Inklusion ist ein Menschenrecht

Jürgen Dusel ist der Behinderten-Beauftragte von der deutschen Bundes-Regierung. Wir haben mit ihm gesprochen.
Ein Mann in Anzug und Hemd steht mit verschränkten Armen da. Er sieht an der Kamera vorbei. Er ist leicht von oben fotografiert in einer Art Halle mit Fliesenboden.

Über Jürgen Dusel:

Jürgen Dusel ist 59 Jahre alt. 

Er ist blind.

Er ist Jurist. 

Das heißt: 

Er hat das Fach Jura gelernt und kennt sich gut mit Gesetzen aus.

Seit 2018 ist Jürgen Dusel der Behinderten-Beauftragte von der Bundes-Regierung. 

Er setzt sich dafür ein,

dass die Inklusion in Deutschland vorankommt.

Nikolai Prodöhl: 

Seit 15 Jahren gilt die UN-Behinderten-Rechts-Konvention in Deutschland.

Das ist ein Vertrag über die Rechte von 

Menschen mit Behinderungen. 

Deutschland und viele andere Länder 

haben den Vertrag verabredet.

Hält Deutschland sich an den Vertrag? 

Jürgen Dusel:

Fachleute haben im letzten Jahr geprüft:

Wie gut ist die Inklusion in Deutschland?

Inklusion heißt:

Menschen mit und ohne Behinderungen sind zusammen.

Alle Menschen sollen überall mitmachen können.

Manche Sachen sind besser geworden.

Zum Beispiel:

Menschen mit Behinderungen können besser 

bei Wahlen mitmachen.

Aber es gibt auch noch Probleme.

Menschen mit und ohne Behinderungen sind 

in Deutschland oft getrennt.

Zum Beispiel:

– in der Schule

– beim Wohnen.

Menschen mit Behinderungen wohnen oft in Heimen.

Und sie arbeiten oft in Werkstätten 

für Menschen mit Behinderungen.

Nikolai Prodöhl: 

In welchen Bereichen läuft es besonders schlecht 

mit der Inklusion?

Jürgen Dusel:

Ich finde: In Schulen müssen wir am meisten machen.

In Schulen gibt es viele Hürden.

Manchmal habe ich das Gefühl:

In Einkaufs-Zentren gibt es weniger Hürden als in Schulen.

Das ist eine wichtige Frage:

Kann ein Kind mit Behinderungen zusammen mit 

Kindern ohne Behinderungen in die Schule gehen?

Oder muss ein Kind mit Behinderungen in eine 

Förder-Schule gehen,

wo nur Kinder mit Behinderungen sind?

Das ist in den Bundes-Ländern sehr unterschiedlich.

Bundes-Länder sind Teile von Deutschland.

Und wir müssen viel machen in Arzt-Praxen.

Viele Arzt-Praxen sind noch nicht barriere-frei.

Barriere-frei heißt: ohne Hürden.

Die Deutsche Bahn ist auch noch nicht barriere-frei.

Bahn-Fahren ist für Menschen im Rollstuhl sehr stressig.

Das darf nicht sein.

Nikolai Prodöhl: 

Warum geht es mit der Inklusion so langsam?

Jürgen Dusel:

Viele Menschen ohne Behinderungen wissen noch nicht:

Inklusion ist sehr wichtig.

Das liegt zum Beispiel daran,

dass Menschen mit und ohne Behinderung 

sich zu wenig treffen.

Es gibt auch Politiker*innen, die sagen:

Wir wollen keine Inklusion.

Das macht mir Angst.

Jürgen Dusel, ein weißer Mann mittleren Alters, ist zu sehen. Er hat kurze braune Haare und trägt einen Anzug. Er lehnt mit seinen Armen auf einem Geländer.

Emilia Garbsch: 

Gibt es noch mehr Gründe,
warum es mit der Inklusion so langsam geht?

Jürgen Dusel:

Viele Menschen glauben:

Wir machen Inklusion,
weil wir nette Menschen sind.

Und weil wir nett sein wollen 

zu Menschen mit Behinderungen.

Aber das stimmt nicht.

Inklusion ist ein Menschen-Recht.

Und Inklusion ist wichtig für die Demokratie.

Demokratie heißt:
Alle Menschen in einem Land dürfen mitbestimmen.

Aber Menschen mit Behinderungen 

haben in Deutschland viele Nachteile.

Manchmal glaube ich:

Die Gesellschaft findet das nicht so schlimm.

Viele Menschen denken:

Menschen mit Behinderungen 

haben es gut in Deutschland.

