Kein Ausgleich am Arbeitsmarkt

DOSSIER und andererseits machen erstmals öffentlich, welche Firmen und Organisationen Menschen mit Behinderungen anstellen und welche nicht. Die Recherche zeigt: Österreichs Politik und Arbeitgeber·innen versagen bei der Inklusion.

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Text: Georg Eckelsberger (DOSSIER)
Mitarbeit: Emilia Garbsch (andererseits), Armin Nadjafkhani (DOSSSIER), David Kizito Winter (DOSSSIER)

Diese Recherche ist in Zusammenarbeit mit der Investigativ-Plattform DOSSIER entstanden.

Menschen mit Behinderungen haben in Österreich heute weniger Chancen, Arbeit zu finden, als vor fünfzehn Jahren. Das ist ein schlechtes Zeugnis für Österreichs Arbeitgeber·innen. Aber auch für die Politik: Denn damals, im Jahr 2008, hat sich Österreich verpflichtet, die UN-Behindertenrechts-Konvention umzusetzen. Darin steht auch das Recht auf einen inklusiven, also einen für alle zugänglichen Arbeitsmarkt. Von diesem Ziel ist Österreich heute noch weiter entfernt als damals. Wie kann das sein?

Um das herauszufinden, haben DOSSIER und andererseits ein halbes Jahr lang recherchiert. Wir haben mit Beschäftigten und mit Unternehmer·innen gesprochen. Wir haben Expert·innen gefragt, zuständige Politiker·innen konfrontiert und Archive durchstöbert. Und wir haben eine lange Liste ausgewertet, die uns zugespielt wurde. In dieser Liste steht, welche Firmen und Organisationen in Österreich Menschen mit Behinderungen anstellen und welche nicht. Erstmals können wir so ein umfassendes Bild zeigen: von den Chancen und Hürden für Menschen mit Behinderungen auf Österreichs Arbeitsmarkt.

Wirkungslose Werkzeuge

Unsere Recherchen zeigen, dass die vorhandenen Werkzeuge für Inklusion am Arbeitsmarkt nicht wirken. Es gibt in Österreich zwar eine gesetzliche Pflicht für größere Firmen, Menschen mit Behinderungen anzustellen. Doch die meisten halten sich nicht daran. Sie bezahlen stattdessen eine Ausgleichstaxe (das Wort ist unten bei »Wichtige Wörter« erklärt).

Mit dieser Zahlung, die Menschen mit Behinderungen zugutekommt, sollen die Firmen ausgleichen, dass sie nicht inklusiv sind. Manche sehen in der Ausgleichstaxe auch eine Art Strafe für Arbeitgeber·innen, die zu wenige Menschen mit Behinderungen einstellen. Diese Ausgleichstaxe ist das wichtigste Werkzeug des Staates, um zu erreichen, dass mehr Menschen mit Behinderungen Arbeit finden.

Doch das Werkzeug ist weitgehend wirkungslos: Nur eine von vier Firmen und Organisationen ­beschäftigt ausreichend Menschen mit Behinderungen. Drei von vier erfüllen die Pflicht hingegen nicht und zahlen stattdessen Ausgleichstaxe. Dieser Wert hat sich seit 2008 kaum verändert. Deshalb ­kritisieren Expert·innen das System.

Eine Frage des Geldes

292 bis 435 Euro müssen Unternehmen in Österreich pro nicht besetzte Pflichtstelle im Monat bezahlen – größere zahlen mehr als kleinere. Zum Vergleich: In Deutschland wird die Ausgleichs-Abgabe nächstes Jahr auf bis zu 720 Euro pro Monat erhöht. »Die Ausgleichstaxe ist in ­Österreich sehr niedrig«, sagt Erich Schmid, Vize-Präsident des Österreichischen Behinderten-Rates. Wir haben bei Österreichs Minister für Arbeit und Wirtschaft Martin Kocher (ÖVP) nachgefragt. Auch er findet eine Änderung sinnvoll: Statt die »Strafen« zu erhöhen, würde er lieber Arbeitgeber·innen stärker belohnen, die Menschen mit Behinderungen beschäftigen. Doch Kocher ist für das Thema nicht zuständig.

Die Ausgleichstaxe fällt in die Verantwortung von Sozial-Minister Johannes Rauch (Grüne). Rauch hat sich keine Zeit für ein Interview mit uns genommen. Ein bereits zugesagtes Interview hat er kurzfristig abgesagt. Rauch hat unsere Fragen schriftlich beantwortet: Es sei ihm »sehr wichtig, dass Menschen mit Behinderungen – so wie alle Menschen in Österreich – in allen Bereichen des Lebens teilhaben können. Um das möglich zu machen, gibt der Staat jedes Jahr sehr viel Geld aus«, schreibt Rauch. Die Frage, ob die Ausgleichstaxe geändert werden soll, beantwortet er nicht konkret: Es sei geplant, eine Arbeitsgruppe einzurichten. »Dabei soll dann auch geprüft werden, ob das jetzige System der Ausgleichstaxe geändert werden soll«, schreibt Sozial-Minister Rauch.

Expert·innen, die die Interessen von Behinderten vertreten, kritisieren, dass die Politik bei der Inklusion nicht schnell und entschlossen handelt. »Dieser Wille in der Politik zur Inklusion, der ist letztlich noch nicht vorhanden«, sagt Erich Schmid vom Behinderten-Rat.

