Text: Lisa Kreutzer (andererseits)
Diese Recherche ist in Zusammenarbeit mit der Investigativ-Plattform DOSSIER entstanden
Vielleicht ist es ja einfach so. Vielleicht ist es die Natur des Menschen: Er liebt es, im angenehmen Bereich des Bekannten zu bleiben. Vielleicht umgeben sich Menschen am liebsten mit Menschen, deren Leben so nah wie möglich am eigenen ist. Weil sie sich dann nicht damit auseinandersetzen müssen, dass wir alle Menschen sind und in unserer Gesellschaft doch so unterschiedliche Chancen haben. Vielleicht ist das ein Teil der Antwort auf die Frage, warum es in Österreich zwar rund 1,4 Millionen Menschen mit Behinderungen gibt, aber Menschen ohne Behinderungen in ihrem Alltag fast nie mit ihnen in Kontakt kommen.
Wenn Sie oder Ihre Familien-Mitglieder keine Behinderungen haben, geht es Ihnen vielleicht wie mir. Lange habe ich geglaubt: Das ist alles ein großer Zufall. Dass ich zu keinem meiner Geburtstage eine·n Freund·in mit Behinderungen eingeladen habe. Dass Menschen mit Behinderungen in keiner Klasse mit mir waren, in keinem Verein. Dass ich niemanden kannte, den ich überhaupt hätte einladen können.
Doch seit ich bei andererseits inklusiv arbeite, habe ich gelernt: Das ist kein Zufall, es ist ein System. Ein System, das Menschen mit und Menschen ohne Behinderungen voneinander trennt.
Diese Trennung beginnt früh. Schon der Start in die Bildungs-Laufbahn verläuft für viele Familien mit Kindern mit Behinderungen mehr als holprig. Es fehlt an entsprechend ausgestatteten Kindergarten-Plätzen. Momentan warten allein in Wien rund 850 Kinder mit Behinderungen auf einen solchen Platz – manche jahrelang, weil es keinen Rechtsanspruch darauf gibt.
In der Schule lernen viele Kinder mit Behinderungen in Sonderschulen, getrennt von Kindern ohne Behinderungen. Obwohl genau diese Trennung laut den Vereinten Nationen (UN) die Menschenrechte verletzt, ist keine Änderung in Sicht. Viele Schulgebäude sind nach wie vor nicht barrierefrei, genauso wie der Unterricht. Es gibt zu wenige für inklusiven Unterricht ausgebildete Lehrer·innen. Und Kinder mit Behinderungen ab 14 Jahren haben keinen Rechtsanspruch darauf, eine inklusive Schule zu besuchen.
Wenn sich Kinder mit und ohne Behinderungen nicht treffen, können sie nicht gemeinsam heranwachsen, Freundschaften schließen und gemeinsame Interessen entwickeln. Das hat Auswirkungen auf den Rest ihres Lebens.
Es gibt eine Studie über Nachbarschaften in Deutschland: In den Bezirken, in denen die wenigsten Menschen mit Migrations-Geschichte wohnen, gibt es die meisten Vorurteile. Das gilt für viele Gruppen. Schon in den 1950er-Jahren beschrieb der amerikanische Psychologe Gordon Allport das mit seiner Kontakt-Hypothese – also der Annahme, dass Vorurteile zwischen Gruppen abnehmen können, wenn sie Kontakt auf Augenhöhe haben.
Wenn Menschen mit und ohne Behinderungen nicht von Anfang an einen normalen Umgang miteinander lernen, wird es im Laufe der Jahre immer schwieriger. Vorurteile verstärken sich, man geht weniger offen aufeinander zu. Kein Kontakt führt zu Berührungs-Ängsten.
Nach der Schulzeit hören die Probleme nicht auf. Später, bei der Arbeitssuche oder auf der Uni, stoßen Menschen mit Behinderungen wieder auf Barrieren. Und auf dem ersten Arbeitsmarkt haben viele kaum Chancen.
Die Trennung von Menschen mit und ohne Behinderungen ist auch das Ergebnis der Art und Weise, wie wir unsere Gesellschaft gestalten. Eine Gesellschaft, in der Leistung als einer der wichtigsten Werte gilt. In der der Wert von Menschen danach bemessen wird, wie »nützlich« sie in unserem Wirtschaftssystem sind.
Das führte etwa auch dazu, dass über Frauen mit Behinderungen hinweg entschieden wurde, ob sie Kinder haben durften oder nicht: In Österreich war es bis in die 1990er-Jahre legal, sie gegen ihren Willen zu sterilisieren.
Und es führt dazu, dass bis heute politische Entscheidungen nach einem veralteten Bild von Behinderung getroffen werden. Die UN-Behindertenrechts-Konvention beruht auf dem sozialen Modell der Behinderung. Es besagt: Menschen sind nicht behindert, sie werden behindert. Weil Systeme nicht für ihre Bedürfnisse gemacht sind. Sondern nur für die Mehrheit.
Demgegenüber steht das medizinische Modell von Behinderung, das sich auf Diagnosen und angebliche Schwächen von Menschen konzentriert. In Österreich wird im jungen Alter geprüft, ob Personen »arbeitsfähig« sind. Dieses Vorgehen beruht bis heute auf dem medizinischen Modell. Denn bei dieser Prüfung wird besonders darauf geachtet, was ein Mensch nicht kann.
In Wahrheit ist es also kein Zufall, dass ich jahrelang keine Menschen mit Behinderungen zu meinen Geburtstagen eingeladen habe. Kein Zufall, dass Menschen mit und ohne Behinderungen so selten aufeinandertreffen. Es ist ein System, das Menschen mit und Menschen ohne Behinderungen voneinander trennt.