Und viele Menschen denken vielleicht:

Menschen mit Behinderungen sollen dankbar sein.

Emilia Garbsch: 

Erklären Sie das bitte genauer.

Jürgen Dusel:

Viele Menschen in Deutschland glauben:

Menschen mit Behinderungen sind fehler-haft.

Das heißt:

Viele Menschen sehen nur,
was Menschen mit Behinderungen nicht können.

Viele Menschen sehen nicht,
was Menschen mit Behinderungen gut können. 

Das ist in anderen Ländern anders.

Dort denken die Menschen anders über Menschen mit Behinderungen.

Ich reise oft in andere Länder.

Ich habe das Gefühl:

In anderen Ländern verstehen die Menschen besser,
dass jeder Mensch gleich viel wert ist.

Emilia Garbsch: 

Die Vereinten Nationen haben schon 2015 gesagt: 

Deutschland muss bei Inklusion besser werden.

In den Vereinten Nationen arbeiten viele Länder zusammen.

Zum Beispiel für Frieden und Menschen-Rechte.

Die Vereinten Nationen haben gesagt:

Deutschland braucht einen Plan für Inklusion.

Zum Beispiel:

Wie kann man die Werkstätten 

für Menschen mit Behinderungen abschaffen?

Aber Deutschland hat wenig gemacht.

Warum ist Inklusion so schwierig? 

Jürgen Dusel:

Manche Dinge werden schon lange 

auf eine bestimmte Art gemacht.

Das ist schwierig zu ändern.

Das ist auch schwierig in der Politik.

Politik heißt: 

Menschen machen Regeln 

für das Zusammen-Leben im Land.

Manche Regeln gibt es schon lange.

Dann sind sie schwierig zu ändern.

Und manche Menschen wollen manche Regeln 

nicht ändern.

Zum Beispiel die Besitzer*innen von Werkstätten 

für Menschen mit Behinderungen.

Und viele Menschen,
die in Werkstätten arbeiten.

Die Besitzer*innen und viele Mitarbeiter*innen von Werkstätten wollen nicht,

dass Werkstätten abgeschafft werden.

Aber Deutschland hat der UN-Behinderten-Rechts-Konvention zugestimmt.

Und in der UN-Behinderten-Rechts-Konvention steht:

Werkstätten sind nicht gut.

Emilia Garbsch: 

Haben die Besitzer*innen von Werkstätten viel Macht?

Sie sind ja keine Politiker*innen,
die Regeln machen.

Jürgen Dusel:

Nicht nur die Besitzer*innen 

wollen die Werkstätten behalten.

Auch viele Menschen mit Behinderungen sagen:

Wir wollen in den Werkstätten bleiben.

Viele Menschen mit Behinderungen 

sind jeden Tag in einer Werkstatt.

Sie haben dort Freund*innen.

Man muss verstehen,
dass sie in den Werkstätten bleiben wollen.

Es gibt einen wichtigen Satz 

von Menschen mit Behinderungen,

die sich für ihre Rechte einsetzen.

Der Satz heißt: Nichts über uns ohne uns.

Damit ist gemeint:

Man soll nur für Menschen mit Behinderungen entscheiden,

wenn Menschen mit Behinderungen 

mitreden und mitbestimmen.

Darum müssen wir auf Menschen mit Behinderungen hören, die in Werkstätten arbeiten.

Jürgen Dusel, ein weißer Mann mittleren Alters, ist zu sehen. Er hat kurze braune Haare und trägt einen Anzug.

Nikolai Prodöhl: 

Warum bekommen Menschen mit Behinderungen 

in Werkstätten nicht den Mindest-Lohn?

Mindest-Lohn heißt:
So viel Geld muss jeder Mensch 

für eine Stunde Arbeit wenigstens bekommen.

Jürgen Dusel:

Firmen vom ersten Arbeits-Markt 

müssen den Mindest-Lohn bezahlen.

Werkstätten gehören nicht zum ersten Arbeits-Markt.

Darum müssen Werkstätten keinen Mindest-Lohn bezahlen.

Aber ich will,
dass sich das ändert.

Menschen mit Behinderungen arbeiten 

30 Stunden in der Woche in den Werkstätten.

Manche arbeiten mehr Stunden.

Manche arbeiten ein bisschen weniger.

Die Menschen müssen einen gerechten Lohn 

für die Arbeit bekommen. 

Aber das ist auch wichtig:

Die Menschen bekommen von der Werkstatt 

zwar wenig Geld für ihre Arbeit.

Aber sie bekommen jeden Monat auch vom Staat 

Geld zum Leben.

Und nach 20 Jahren bekommen sie eine Rente.

