Im Stich gelassen

Long Covid kann für Kinder schlimme Folgen haben. Nicht nur für ihre Gesundheit, sondern auch für ihre Entwicklung. Passende Hilfen gibt es kaum.
Marlene sitzt am Boden uns schaut auf ihre Zeichnung. Man sieht sie von der Seiten. Licht fällt durch ein Fenster hinein

Geschrieben von

Mitarbeit: Bianca Riedmann

Sophie liegt neben ihrer Mutter Sabine in eine Decke gewickelt auf dem Sofa. Es ist dunkel in dem Raum, die Jalousien des Fensters neben ihr sind bis auf einen Spalt heruntergelassen. Sophie hat blonde lange Haare. Ihre blauen Augen sehen müde aus. Sie spricht leise und wenig. Das meiste erzählt ihre Mutter Sabine Messner-Freystetter: “Sophie muss ihre Kraft gut einteilen. Nur nicht zu viel Anstrengung. Das haben wir mittlerweile gelernt.”

Ein halbes Jahr nachdem Sophie mit der Schule begann, kam die Corona Pandemie und der erste Lockdown. Ein Jahr später Sophies Covid-Infektion, von der sie sich bis heute nicht erholt hat. Heute ist sie zehn Jahre alt. “Meine Tochter war eigentlich noch nie richtig in der Schule.” sagt ihre Mutter. Denn Sophie hat Long Covid. Seit sie vor drei Jahren Corona hatte, leidet sie unter starker Erschöpfung. Sie hat oft Kopfschmerzen und kann sich nicht lange konzentrieren. Sophies Körper ist schwach. Sie kann kaum gehen und nutzt einen Rollstuhl.

Laut einer Studie aus dem Jahr 2020 haben elf Prozent der Kinder, die Corona hatten, auch Long Covid Symptome. Diese Kinder hatten mindestens vier Wochen nachdem sie sich angesteckt haben, noch körperliche Beschwerden. Zahlen dazu, wie viele Kinder in Österreich auch noch Monate oder Jahre nach der Infektion krank sind, gibt es nicht.

Viele dieser Kinder leben isoliert und verlieren den Anschluss. Dass sie kaum zur Schule gehen können und sich mit Gleichaltrigen austauschen, hat schwerwiegende Folgen für ihre Entwicklung. Passende Hilfen, um sie wieder einzubinden, gibt es bisher nicht. Und noch immer wird die Krankheit nicht ernst genommen. Wie kann das sein?

Auch die zehnjährige Marlene aus Wien hat seit zwei Jahren Long Covid. Anfang März sitzt sie mit ihren Eltern am Esstisch in ihrer Wohnung im Westen von Wien. Sie ist ruhig und wirkt etwas müde. Aber Marlene ist auch wütend. Sie erzählt viel über ihre Erlebnisse. Sie hakt immer wieder ein, um ihre Perspektive von den Erzählungen ihrer Eltern zu teilen.

Wenn man nicht weiß, dass Marlene krank ist, würde man es vielleicht nicht sofort merken. Doch auch Marlene kann sich immer nur kurz konzentrieren, sitzen oder aktiv sein. Danach muss sie sich wieder hinlegen. Meistens hat sie auch Kopfweh oder ihr ist schwindlig. “Ganz gut geht es mir eigentlich nie.” sagt sie.

Kinder-Zimmer statt Klassen-Raum

Wie Sophie war auch Marlene seit ihrer Covid Infektion kaum mehr in der Schule. Der Schulweg und der Unterricht sind für sie sehr anstrengend. Nach ein paar Stunden in der Schule, ist Marlene noch lange danach geschwächt: “Ich weiß, dass ich, wenn ich einen Tag in die Schule gehe, danach erstmal einen Monat nicht hingehen kann.”, sagt sie. In der Anfangs-Phase ihrer Erkrankung war Marlene zwei bis drei Mal pro Woche in der Schule. In diesem Schuljahr war sie insgesamt nur drei Mal dort.

Wie viele Kinder in Österreich wegen Long Covid nicht in die Schule gehen können, weiß niemand. Für Gerhard Weiß ist die Datenlage ein Problem für viele Betroffene: “Wir kriegen die medizinischen Daten nur auf freiwilliger Basis der Eltern.” Weiss arbeitet für die Bildungs-Direktion Wien im Bereich Inklusion, Diversität und Sonder-Pädagogik. Er sagt: Die Dunkelziffer der Kinder, die von Long Covid betroffen sind, ist hoch. Vor allem bei Jugendlichen, die nicht mehr schulpflichtig sind. Die würden oft einfach nicht mehr in die Schule kommen: “Da weiß dann niemand, dass das wegen Long Covid ist. Diese Menschen steigen einfach aus.”

