Ein gezeichnetes Mädchen spaziert mit ihrem Hund auf einem Ast.

Geschwisterlos

26. September 2020

  Schon seit zwei Tagen läuft in meinem Kopf das […]

 

Schon seit zwei Tagen läuft in meinem Kopf das nervtötende „Quit playing games with my heart“ in Dauerschleife. Höre ich ein Lied, das den unnachvollziehbaren Kriterien meines Kopfes entspricht, kann es sein, dass ich nicht nur damit einschlafe, sondern auch damit aufwache. Die momentane Nummer Eins meiner Ohrwurm-Charts stammt aus einem Video. Darin steht ein Freund, damals vielleicht acht Jahre alt, in der Mitte eines Raumes, ein Stock als Luftgitarre vor die Brust gespannt, seine kleine Schwester als Leadsängerin neben ihm (die außer „heart“ keine Zeile des Textes beherrscht), der kleine Bruder hüpft begeistert und konzeptlos um sie herum. 

Es sind Momente wie dieser, die mir in meiner Erinnerung fehlen. Denke ich an meine Kindheit zurück, sehe ich keine Tanzparties im Kinderzimmer, keine Momente, in denen man seinen Geschwistern den Kopf abreißen will. Stattdessen sind meine Erinnerungen introvertiert, irgendwie abstrakt, und bestehen meist nur aus meinen eigenen Monologen. Ich bin als Einzelkind aufgewachsen – “aber mit Hund”, füge ich manchmal dazu, wenn ich merke, dass jemand gleich an die Klischees denkt, die man so über Einzelkinder hat. Klischees, gegen die ich schon mein Leben lang ankämpfe. Eine Rolle, die sich irgendwie falsch anfühlt. 

Mittlerweile ist das zu einer wiederkehrenden Szene zwischen meinen Eltern und mir geworden: Wenn meine Tante erzählt, wie unterschiedlich ihre beiden Töchter sind, schaut mich meine Mutter an und sagt: “Jetzt wirfst du mir gleich wieder vor, dass du keine Geschwister hast.” Sie hat recht. Was heute als Halb-Witz zwischen uns steht, war lange ernst gemeint. Es gab wenige Wochen, in denen ich meine Mutter als Kind nicht nach Geschwistern gebeten habe. Selbst als Teenager habe ich mich noch heimlich danach gesehnt, auch wenn die Möglichkeit dafür in immer weitere Ferne rutschte. 

Ich habe Geschwistertum auf ein Podest gehoben und mir dafür sehr viel Bestätigung in meinem Umkreis gesucht. 
Wenn mir eine Freundin erzählt, dass sie zum ersten Mal Tante wird, bekomme ich einen Knoten im Hals.
Wenn ich mitbekomme, wie viel Sorge und Fürsorge in der Beziehung zwei befreundeter Schwestern steckt, werde ich neidisch. 
Wenn ein Freund seinem Bruder bei einer schwierigen Phase in seinem Leben hilft, will ich aufspringen, und anbieten, diese Rolle zu übernehmen. 
Wenn meine Großmutter ihre Schwester jeden Abend seit dem Tod ihres Mannes anruft, nur um für eine kurze Minute zu hören, ob es ihr gut geht, könnte ich weinen.

Ich will das auch, denke ich mir. Ich will Tante sein, Erinnerungen teilen, zukünftige Aufgaben übernehmen, fürsorglich sein, und gemeinsam mit jemanden über die eigene Familie lachen können. Wären manche Momente schöner, einfacher zu verstehen, aussagekräftiger über das Jetzt, könnte ich mich heut gemeinsam mit jemanden daran erinnern? Wären manche Situationen lustiger, wenn ich durch Blickaustausch mit jemand anderem darüber lachen könnte, jemand, der die Situation aus der gleichen Perspektive betrachten kann? 

Und dann sind da noch unschöne Sachen, die im Einzelkind-Dasein unweigerlich mitschwingen: Die Sorge, um die Eltern, wenn sie älter werden. Der Gedanke daran, alleine für unbequeme, familiäre Entscheidungen verantwortlich sein zu müssen. Die Verantwortung, die ich als Vertreterin dieser Kleinfamilien-Generation übernehmen muss. 

