Mir kommt eine Gruppe von Kindern entgegen, ein Mädchen trommelt einen Takt auf ihrem Korsett. Auf einmal lachen alle laut und selbstbewusst. Sie tragen ihr Korsett ganz offen und sichtbar über ihrer Kleidung.
Ich bin vierzehn und trage seit einem halben Jahr mein Korsett. Ich bin das erste Mal in einer Klinik und sehe die Gruppe auf dem Weg zu meinem Aufnahme-Gespräch.
Für mich wäre das damals unvorstellbar gewesen. Jeden Tag habe ich meine T-Shirts, Pullis und Jacken kontrolliert: Sieht man nichts? Egal ob Winter oder Sommer. Ich schämte mich für mein Korsett. In der Schule und im Alltag lebte ich in der ständigen Angst, dass es jemand sehen könnte. Herausfinden würde, dass ich anders war.
In der Klinik fühlte ich mich nach langer Zeit endlich wieder frei. Ich fühlte mich wohl in Gemeinschaft. Ärzt*innen wie Dr. Verres raten gerade in der Zeit, in der man wächst, zu einem jährlichen Aufenthalt. Trotzdem wurde mein zweiter Klinik-Aufenthalt erst nach dem Widerspruch genehmigt.
Das war nicht nur wichtig für meine Skoliose, sondern auch für mich: Ich habe mich wohl gefühlt in Gemeinschaft und von anderen jungen Frauen gelernt, dass ich mich nicht für meine Krankheit schämen muss. Doch nicht nur die Scham belastete mich lange, sondern auch der Kampf um Hilfs-mittel.
Einen Widerspruch schreiben, Kosten selbst bezahlen oder länger auf Versorgung warten. Menschen mit Behinderungen oder Krankheiten müssen dafür kämpfen, dass sie die Behandlungen und Hilfsmittel bekommen, die sie brauchen. Fehlende Versorgung schränkt deshalb die Möglichkeiten zur Teilhabe ein. Sie kann auf Dauer große Folgen haben: auf die Gesundheit, das Sozial-Leben und den eigenen Selbstwert.
Ein geringeres Krebs Risiko kostet Geld
Durch die Behandlung meiner Skoliose geht es mir heute gut. Ich achte auf mich und meine Gesundheit. Ich mache viel Sport, Übungen und achte im Alltag auf eine rückengerechte Haltung. Durch meine Krankheit war ich gezwungen, mich früh mit meinem Körper auseinanderzusetzen. Das war nicht leicht. Aber ich habe gelernt: Ich muss mich um meinen Körper kümmern und ihn liebevoll behandeln. Mein Körper ist nicht mein Feind. Mein Körper ist gut – auch wenn er anders ist.
Dass es mir so gut geht, ist aber nicht selbstverständlich. Die Untersuchungen, die mir helfen sollten, können mir auch schaden.
Denn Röntgen-Strahlen können gefährlich für den menschlichen Körper sein – vor allem wenn man oft geröntgt wird. Das ist bei Menschen mit Skoliose der Fall: Durch Röntgen-Untersuchungen wird der Verlauf der Skoliose überprüft.
Das Krebsrisiko bei Skoliose-Patient*innen ist deshalb laut einer Meta-Analyse stark erhöht. Meta-Analyse bedeutet, dass man die Ergebnisse von mehreren Studien zusammenfasst. In der Meta-Analyse steht: „Es wird empfohlen, strahlungs-arme oder strahlungs-freie Methoden zur Verlaufs-Kontrolle bei Kindern und Jugendlichen mit Skoliose einzusetzen.” Weil ich so oft untersucht werden musste, zahlten meine Eltern auch für strahlungsfreie Alternativen zum Röntgenbild.
Man nennt diese Untersuchung Video-Raster-Stereo-Graphie. Bei dieser Untersuchung wird der Rücken ohne Röntgen-Strahlung vermessen. Sie wird nicht von Kranken-Kassen übernommen.
Laut dem Spitzen-Verband Bund der Krankenkassen liegt das an „fehlender Studien-Daten” dazu, wie gut die Alternative funktioniert. Das Bundes-Ministerium für Gesundheit betont außerdem, dass es klare Leitlinien dazu gibt, wann und wie oft Patient*innen in Deutschland geröntgt werden.
Es stimmt, dass Studien aktuell keinen vollkommenen Ersatz von Röntgen durch Video-Raster-Stereo-Graphie empfehlen. Allerdings kann der Einsatz in Kombination mit dafür selteneren Röntgen-Aufnahmen sinnvoll sein, um die Strahlen-Belastung zu verringern.
„Strahlenschutz ist auch vom Geldbeutel abhängig“, sagt der ärztliche Leiter des medizinischen Versorgungs-Zentrum Bad Sobernheim Dr. Christof Verres. Das bedeutet: Menschen mit weniger Geld können sich nicht vor dem Strahlungs-Risiko schützen.
Auch bei Franziska Seehausen hat die falsche Versorgung Folgen für ihre Gesundheit gehabt: Das Sitzen im falschen Rollstuhl führte bei ihr zu viel stärkeren Schmerzen. „Ich war weniger im Rollstuhl, sondern wegen der Schmerzen vor allem im Bett.”
