Land der Hürden

Zwei Redaktionen, eine Frage: Vor welchen Barrieren stehen Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt? Antworten liefern Recherchen von DOSSIER und »andererseits« – und ein bislang nicht öffentlicher Datensatz.



IN ZUSAMMENARBEIT MIT

Logo Dossier

Diese Recherche ist in Zusammenarbeit mit der Investigativ-Plattform DOSSIER entstanden.

Hürden überall. Von Anfang an müssen Menschen mit Behinderungen und ihre Familien um ihr Recht kämpfen: bei der Aufnahme in einen Kindergarten, danach um einen Platz in einer Regelschule. Später um eine geeignete Ausbildung bis hin zu einem gesicherten Einkommen. Was für viele »ganz normal« ist, ist für Menschen mit Behinderungen nur schwer möglich. Anstatt sie teilhaben zu lassen, hat man für sie eigene Räume geschaffen. So leben wir nebeneinander her, jede und jeder in der uns zugeordneten Welt.

Die Trennung beginnt in der Schule und zieht sich bis zum Arbeitsmarkt durch. Auch dort bekommen nur jene Menschen eine Chance, die der gesellschaftlich akzeptierten Vorstellung von Leistung entsprechen. Sprich: volle Arbeits-leistung – immer und überall. Wer in der Lage ist, sich durchzusetzen, und bereit ist, bis zur Erschöpfung zu arbeiten, bekommt den Job. Der Rest muss sich einfach mehr anstrengen. Oder? 

Das kann nicht gut ausgehen. Wir haben es in vielen Berufen mit Arbeits-Bedingungen zu tun, die uns an unsere Grenzen bringen. Doch gerade Menschen mit Behinderungen können unter diesen Umständen oft nicht arbeiten. Deswegen bleibt ihnen der Zugang zum Arbeitsmarkt in vielen Fällen verwehrt. Gerecht ist das alles nicht. Österreich ist weit davon entfernt, Kindergärten, Schulen und Arbeitsplätze zu schaffen, die für alle Menschen geeignet sind. Welche Auswirkungen dieser Missstand hat, haben wir gemeinsam mit der Redaktion von DOSSIER untersucht.

Georg Eckelsberger (DOSSIER): Unsere Zusammenarbeit hat viel mit eurer Recherche zu der Spendenaktion Licht ins Dunkel zu tun. Warum habt ihr dieses Thema ausgewählt?

Emilia Garbsch (andererseits): Licht ins Dunkel ist die größte Spendenaktion in Österreich. Sie wird jedes Jahr rund um Weihnachten im ORF ausgestrahlt. Wir haben Ende 2022 eine Doku darüber veröffentlicht. Denn die Sendung wird von Menschen mit Behinderungen kritisiert, weil sie darin als bemitleidenswert dargestellt werden. Dabei sind sie nur deswegen auf Spenden angewiesen, weil es zu viele Barrieren gibt. Zum Beispiel am Arbeitsmarkt.

Fabian Füreder (andererseits): Ich habe die Doku moderiert und Expert·innen interviewt. Die Doku hat für viel Aufmerksamkeit gesorgt. Auch Bundes-Präsident Alexander Van der Bellen hat darauf reagiert.

Georg Eckelsberger (DOSSIER): Ihr habt auch kritisiert, dass bei Licht ins Dunkel Firmen spenden, die selbst Aufholbedarf beim Thema Inklusion haben.

Emilia Garbsch (andererseits): Wir haben nachgefragt: Wie viele Menschen mit Behinderungen haben sie angestellt? Aber viele Firmen haben uns die Auskunft verweigert. Nach der Doku hat sich dann jemand gemeldet und gesagt, dass wir diese Informationen haben können – und zwar für alle größeren Firmen in Österreich. Wir waren aufgeregt, weil das keine öffentlich zugänglichen Daten sind. In der Liste, die wir bekommen haben, waren mehr als 20.000 Arbeitgeber·innen aufgezählt. Ihr bei DOSSIER kennt euch gut mit Daten-Recherchen aus. Deshalb haben wir euch gefragt, ob wir zusammenarbeiten wollen.