Als ich vor ein paar Jahren nach London ziehe, um ein neues Studium zu beginnen, schlägt der Zufall gleich am ersten Tag ein. Es ist eine dieser Begegnungen, bei denen man weiß: Das wird halten. Vielleicht ein Studium, vielleicht ein Leben lang. Am zweiten Tag macht mein Gefühl Sinn. Silvia ist auch ein Einzelkind. Sie kennt die gleichen Konflikte und Sorgen: Die überproportionale Aufmerksamkeit der Eltern, die manchmal erdrückend sein kann. Die fehlenden, geteilten Erinnerungen. Und vor allem eines: Den Kampf mit dem Alleinesein. Das Wissen, dass niemand biologisch dazu gezwungen ist, für einen da zu sein. Oder auf dem die gesellschaftliche Erwartung liegt, das zu tun. In den nächsten Jahren werden wir viel darüber reden, uns gegenseitig den Spiegel vorhalten. Wie spät gefundene Schwestern füreinander sein. Wir werden einen Pakt schließen, dass wir Tanten für unsere jeweiligen Kinder sein werden. Und wir werden versuchen zu verstehen, ob es wirklich stimmt, dass wir wirklich nicht allein sein können, oder ob wir unsere Vergangenheit einfach falsch interpretieren. 

Ich zwinge mich also dazu, mich aktiver zu erinnern, Szenen, nicht nur vergangene Gedanken in den Sinn zu rufen. Wie ein Geist hänge ich im Türrahmen, sehe mich selbst beim Spielen, eine Armee an kleinen Tierfiguren sorgfältig auf dem Kinderzimmerboden platziert. Nicht unglücklich, aber alleine. 

Würde ich meine Eltern nach einer typischen Szene aus meiner Kindheit fragen, würden sie nicht von diesem Moment erzählen, sondern von den unzähligen Freunden und Freundinnen, die sich jeden Tag bei uns im Garten versammelt haben. Von den Ausflügen, die ich schon im Volksschulalter unternommen habe, zur Oma ins Tiroler Unterland oder in den Wald mit Hundebegleitung. Auch das alleine, aber entschlossen, mir selbst als Begleitung. 

Und dann taucht plötzlich eine Erinnerungen auf, mit der ich mir das auch selbst beweisen kann: Wir sind am Strand in Spanien. Meine Eltern lesen in der Sonne, ich schnorchel bis zur Fingerkuppen-Aufweichung im Meer herum. Am Strand steht ein Mann in Tauchermontur umringt von einer Schar Kinder. Ohne zu überlegen stelle ich mich dazu, will ohne ein Wort Spanisch zu sprechen, Teil des Moments sein. Er hat Seeigel aus dem Wasser getaucht, diese mit einem Stein aufgebrochen und präsentiert auf seinen Handflächen eine weiße, schleimige Masse in einer sich noch bewegenden Schale. Von Neugier angetrieben greife ich mit Selbstverständlichkeit danach und bin die erste, die die salzige Delikatesse probiert. Die anderen Kinder schauen mich ungläubig an und machen es mir nach. Ich schaue mich nicht nach Bestätigung um, teile den Moment nur mit mir selbst, und bin sehr zufrieden. 

Heute weiß ich, dass ich eigentlich sehr gerne alleine bin, mich aber dazu zwingen muss. Warum? Weil das sich-mit-sich-selbst-beschäftigen für die längste Zeit eine Norm und Konstante meines Lebens war, die, sobald ich sie nach dem Zuhause-Ausziehen brechen konnte, auch verbannt wurde. Sie wieder zur Norm zu machen, wäre eine Niederlage, denke ich über einen langen Zeitraum hinweg. 

Aber ich weiß auch, dass ich da einiges verwechselt habe. Das Alleinsein in meiner Kindheit, das war eigentlich eine Festigung meiner Selbstständigkeit. Der Kampf gegen das Alleinsein eigentlich ein Kampf gegen Unsicherheiten. Und der Wunsch nicht mehr allein zu sein, eigentlich ein Wunsch danach Fürsorge zu geben. 

Ich sitze immer noch im Wartezimmer und meine Augen öffnen sich wieder. Ich schlendere bewusst durch die Realität einer Person, die alleine reist und sich auf dem Weg nicht langweilt, gar nicht richtig weiß, was Langeweile ist. Die ihre Eltern als eigenständige Menschen und Freunde kennenlernen durfte und Gewand mit ihrer Mutter, nicht mit ihrer Schwester teilt. Die sich bewusst oder unbewusst viele Freunde ausgesucht hat, die aus großen Familien kommen und auch in diese inkludiert wurde. Freunde, die heute auch selbst Kinder haben, die mich “Tante Kathi” nennen. Eine Person, die aus Angst je ein „Einzelkind-Klischee“ zu erfüllen, immer das Gegenteil beweisen wollte. Ich glaube ich war erfolgreich. 

Text: Katharina Kropshofer
Illustration: Steffi Frossard
Fotografie: Irene Ungerboeck