Die Rente ist vielleicht mehr Geld,

als sie nach der Arbeit auf dem Arbeits-Markt 

als Rente bekommen können.

Aber ich hoffe,

dass die nächste Regierung etwas ändert 

bei den Werkstätten.

Nikolai Prodöhl: 

Wie wichtig war Inklusion für die Bundes-Regierung,
die jetzt noch regiert?

Jürgen Dusel:

Die Regierung hat am Anfang verabredet, 

dass sie viel für Inklusion machen will.

Aber sie hat nicht viel gemacht.

Die Regierung hat viele Sachen für Inklusion 

zu spät angefangen.

Und die Sachen gehen zu langsam.

Zum Beispiel:

Die Regierung wollte das Behinderten-Gleichstellungs-Gesetz verändern.

Das Behinderten-Gleichstellungs-Gesetz sind Regeln,

die Hürden für Menschen mit Behinderungen abschaffen sollen.

Die Regierung wollte die Regeln besser machen,

damit es weniger Hürden 

für Menschen mit Behinderungen gibt.

Aber die Regierung hat das noch nicht gemacht.

Emilia Garbsch: 

In Deutschland wird bald eine neue Regierung gewählt.

Was soll die neue Regierung machen?

Jürgen Dusel:

Ich hoffe,
dass die alte Regierung das Behinderten-Gleichstellungs-Gesetz noch verbessert.

Wenn die alte Regierung das nicht mehr macht,

soll die neue Regierung das machen.

Das ist sehr wichtig,
weil es in Deutschland noch viele Hürden gibt.

Zum Beispiel wenn Menschen mit Behinderungen 

zu Ärzt*innen gehen.

Es gibt zum Beispiel viele Probleme und Hürden 

bei Frauen-Ärzt*innen.

Viele Räume bei den Frauen-Ärzt*innen
sind barriere-frei für Frauen mit Rollstuhl.

Frauen mit Rollstuhl bezahlen auch Geld 

für die Kranken-Versicherung.

Aber es gibt große Probleme bei den Frauen-Ärzt*innen.

Das ist nicht in Ordnung.

Nikolai Prodöhl: 

Können Menschen mit Behinderungen mitreden,
wenn neue Gesetze gemacht werden?

Jürgen Dusel:

Das ist sehr unterschiedlich.

Die alte Regierung hat manche Sachen gut gemacht.

Zum Beispiel:

Menschen mit Behinderungen konnten mitreden,

wenn die Regierung Gesetze für Arbeit und Gesundheit gemacht hat.

Bei manchen Sachen war die Regierung aber nicht so gut.

Zum Beispiel wenn sie Gesetze für den Verkehr 

gemacht hat.

Menschen mit Behinderungen wissen am besten, 

was sie brauchen.

Zum Beispiel:

Welche Züge sollen gekauft werden?

Wie viele Plätze für Roll-Stühle sollen die Züge haben?

Es ist wichtig,

dass Menschen mit Behinderungen mitreden.

Ich erinnere die Regierung immer wieder daran.

Das ist mein Job.

Ich glaube:

Die Menschen in der Regierung waren nicht 

mit Menschen mit Behinderungen in der Schule.

Darum denken sie nicht an Menschen mit Behinderungen.

Es ist wichtig,

dass Menschen mit und ohne Behinderungen 

zusammen in die Schule gehen.

Dann denken Menschen ohne Behinderungen 

an Menschen mit Behinderungen.

Emilia Garbsch: 

Was soll die neue Regierung für Menschen mit Behinderungen machen?

Jürgen Dusel:

Die neue Regierung soll sich weiter darum kümmern,

dass Deutschland sich an die UN-Behinderten-Rechts-Konvention hält.

Und die Regierung soll die Rechte 

von Menschen mit Behinderungen stärken.

Dafür ist es besonders wichtig,

dass es überall weniger Hürden gibt.

Zum Beispiel:

– bei Ärzt*innen

– am Arbeits-Platz

– im Kino

– im Restaurant

– bei der Deutschen Bahn.

Emilia Garbsch: 

Leben wir in einer behinderten-feindlichen Gesellschaft?

Jürgen Dusel:

Nein.

Aber viele Menschen interessieren sich nicht 

für das Leben von Menschen mit Behinderungen. 

Nikolai Prodöhl: 

Herr Dusel, vielen Dank für das Gespräch.

Geschrieben Von

Emilia Garbsch, Finn Starken, Nikolai Prodöhl

fotos von

Florian Scheible

Leichte Sprache

Constanze Busch

geprüft von

Luise Jäger