Die falschen Rollstühle bedeuten für Franziska Seehausen ein hohes Risiko, in Zukunft weniger Lebens-Qualität zu haben: Durch die schlechte Luft-Zufuhr bei falscher Sitz-Position kann es sein, dass sie einen künstlichen Luft-Eingang braucht. Dann müsste sie dauerhaft beatmet werden. Sie könnte den Geruchs- und Geschmackssinn verlieren – und damit auch die Freude am Essen.
„Falls ein Hilfsmittel nicht passt bzw. nicht den gewünschten Ausgleich der Behinderung schafft, kann selbstverständlich eine Korrektur des Hilfsmittels bzw. sogar eine Umversorgung stattfinden”, erklärt die Kranken-Kasse von Franziska Seehausen.
Wichtig sei dabei die Einschätzung vom medizinischen Dienst. Der überprüft bei etwa einem Prozent der Hilfsmittel-Anträge für Krankenkassen, welche Versorgung “angemessen” ist. Bei Franziska Seehausen sah der Medizinische Dienst Nordrhein eine “zwingende Notwendigkeit”, ihren Rollstuhl anzupassen – aber den extra für sie angefertigten Rollstuhl braucht Seehausen laut Gutachten nicht.
Auf Anfrage betont der Medizinische Dienst Nordrhein, dass die Gutachten von “erfahrenen” Fachärzt*innen mit Zusatz-Weiterbildung gemacht werden – bei Zweifeln werde ein zweites Gutachten gemacht.
Weil die Krankenkasse von Franziska Seehausen ihr bisher keinen passenden Rollstuhl finanziert hat, leiht sie sich einen. Auf eigene Kosten. Mit ihm verbessert sich ihre Lebens-Qualität stark: Sie nutzt aktuell eine Maske, die sie beim Atmen unterstützt. Aber mit dem passenden Rollstuhl kommt sie acht Stunden am Tag auch ohne sie aus.
Ohne passenden Rollstuhl muss sie schon jetzt dauerhaft beatmet werden – das könnte zum Dauer-Zustand werden, wenn Franziska Seehausen weiter falsche Rollstühle verwenden muss. Seehausen liegt dann viel im Bett. „Da geht es mir auch psychisch schlecht.” sagt sie: „Zum Beispiel konnte ich Konzerte, die ich unbedingt sehen wollte, nicht besuchen.”
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Soziale Folgen von fehlender Versorgung
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Im richtigen Rollstuhl kann Franziska Seehausen sogar Sport machen. Damit könnte sie laut ihren Ärzt*innen ihre noch bestehenden Muskeln erhalten. Franziska Seehausen wohnt alleine. Wenn ihre Muskeln noch schwächer werden, könnte sie das nicht mehr.
„Ich würde meine Kraft lieber dafür einsetzen, dass ich wieder arbeiten kann. Der Kampf mit der Krankenkasse ist im Moment aber ein Vollzeitjob und ich liege oft drei Stunden nachts wach und überlege mir, was ich noch tun kann.”
Während Franziska Seehausen gar nicht arbeiten kann, kann es Melanie Huber nur Dank ihrer selbst bezahlten Hörgeräte. In ihrem Job muss sie viel telefonieren. „Ohne das selbst gezahlte Hörgerät könnte ich meinen Job nicht machen. Es ist eine Negativ-Spirale: Ich brauche Geld, um ein besseres Gerät zu kaufen – habe ich es nicht, kann ich auch nicht mehr Geld verdienen.”
Teilhabe ist für Melanie Huber, Franziska Seehausen und für viele weitere Menschen mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen nicht selbstverständlich. Sie bedeutet zugleich immer auch Kampf um das eigene Recht und die nötige Unterstützung.
Ich lebe heute mit meiner Skoliose fast ohne Beschwerden. Ich fühle mich frei. Ich kann machen, was ich will: Ich studiere ein Fach, das ich mag, ich habe einen Job in einem Kino, ich fliege alleine mit Freund*innen in den Urlaub.
Aber ich habe immer wieder Angst, dass sich das ändert. Das Gefühl, falsch und krank zu sein, überfällt mich immer wieder in alltäglichen Momenten. Direkt schießt die Angst in mir hoch: Hat sich mein Körper womöglich verändert? Ist meine Skoliose schlimmer geworden?
Dann kommt alles hoch. Ein Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht wird in mir breit. In mir wird alles müde. Ich denke: Das schaffe ich nicht nochmal. Diesen Kampf mit dem eigenen Körper und der Kranken-Kasse. Ich habe gelernt, dass mein Körper gut ist und ich möchte mich um ihn kümmern. Aber der zweite Kampf wäre nicht nötig. Ich wünsche mir, dass jede*r individuell behandelt wird, dass nicht nur gemacht wird, was medizinisch notwendig, sondern was möglich ist.
Heute liegt mein Korsett im Keller meiner Eltern. Es kommt mir richtig unwirklich vor, dass ich das jeden Tag getragen habe. Ich werde dann stolz, dass ich das so lange durchgehalten habe. Deshalb würde ich es nie wegwerfen. Es ist voll mit den Unterschriften meiner Freund*innen und vielen, schönen Erinnerungen. Aber allzu nah bei mir möchte ich es trotzdem nicht.
Geschrieben Von
Elisabeth Linnerz
und von
Emilia Garbsch
Redaktion
Lisa Kreutzer,
Clara Porak
Bilder von
Clara Berlinski,
Nirén Mahajan
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