Ein Mädchen sitzt mit dem Rücken zur Kamera vor einem Fenster und blickt nach draussen.

Dr. Anna-Maria Cavini ist psycho-therapeutische Kinderärztin. Sie kennt sich mit Long Covid bei Kindern besonders gut aus. Sie sagt, es habe schwere Folgen, wenn Kinder so allein leben: “Ich glaube, dass vielen Menschen nicht bewusst ist, was diese Isolation mit den Kindern anstellt. Wenn Kinder nicht am sozialen Leben teilhaben, verursacht das einfach ganz dramatische Löcher in der Entwicklung, die später ganz schwer zu stopfen sind.” Die Auswirkungen sind dabei unterschiedlich. Im Volksschul-Alter sei es zum Beispiel besonders wichtig, dass die Kinder neugierig sein dürfen und Freude daran haben zu lernen. “Sonst kann es sein, dass es einem später sehr schwer fällt etwas Neues zu lernen.” Außerdem lernen Kinder in diesem Alter mit Konflikten umzugehen, sagt Calvini. Dass die Kinder den Schulstoff lernen, sei oft nebensächlich.

Geburtstags-Partys, die erste Klassenfahrt, ein Streit mit der Sitznachbarin – all das ist für Marlene und Sophie nicht möglich. Deshalb, sagt Dr. Calvini, sei es besonders wichtig, dass Kinder Austausch mit Kinder im gleichen Alter haben – auch online. “Es macht einen riesigen Unterschied, wenn Kinder zumindest manchmal ein paar Minuten mit ihren Freund*innen telefonieren können. Oder wenn sie per Video zum Schul-Ausflug mitgenommen werden.”, erklärt sie. “Kinder sollen das Gefühl haben, Teil einer Gruppe zu sein.”

Ein Roboter soll helfen

Das Gefühl dazuzugehören, soll Kindern wie Sophie und Marlene ein Roboter vermitteln. Die beiden verwenden einen sogenannten Schul-Avatar. Ein Plastik-Kopf, auf einem angedeuteten Oberkörper. Auf der glatten, weißen Oberfläche leuchten die Augen aus kleinen weißen Punkten. Mal zwinkert der Roboter, dann senkt er den Kopf langsam auf und ab. Sophie und Marlene können den Roboter von zu Hause aus mit ihrem Tablet steuern. Er nimmt dafür ihren Platz in der Schule ein. Er hat eine Kamera eingebaut und überträgt den Unterricht auf ein Tablet, das die Kinder zuhause haben. Auch miteinander sprechen kann man über den Schul-Avatar.

Doch Marlene kommt mit dem Schul-Avatar nicht zurecht, erzählt ihr Vater: “Mittlerweile verwenden wir ihn kaum noch.” Das Problem: Der Avatar überträgt alle Geräusche in der Klasse gleich laut. Außerdem ist es schwer zu hören, aus welcher Richtung ein Geräusch kommt. Marlene ist sehr

empfindlich auf Reize. Die verschiedenen Geräusche und das helle Licht des Bildschirms überfordern sie.

Gerhard Weiß von der Bildungs-Direktion hält den Avatar grundsätzlich für eine gute Lösung. Ein Problem sei jedoch, dass viele Kinder mit Long Covid mit dem Roboter überfordert seien. “Wir arbeiten immer an Verbesserungen. Aber was man nicht beeinflussen kann, ist die soziale Situation in der Klasse. Da gibt es immer wieder Probleme, weil die Kinder natürlich auch schnell vergessen, dass der Avatar läuft und Neben-Geräusche mit übertragen werden.” Er sagt, dass dabei viel von dem Wissen der Lehrpersonen abhängt. “Die sind von der Situation aber oft überfordert.” In Marlenes alter Schule weigerte sich ihre Lehrerin sogar ganz, den Schulavatar zu verwenden.

Auch die Mitschüler*innen wurden schlecht informiert. “Es kamen dann so Sprüche wie ‘Aber du warst ja gestern mit deiner Mutter mit dem Roller unterwegs, warum bist du heute nicht in der Schule?’” Marlene wurde gemobbt, entwickelte eine Schulangst und musste schließlich die Schule wechseln. Wir haben die Direktorin von Marlenes alter Schule gefragt, wie dort mit Schul-Avataren und Long Covid umgegangen wird. Sie wollte dazu nicht Stellung nehmen.

