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»Gerecht wäre auch, wenn der Sohn der Ärztin Tischler wird.«

26. Oktober 2022

Janet Kuschert arbeitet als Geschäftsführerin bei Sindbad. Mit andererseits spricht sie über Gerechtigkeit im Bildungssystem und darüber, warum wir das meiste außerhalb der Schule lernen.

Lesedauer: 5 Minuten

Interview von Luise Jäger und Artin Madjidi, unterstützt von Lisa Kreutzer

Artin Madjidi: Was bedeutet Chancengleichheit in der Bildung? 

Janet Kuschert: Chancengleichheit würde heißen, dass jedes Kind in Österreich die gleichen Chancen hat, alles zu werden, was es werden möchte. Das heißt, wenn ein Kind im Kindergarten sagt, es möchte gern Pilotin oder Arzt werden oder Tischlerin oder Koch, dann würde Chancengleichheit bedeuten, dass es genau die gleichen Möglichkeiten wie alle anderen Kinder hat, all das zu werden. Aber Chancengleichheit gibt es in Österreich leider nicht.

Luise Jäger: Warum gibt es die nicht?

Janet: Man sieht, dass Kinder häufig die gleiche Bildungslaufbahn haben wie die Eltern. Wenn man Eltern hat, die studiert haben, dann ist es viel wahrscheinlicher, dass man selbst auch studiert. Und wenn man Eltern hat, die nicht studiert haben, dann ist es viel wahrscheinlicher, dass man nicht studiert. Was aber gar nicht unbedingt daran liegt, dass man das selber nicht könnte. Das hängt damit zusammen, dass man eher das macht, was man kennt und wo einem jemand sagen kann, wie es geht. Wenn es niemanden gibt, der einem zeigt, wie studieren geht, wie das System mit der Universität funktioniert oder wie man sich für eine passende Schule oder Lehre entscheidet, ist es schwieriger.

interview von Artin mit Sindbad Geschäftsführerin

Artin: Wie war das bei dir?

Janet: Also meine Eltern zum Beispiel haben beide nicht studiert. Ich bin die erste in meiner Familie, die studiert hat und das war ganz schön schwierig. Wenn ich mich jetzt mit Freund*innen unterhalte, bei denen die Eltern studiert haben, merke ich: für die war es viel klarer, wie es funktioniert auf eine Universität zu gehen und sich einen Studiengang auszusuchen. Für mich war das alles ganz neu. Ich hatte zum Glück ganz viele Menschen, die mich dabei unterstützt haben, ganz alleine ist das total schwierig. Ich glaube aber auch nicht, dass alle Leute studieren müssen. Ich habe das Gefühl, dass oft gesagt wird: “Hauptsache man studiert oder”?  – das finde ich schwierig.

Luise: Warum findest du das schwierig?

Janet: Unsere Gesellschaft würde überhaupt nicht funktionieren, wenn alle Leute studieren würden. Und ich finde, da wäre es wichtig, dass man sich einfach anschaut, was man gerne macht, und zwar in alle Richtungen. Ich glaube nicht, dass alle Kinder von Eltern, die studiert haben, auch studieren sollten. Vielleicht wären die viel lieber Verkäufer*innen oder Kindergärtner*innen. Ich glaube, alle Menschen haben Talente. Jede*r kann irgendwas. Und jede*r macht irgendetwas gerne. Und ich finde es total wichtig, dass jede*r schauen kann, was das ist und das dann am besten auch machen kann. Das ist wichtig, damit man persönlich glücklich ist. Aber ich glaube, dass das auch für eine Gesellschaft ganz wichtig ist. Weil die Leute zufriedener sind und weil sie dann auch viel mehr zu der Gesellschaft beitragen. Ich werde viel besser sein in etwas, das ich gerne mache. Und ich werde mich viel mehr darum bemühen, das gut zu machen. Das Ziel muss sein, dass alle studieren können, aber dass genauso alle sagen können, sie möchten etwas anderes lernen. Dann sind wir, meiner Meinung nach, bei der Gerechtigkeit und Gleichheit angekommen, die für die Gesellschaft gut wäre.

Artin: Was beeinflusst die Bildungschancen in Österreich?

Janet: Das sind Faktoren wie: Welche Ausbildung haben deine Eltern, welche Sprache sprichst du zu Hause? Arbeiten deine Eltern und was machen sie beruflich? Können deine Eltern dich bei der Schulwahl unterstützen? Das alles beeinflusst deinen Bildungsweg. Wenn die Eltern dich gut unterstützen können, dann hast du auf jeden Fall mehr Chancen, als wenn das nicht der Fall ist. Was total schade ist, weil das Kind kann da ja nichts dafür. Und das heißt ja auch nicht, dass das Kind weniger kann oder weniger Potenziale oder Ideen oder Wünsche hat.

Artin: Kann man das ändern?

Janet: Wichtig wäre, sich auch anzuschauen, was für Leute es sonst noch in deinem Umfeld gibt. Ich finde man sollte Bildung ganzheitlicher denken. Wenn man zum Beispiel immer schon Fußball spielt und da ganz viele Leute kennenlernt, dann kann man auch von diesen Menschen lernen. Es gibt Studien, dass man fast Dreiviertel des Wissens, das man hat, nicht in der Schule lernt, sondern woanders. Deshalb wäre es sehr wichtig, dass man Bildung nicht nur in der Schule betrachtet, sondern auch darüber hinaus.

Redaktion: Clara Porak

Foto: Carolina Revertera

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