt sein Vater. Wirth gehört zum Team dazu, wie alle anderen. Alle paar Wochenenden geht er mit Kolleg*innen essen. „Die Leute machen den Unterschied“, sagt die Mutter Roswitha Wirth. Einen „Glücksfall“ nennt sie das.
Doch was muss passieren, damit Inklusion nicht mehr ein Glücksfall ist? Wie kann man den vorgezeichneten Weg in Sonder-Systemen aufbrechen? Diese Fragen stellen wir uns im nächsten und letzten Teil unserer Serie.
In ihm zeigen wir, welche Lösungen es schon heute in Deutschland gibt, damit berufliche Inklusion besser funktioniert – und welche weiteren Ideen es gibt.
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