“Es braucht eine grundlegende Veränderung der Struktur und mehr Ressourcen.”, sagt Gerhard Weiss. “Man sagt immer, die Kinder haben ein Anrecht auf Inklusion, aber wir machen mit dem System so weiter, wie es bisher ist. Das funktioniert einfach nicht.” Für Marlene und Sophie hat das schwerwiegende Folgen – es bedeutet, dass ihre einzige Möglichkeit, aus der Isolation zu kommen und am Klassen-Alltag teilzuhaben, nicht funktioniert.

Unterricht zu Hause

Die Lehrer*innen an Marlenes neuer Schule bemühen sich, den Avatar einzusetzen. Trotzdem ist es für Marlene fast unmöglich, dem Unterricht nur mit dem Schul-Avatar zu folgen. Momentan wiederholt Marlene freiwillig die vierte Klasse Volksschule.

Marlenes Eltern denken, dass ihr Haus-Unterricht helfen würde. Dabei würde eine eigene Lehrerin Marlene online den Schul-Stoff beibringen. Doch solche Angebote sind teuer und werden von der Stadt Wien nicht unterstützt. “Das liegt daran, dass das Landesgesetze sind. In Wien fehlt für die finanzielle Unterstützung einfach die rechtliche Grundlage.”, erklärt Gerhard Weiß.

Doch auch wenn es ein passendes Gesetz gäbe, würden Lehrer*innen fehlen, sagt Weiß. Die Umsetzung eines solchen Angebots wäre also ein langer Weg. “Das heißt, es muss einmal gesetzlich auf den Weg gebracht werden, dann kann man mit einer Ausbildungs-Schiene beginnen, die es in den anderen Bundesländern auch gibt. Das würde mehrere Jahre dauern.”

In Niederösterreich, wo Sophie mit ihrer Familie lebt, wird Haus-Unterricht gefördert. Doch Sophie nimmt ihn gerade nicht in Anspruch. Momentan geht Sophie selten, aber doch manchmal noch in die Schule. “Wir wollen nicht, dass Sophie komplett von der Außenwelt abgeschieden ist.”, sagt ihre Mutter. “Wenn sie keiner Klasse zugehört, dann ist sie ja ganz verschwunden aus dem System.”

Fehlendes Bewusstsein

Warum gibt es noch keine besseren Lösungen dafür, Kindern mit Long Covid zu helfen? Für Weiß ist ein großes Problem, dass Long Covid immer noch ein Rand-Thema ist: “Viele Menschen denken, dass Betroffene übertreiben. Sie denken, dass Long Covid mit Eigeninitiative und Disziplin zu heilen wäre.” Er sagt: “Dass die Anerkennung dieser Krankheit in der Gesellschaft generell gering ist, zeigt sich auch in der Schule. Wenn Kinder dazwischen für zwei bis drei Stunden normal am Schul-Unterricht teilnehmen, verstehen Lehrpersonen oft nicht, warum das Kind dann am nächsten Tag fehlt. Es braucht noch sehr viel Aufklärungs-Arbeit.”

Sophies Mutter setzt sich für bessere Informationen über Long Covid bei Kindern ein. Sie ist die Vertreterin der Gruppe “Long Covid Kids” Österreich. Eine ihrer wichtigsten Forderungen ist eine zentrale Anlaufstelle für Betroffene von Long Covid und ME/CFS, die den Bedürfnissen angepasst ist. “Es gibt keine offiziellen Anlaufstellen in ganz Österreich, obwohl diese Erkrankung seit 1969 bekannt ist.”, kritisiert sie. Und bis heute ist die Daten-Lage schlecht.

Für Marlene ist dieses Unverständnis ein Problem: “Manche denken, dass ist eine Depression oder Einbildung. Oder dass es weggeht, wenn man hartes Training macht.”

Ähnlich erlebte es Sophie. Sie wurde mehrmals in der Schule ohnmächtig und landete schließlich mit einem Krampfanfall im Spital. Ihre Ärzt*innen vermuteten dahinter zuerst psychische Ursachen. Auch die Behandlungen, die Sophie anfangs bekam, sagt ihre Mutter, verschlechterten ihren Zustand nur. Sie sagt, es fehle das Verständnis für die Krankheit. “Wenn ich mit Sophie draußen bin, sieht man zwar, dass sie im Rollstuhl sitzt. Aber wenn sie nicht raus kann, dann sind wir einfach nur abwesend. Man sieht nicht, wie die Krankheit hinter verschlossener Tür wütet.”

Text und Fotos: Anika Haider

Redaktion: Lisa Kreutzer

Lektorat: Claudia Burnar

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