Georg Eckelsberger (DOSSIER): Gemeinsam haben wir die Daten ausgewertet und ein halbes Jahr recherchiert, welche Hürden es für Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt gibt. Es geht auch um die Verantwortung der Politik. Sie hat sich zwar vorgenommen, Barrieren am Arbeitsmarkt abzubauen. Aber sie scheitert daran.

In Österreich schreibt das Behinderten-Einstellungs-Gesetz vor, dass Arbeitgeber·innen pro 25 Mitarbeiter·innen eine Person mit Behinderungen anstellen müssen. Wer dieser sogenannten Beschäftigungs-Pflicht nicht nachkommt, muss eine Strafe bezahlen: die Ausgleichstaxe. Welche Arbeitgeber·innen sich von der Pflicht freikaufen, ist geheim. Das Sozial-Ministerium veröffentlicht die Informationen nicht. DOSSIER und andererseits liegen die Informationen vor. Sie sind vom September 2020.

Emilia Garbsch (andererseits): Selbst die heutigen Regierungs-Parteien ÖVP und Grüne haben zum Zeitpunkt unserer Stichprobe im September 2020 die Beschäftigungs-Pflicht nicht erfüllt. (Hier geht’s zum Text über Parteien)

Sahel Zarinfard (DOSSIER): Andere stechen positiv hervor. Die Landes-Regierungen etwa. Zum Teil stellen sie sogar mehr Menschen mit Behinderungen an, als sie laut Gesetz müssen. Bei vielen privaten Firmen sieht es anders aus. Manche erfüllen die Pflicht, und andere sind zumindest darum bemüht. Die meisten aber scheitern bei der Beschäftigungs-Pflicht. Zum Beispiel Österreichs Medienhäuser. (Hier geht’s zum Text über Medien)

Emilia Garbsch (andererseits): Gerade bei Medien ist das ein fatales Zeichen. Denn sie sollten die Gesellschaft abbilden, wie sie ist. Da ist die Frage entscheidend, welche Personen-Gruppen in den Redaktionen vertreten sind und mitreden dürfen.

Nikolai Prodöhl (andererseits): Während unserer Zusammenarbeit haben auch die Vereinten Nationen überprüft, ob sich Österreich an die Behindertenrechts-Konvention hält. Das Ergebnis ist im September 2023 präsentiert worden. Dabei ist herausgekommen, dass die Politik in Österreich das nicht macht. Nicht bei der Bildung und auch nicht bei der Arbeit.  

In der Behindertenrechts-Konvention stehen die Grundrechte von Menschen mit Behinderungen. Demnach müssen sie gleichberechtigten Zugang zu allen Bereichen des Lebens haben. Diesem Grundsatz hat Österreich im Jahr 2008 zugestimmt. Doch die Republik versagt bei der Umsetzung. Dafür gibt es viel Kritik von den Vereinten Nationen. Zum Beispiel, dass so viele Menschen in Werkstätten arbeiten und dort schlecht bezahlt werden. (Hier geht’s zum Text über Werkstätten)

Sahel Zarinfard (DOSSIER): Die Situation in Österreichs Werkstätten wird seit vielen Jahren kritisiert. Dabei geht es um die schlechten Arbeits-Bedingungen. In Werkstätten wird kein Gehalt, sondern ein geringes Taschengeld bezahlt. Außerdem ist es sehr schwer, von einer Werkstätte auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu wechseln. David und ich wollten wissen, warum das so ist.

David Tritscher (andererseits): Wir waren in einer Werkstätte und haben dort mit der Leiterin gesprochen. Sie hat uns erzählt, dass die Höhe des Taschengelds von der erbrachten Arbeitsleistung abhängt. Jene, die nicht so viel arbeiten können, bekommen 25 Euro im Monat. Und andere, die Arbeits-Aufträge von Firmen erfüllen, bekommen 100 Euro im Monat. (Hier geht’s zum Text über Werkstätten)

Menschen irren in einem Laybyrinth herum

Nikolai Prodöhl (andererseits): Das Problem ist, dass der Arbeitsmarkt nicht inklusiv ist. Was kann ich dafür, dass ich eine Behinderung habe? Gar nichts. Menschen mit Behinderungen kann man nicht ändern, sie haben nun mal eine Einschränkung. Aber den Arbeitsmarkt kann man schon verändern. 

