Raul Krauthausen, Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit im Gespräch über Teilhabe, Selbstermächtigung und Diskriminierung.

Du bist Aktivist für Inklusion. Warum hast du mit dem Aktivismus begonnen und wie wird man Aktivist?

Ich bin ja selber im Rollstuhl unterwegs. Das heißt, ich habe die Entscheidung, mich für die Rechte von Menschen mit Behinderung einzusetzen, nicht ganz uneigennützig getroffen. Ich habe Werbung studiert und da habe ich gemerkt, dass viel zu wenig mit Menschen mit Behinderung gesprochen wird und sehr schnell über sie Und weil ich so ungeduldig geworden bin, dass ich mich nirgendwo repräsentiert gefühlt habe, habe ich mit Freunden einen Verein mit dem Namen “Sozialhelden” gegründet vor circa 20 Jahren.

Wir wussten nicht, was wir auf unsere Visitenkarten schreiben wollen, da haben wir gesagt: Okay, wir sind alle Aktivisten und das heißt, wir wollen so lange auf Inklusion aufmerksam machen, wie es nötig ist. Wir machen das, weil es ein Problem in unserer Gesellschaft ist. 

Was sind die größten Probleme, die Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft haben?

Ich  würde mir nicht anmaßen zu sagen, was die größten sind, da gibt es viele Unterschiede. Ich kann nicht sagen, was die größten Barrieren sind, ich kann nur sagen, was mir regelmäßig begegnet und das sind Vorurteile: Es gibt unglaublich viele Vorurteile gegenüber behinderten Menschen. Uns wird unterstellt, wir können Dinge nicht so gut, wir müssen geschützt werden, brauchen besondere Betreuung, wir würden Geld kosten und Aufwand und vor allem würden wir alle anderen Menschen daran erinnern, dass es das Thema Behinderung gibt und das würde die Menschen unrund machen. Deshalb sortiert man behinderte Menschen lieber aus. Das sieht man zum Beispiel am Arbeitsmarkt: Menschen mit Behinderungen haben es schwer einen Job zu finden, weil sich Arbeitgeber das oft einfach nicht vorstellen können.

Teilhabe ist eigentlich nur dann erlaubt, wenn wir einen Mehrwert bringen, wenn wir gut arbeiten, aussehen, reden können. Das merke ich auch an mir, an meiner Person. Dass ich so oft in Talkshows sitze oder Interviews geben darf, liegt nur daran, dass ich so wenig entfernt von den Menschen ohne Behinderung bin. 

Ich bin nicht behindert genug, um aussortiert zu werden und behindert genug, um interessant und neu zu sein. Ich würde es aber natürlich sehr begrüßen, wenn auch einmal eine Frau mit intellektueller Behinderung diese Interviews geben kann und nicht nur jemand wie ich, der unter Anführungszeichen „nur“ im Rollstuhl sitzt.

Ich bin nicht behindert genug, um aussortiert zu werden und behindert genug, um interessant und neu zu sein.

Wie geht man damit um, wenn man diskriminiert wird?

Ich glaube man könnte darauf aufmerksam machen. Eine Person, die das Herz an der richtigen Stelle hat, wird sich dann vielleicht auch entschuldigen und darüber nachdenken. Leider sind das nicht viele. Einige gehen dann auch in die Verteidigungshaltung und sagen: „Ja aber das war ja gar nicht so gemeint.“

Es ist wichtig, dass wir uns Verbündete suchen. Damit man merkt, dass man nicht alleine ist mit dieser Herausforderung. Erst wenn man sich zusammen tut, kann man Strategien entwickeln – notfalls auch juristische – um gegen Diskriminierung vorzugehen.  Das ist aber ein anstrengender Weg und nicht jeder hat die Ressourcen. 

Welche positiven Erfahrungen hast du als Mensch mit Behinderung gemacht? Welche negativen?

Ich glaube, dass mich die Leute wiedererkennen. Das macht es natürlich leichter,. Mein Bekanntenkreis ist sehr groß. Das führt inzwischen dazu, dass die Leute mich kennen und ich sie nicht. Das ist manchmal auch sehr unangenehm. Dazu kommt, dass man mit dem Schwerbehindertenausweis jemanden umsonst mitnehmen kann: in der Bahn, im Bus, im Kino. Das sind aber nur kleine Vorteile, es lohnt sich nicht eine Behinderung zu haben, aber es ist auch nicht schlimm. Es ist einfach neutral. 

Du hast vorher über den Umgang mit Diskriminierung gesprochen. Hast du schon mal eine Diskriminierungserfahrung gemacht und wie bist Du damit umgegangen?

Ja natürlich, sogar öffentlich und im Internet. Ich glaube das hängt von der Persönlichkeit ab, ob man sich das zu Herzen nimmt, mich hat das sehr getroffen damals. Ich habe mich dann mit Freunden beratschlagt, wie wir damit umgehen und wir haben uns für den juristischen Weg entschieden. Leider wurde die Anklage dann fallen gelassen, weil sie nicht schlimm genug war angeblich. Ich fand sie trotzdem furchtbar. Aber für meinen Seelenfrieden habe ich zumindest das Gefühl, es versucht zu haben. Mobbying sollte man immer mit Verbündeten begegnen oder andere für einen kämpfen lassen.