Eine alte Diskussion

Das Problem ist nicht neu. Erste Zeitungs-Berichte über die Ausgleichstaxe gab es bereits im Jahr 1955. Schon damals kritisierte der Rechnungshof, der das Handeln der Verwaltung überwacht, »die verhältnismäßig niedrige Ausgleichstaxe«. Das sei ein Grund für die »mangelnde Bereitstellung von Arbeitsplätzen für Invalide« – also Menschen, die im Krieg verletzt wurden und bleibende Behinderungen hatten. Seither haben sich die Begriffe geändert: Aus dem Invaliden-Einstellungs-Gesetz wurde das Behinderten-Einstellungs-Gesetz. Die Kritikpunkte blieben über die Jahre dieselben.

Zwei Jahre später, 1957, forderte auch der spätere Nationalrats-Präsident Anton Benya (SPÖ): Die »Ausgleichstaxe muss erhöht werden«, denn »viele Arbeitgeber sind sehr gerne bereit, sich mit 900 Schilling von ihrer Verpflichtung gegenüber dem Staate und gegenüber den Invaliden loszukaufen«.

1983 kritisierte die ÖVP-Politikerin Marilies ­Flemming, dass auch die Politik und die Verwaltung nicht genügend Menschen mit Behinderungen einstellen: Bund, Länder und Gemeinden kämen noch immer nicht ihrer Verpflichtung nach, je 25 Beschäftigte eine Person mit Behinderungen einzustellen, so Flemming. Damals hätten allein die Bundesländer Wien, Niederösterreich und das Burgenland jährlich 50 Millionen Schilling an Ausgleichstaxe bezahlt, rechnete sie vor.

Zumindest das hat sich geändert: Wie die Auswertung von DOSSIER und andererseits zeigt, erfüllten 2020 bis auf Vorarlberg alle Bundesländer die Beschäftigungs-Pflicht (das Wort ist unten bei »Wichtige Wörter« erklärt). Vorarlberg hingegen musste hochgerechnet mehr als 600 Tausend Euro Ausgleichstaxe zahlen. Der Grund dafür ist, dass Vorarlberg im Bereich der Schulen viele Pflichtstellen nicht besetzt hat, schreibt die Landes-Regierung auf Anfrage.

Fortschritt und Stillstand

Insgesamt ist der Anteil der Firmen und Organisationen, die genügend begünstigte Behinderte (das Wort ist unten bei »Wichtige Wörter« erklärt) beschäftigen, über die Jahre gleich geblieben: Nur eine von vier Firmen oder Organisationen erfüllt die Verpflichtung. Die Recherche von DOSSIER und ­andererseits zeigt erstmals auf, wer die Vorbilder und wer die Nachzügler sind.

Ganz vorn dabei sind etwa Organisationen wie die Arbeiter-Kammer oder der Österreichische Gewerkschafts-Bund. Beide vertreten die Interessen von Arbeitnehmer·innen. Sie haben mehr Menschen mit Behinderungen eingestellt, als sie müssten. Ein weiteres positives Beispiel: Die Supermarkt-Kette Billa bemüht sich intensiv darum, Menschen mit Behinderungen anzustellen. Billa liegt bei den Supermärkten klar auf Platz eins – auch wenn die Firma die Beschäftigungs-Pflicht nicht erfüllt.

Zu den Nachzüglern zählen überraschenderweise auch die beiden aktuellen Regierungs-Parteien: Sowohl die Grünen als auch die ÖVP erfüllten die Beschäftigungs-Pflicht 2020 nicht. Die Grünen verwiesen darauf, dass sich die Partei mittlerweile verbessert hat. Die ÖVP-Bundespartei hat unsere schriftliche Anfrage dazu nicht beantwortet. Der Minister für Arbeit und Wirtschaft Martin Kocher, der für die ÖVP in der Regierung sitzt, sollte also bei den eigenen Kolleg·innen beginnen, wenn er wie in unserem Interview fordert: »Wir müssen gemeinsam noch viel stärker das Bewusstsein dafür schaffen, dass wir Aufholbedarf haben und besser ­werden müssen.«

Wichtige Wörter

Beschäftigungs-Pflicht

In Österreich müssen größere Arbeitgeber·innen -Menschen mit Behinderungen anstellen. Das nennt man Beschäftigungs-Pflicht. Sie steht im Behinderten-Einstellungs-Gesetz. Die Beschäftigungs-Pflicht besagt: Eine von 25 Personen in einem Team muss als »begünstigt behindert« gelten. Wenn zum Beispiel 50 Personen in einer Firma arbeiten, muss die Firma zwei begünstigte Behinderte beschäftigen. Dann hat die Firma zwei Pflichtstellen. Nicht wichtig für die Erfüllung der Beschäftigungs-Pflicht ist, wie viele Stunden pro Woche die begünstigten behinderten Menschen arbeiten.

Illustration: Kopf und Oberkörper von 25 Menschen sind in Fünfer-Reihen skizziert. Eine Person ist rosa eingekringelt.

Begünstigte Behinderte

Für die Beschäftigungs-Pflicht zählen nur »begünstigte behinderte« Menschen. In Österreich stellt eine Behörde des Sozial-Ministeriums fest, ob jemand »begünstigt behindert« ist. Voraussetzung ist ein Behinderungs-Grad von mindestens 50 Prozent. Ärzt·innen stellen den Grad der Behinderung fest. Wer als begünstigte·r Behinderte·r anerkannt ist, hat einen höheren Kündigungsschutz, mehr Urlaubstage und Anrecht auf Förderungen.

Ausgleichstaxe

Unternehmen, die die Beschäftigungs-Pflicht nicht erfüllen, müssen die Ausgleichstaxe bezahlen. Sie beträgt 292 bis 435 Euro pro Pflichtstelle und Monat. Größere Firmen zahlen mehr. Das Geld wird vom Sozial-Ministerium in einem Topf gesammelt: dem Ausgleichstax-Fonds. Es fließt in Projekte, Angebote und Förderungen, die Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt unterstützen. Zum Beispiel werden die Neba-Angebote dadurch finanziert.

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