Fabian Füreder (andererseits): Behinderung wird als Problem gesehen. Aber die Hürden und Barrieren sind das Problem. Die muss man abbauen. Menschen mit Behinderungen wollen selbstständig sein. Mir ist es wichtig, etwas zu leisten. Ich will arbeiten, weil ich dann anderen Leuten helfen kann.

Julia Herrnböck (DOSSIER): Das Problem ist aber, dass viele Menschen mit Behinderungen offiziell als »arbeits-unfähig« gelten. Die Kriterien, nach denen das beurteilt wird, sind nicht bekannt. Für die Überprüfung ist die Pensions-versicherungs-Anstalt zuständig. Nikolai und ich haben mit Menschen gesprochen, die eine solche Untersuchung machen mussten. Sie haben uns erzählt, dass der Umgang sehr distanziert war und die Untersuchung nicht lange gedauert hat. Dabei kann die Feststellung über den Rest des Lebens entscheiden. Denn wer einmal als »arbeitsunfähig« eingestuft wird, bleibt das meist auch. (Hier geht’s zum Text über die Arbeitsunfähigkeits-Prüfung.)

Nikolai Prodöhl (andererseits): Wir haben auch mit den Verantwortlichen ein Interview geführt. Wir wollten wissen, wie die Untersuchung konkret abläuft und was bei Beschwerden passiert – es gibt nämlich viele davon. Denn wenn man für »arbeitsunfähig« erklärt wird, kann man die Untersuchung nicht noch einmal machen, und auch das Arbeitsmarkt-Service hilft nicht mehr.

Über dieses Problem haben wir mit Arbeits-Minister Martin Kocher (ÖVP) gesprochen. Er ist politisch dafür zuständig, dass Menschen mit Behinderungen gleiche Chancen am Arbeitsmarkt bekommen. Im Interview hat er Versäumnisse eingeräumt. Gerne hätten wir auch ein Gespräch mit Sozial-Minister Johannes Rauch (Grüne) geführt. Doch Rauch hat ein persönliches Interview kurzfristig abgesagt. (Hier geht’s zum Interview mit Arbeits-Minister Martin Kocher)

Emilia Garbsch (andererseits): Neben dem Arbeitsmarkt-Service kann auch das Netzwerk Berufliche Assistenz – kurz Neba – dabei helfen, einen passenden Job zu finden. Die Angebote sollen Menschen mit Behinderungen dabei helfen, bessere Chancen am Arbeitsmarkt zu haben. Aber man muss gut genug in die verfügbaren Angebote passen. Das heißt: Für Menschen mit einem hohen Unterstützungs-Bedarf sind die Angebote oft nicht geeignet. Deshalb kommen sie letztlich in eine Werkstätte. (Hier geht’s zum Text über Neba)

David Tritscher (andererseits): Und dann ist man wieder im Radl drin. Weil wenn du in einer Werkstätte bist, kommst du aus der nur schwer wieder heraus. 

Nikolai Prodöhl (andererseits): Menschen mit Behinderungen haben mit Vorurteilen zu kämpfen. Zum Beispiel, dass wir nicht so viel leisten können wie andere. Dabei müssten wir gerade an den Stellen arbeiten, wo über die »Arbeits-Fähigkeit« einer Person entschieden wird. Menschen mit Behinderungen können am besten beurteilen, ob die Einschränkung an der Person oder am Arbeitsmarkt liegt.

David Tritscher (andererseits): Ich glaube schon, dass zum Beispiel die Mitarbeiter·innen in Werkstätten etwas verändern wollen. Aber sie bekommen nicht die Möglichkeit dazu.

Emilia Garbsch (andererseits): Wer müsste ihnen die Möglichkeit geben? 

David Tritscher (andererseits): Die Politik.

Was die Politik machen könnte, kann man in Deutschland beobachten: Seit 2018 gibt es ein eigenes Budget, um den Wechsel von einer Werkstätte auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu erleichtern. Die Maßnahme führt zwar noch nicht ganz zum Ziel, ist aber ein Schritt in die richtige Richtung. Auch Italien hat ein Zeichen gesetzt – und zwar schon 1977. Seit damals gibt es dort fast keine Sonderschulen mehr. Andere Länder zeigen vor: Inklusion ist möglich.