Was würdest du für Menschen mit oder ohne Behinderungen mitgeben, wenn sie in so ein Fenster fallen, wo sie sich keine Auswege mehr vorstellen können? Wenn man sich nicht so wohl fühlt mit seiner Behinderung, wie kann man da herausfinden?

Erstmal ist es ganz wichtig zu verstehen, dass es auch Menschen ohne Behinderung gibt, die unzufrieden sind. Das hat nicht automatisch mit der Behinderung zu tun.

Man muss versuchen zu ergründen, woran das liegt. Oft ist die Behinderung nicht der Grund, sondern vielleicht, dass man diskriminiert oder ausgeschlossen wird. Dann ist das das Problem und nicht die Behinderung.

Ich kann aus meiner eigenen Erfahrung sagen: Ich wollte lange nichts mit dem Thema Behinderung zu tun haben. Ich habe es verdrängt, ich habe mich fast geschämt, ich habe mich unwohl gefühlt. Dann habe ich Freunde mit Behinderung kennengelernt. Zu sehen wie andere Menschen mit Behinderung leben, hat mir unglaubliche Kraft gegeben. Man muss es einfach nur sehen, man muss noch gar nicht darüber reden. 

Sich mit anderen Menschen mit Behinderung auszutauschen und sei es nonverbal, kann einen aus diesem Tal rausholen. Wenn man dann merkt das geht noch immer nicht, empfehle ich Hilfe zu suchen in Form von Therapie. Auch da ist es wichtig, den Grund nicht immer nur in der Behinderung zu suchen.  

Du hast einmal gesagt: »Auch Menschen ohne Behinderung haben ein Recht darauf, mit behinderten Menschen zusammen zu leben!« Kannst du erzählen, was du damit meinst?

Wenn wir über Inklusion und Teilhabe sprechen, müssen wir die Mehrheitsgesellschaft auch damit konfrontieren, dass es nicht darum geht, dass zehn Prozent unserer Gesellschaft behindert sind und mitmachen wollen. Es geht darum, dass die anderen 90 Prozent etwas verpassen, wenn sie nicht mit Menschen mit Behinderung Zeit verbringen. Es ist ja keine Einbahnstraße und damit meine ich nicht, dass Inklusion das Regenbogeneinhornland ist und alles super ist. Im Gegenteil: Es gibt natürlich Auseinandersetzungen, aber auch davon profitiert man. Es ist immer ein Geben und Nehmen, nicht immer nur ein Nehmen. Behinderte Menschen geben auch.

Hast du Tipps für Menschen, die wenig Kontakt zu Menschen mit Behinderungen haben und das ändern wollen?

Dazu habe ich ein TikTok Video gemacht. Ich glaube das Wichtigste ist, erstmal davon auszugehen, dass die Person nicht nur eine Behinderung hat. Die Behinderung ist genauso wichtig oder unwichtig wie die Haarfarbe.

Dann ist es wichtig, die Behinderung nicht zum Kennenlernen-Thema zu machen, erstmal nach Namen, Interesse, Hobbies, Leidenschaften zu fragen. Die Person nach Interesse kennenzulernen und nach Leidenschaften und Hobbies die Person kennenzulernen.

Nicht gleich fragen: “Warum sitzt du im Rollstuhl?”, bevor du weißt, wie die Person heißt. Erst wenn du das Gefühl hast, die Person ist dir nahe genug, kann man diese Fragen stellen.  

Was würdest du als erstes verändern, wenn Du zum Beispiel Bundeskanzler von Österreich wärst?

Ich glaube, ich würde ein für alle Mal die Privatwirtschaft zur Barrierefreiheit verpflichten. Ich würde außerdem klar machen: Inklusion ist keine Option. Das ist nichts, das wir vielleicht irgendwann machen, wenn wir Zeit und Geld haben. Inklusion ist verpflichtend. Jeder der sich dagegen wehrt, kann seinen Job wechseln, oder seinen Job verlieren. 

Wer hat das Recht zu entscheiden? Das müssen wir viel mehr fragen: Es war nie ein Problem der Aufklärung, es gibt da ganz viele Organisationen, die aufklären. Wir müssen in die Schranken weisen, wenn sich jemand diskriminierend verhält. Inklusion hat nichts mit Aufklärung zu tun, sondern mit Anstand und Respekt.

Wir werden Skeptiker und Kritiker der Inklusion nicht mit Broschüren und Plakaten und Werbespots überzeugen, wir werden die nur davon überzeugen können, wenn wir einander begegnen. Auf der Uni, in der Schule, in der Ausbildung, am Arbeitsmarkt, im Urlaub, überall da wo diese Menschen ausgeschlossen werden muss man genauer hinsehen, warum sie ausgeschlossen werden und dagegen juristisch vorgehen.

Gespräch: Sebastian Gruber und Clara Porak
Fotografie: Anna Spindelndreier, 2020