Nie wieder Schule

Für Kinder mit Behinderungen gibt es in Österreich zu wenige Schulplätze. Ihre Familien wollen deshalb vor das Verfassungsgericht ziehen.
Soufiene mit Schultasche von hinten, wie er durch einen Markt geht. Die Hände hat er in die Taschen seiner gelben Jacke gesteckt.

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In drei Tagen wären Sommerferien. Hoffentlich. Der Bescheid, der das bestätigen sollte, war bisher nicht im Postkasten. Jeden Tag fragte Soufiene, damals 16 Jahre alt, seine Eltern: “Ist schon ein Brief gekommen?” Heute war es so weit. Ein Satz, keine Erklärung: “Ihr Ansuchen betreffend einer Verlängerung des Schulbesuches […] wird […] nicht bewilligt.”

In drei Tagen waren also nicht Sommerferien. “Ich habe das gelesen und sofort zu zittern und weinen angefangen”, erzählt Elisabeth Dhifallah, die Mutter von Soufiene: “Im September gehst du nicht mehr in die Schule”, sagte sie wenig später zu ihrem Sohn. Für Soufiene brach seine Welt zusammen. Die nächsten Tage: nichts als Tränen. Warum war er so traurig? “Weil ich dort gelernt habe”, sagt Soufiene.

Zehn Jahre war er in der Schule. Jetzt ist Schluss. Raafet Soufine Dhifallah, wie er mit vollem Namen heißt, hat eine Lernbehinderung. Er wurde nach dem Sonderschullehrplan unterrichtet. Das zehnte Jahr konnte die Schuldirektion ihm noch eigenständig erlauben. Für ein elftes und zwölftes Jahr geht das nur mit Zustimmung der Bildungsdirektion und des Schulerhalters. In Soufienes Fall: der Stadt Wien.

Falls der Antrag genehmigt wird, können diese zwei zusätzlichen Jahre nur an Sonderschulen absolviert werden. Wie viele Jugendliche in ganz Österreich erfolglos weitere Schuljahre beantragt haben, erhebt das Bildungsministerium nicht. Fest steht: 98 von 193 solcher Anträge wurden allein in Wien laut der zuständigen Bildungsdirektion für das Schuljahr 2022/23 abgelehnt oder von den Eltern zurückgezogen. Fast jeder Zweite. Darunter auch Soufienes. Warum? Und mit welchen Folgen?

Seit fast fünf Monaten ist Soufiene mittlerweile zuhause. “Es geht schon, Mama”, sagt er zu seiner Mutter, wenn sie ihn nach seiner Stimmung fragt. “Ich würde lügen, wenn ich ‚Gut‘ sage”, sagt Elisabeth Dhifallah selbst. Seit September ist Soufiene für einen Platz in einer sogenannten Tagesstruktur – einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen – gemeldet. Bisher wartet er noch.

Die einzige Alternative sind Qualifizierungsprojekte des Sozialministeriumservice. Theoretisch. Wer sie besucht, muss innerhalb eines Jahres bereit für eine weitere Ausbildung sein – etwa eine Lehre oder Teilqualifizierung.

Etwas niederschwelliger – aber auch nicht für alle zugänglich – ist die dreijährige Berufsqualifizierung des Fonds Soziales Wien. Für Jugendliche, wie Soufiene, die auch dafür zu hohen Unterstützungsbedarf haben, bleibt als einzige Möglichkeit eine Tagesstruktur. Doch die Wartezeiten in Wien sind lang. Eltern, deren Kinder unerwartet nicht mehr in die Schule gehen, müssen mitunter ihren Job aufgeben. Die Ungleichbehandlung zwischen Jugendlichen mit und ohne Behinderungen drängt Familien in die Rolle der Bittsteller.

 

Platzmangel

Bis vor einigen Jahren bekamen Schüler:innen mit erhöhtem Förderbedarf das elfte und sogar zwölfte Schuljahr meist zugestanden. Mittlerweile ist das in Wien nur mehr in Privatschulen und katholischen Schulen die Regel. Warum?

Die Wiener Bildungsdirektion erklärt das mit Platzmangel. Es fehlt an Lehrpersonal. Außerdem seien die gesetzlich vorgesehenen Schuljahre abgeschlossen. Rechtsanspruch auf mehr als neun Schuljahre haben Jugendliche mit erhöhtem Förderbedarf nicht. Im Schulunterrichtsgesetz gibt es keine Kriterien, die festlegen, wann weitere Jahre genehmigt werden müssen. Behörden können somit willkürlich vorgehen. Auch die noch von einer rot-schwarzen Regierung ab 2017/18 verordnete „Ausbildungspflicht bis 18“ hat das nicht geändert. Strafen beim Verstoß gibt es nur für Eltern, nicht den Staat.

Portraitfoto von Soufiene. Er trägt eine gelbe Jacke, hat kurze Haare, schaut in die Kamera und lächelt leicht. Am Rücken seine Schultasche.

“Ich würde mir wünschen, dass alles wieder gut wird mit der Schule”, sagt Soufiene.

Foto von einer Seite aus Soufienes Schulheft. Geschrieben in Großbuchstaben: „Wir waren bei einem Konzert in der Schule. Die Musiker haben Saxofon und Akkordeon gespielt. Wir haben geklatscht und getanzt. Das war schön“

Soufiene hat seine Schulsachen mitgebracht. Hier eine Seite aus seinem Hausübungsheft.

Soufienes Mutter hat beim Antrag zur Verlängerung seines Schulplatzes ein psychologisches Gutachten mitgeschickt, darin die Empfehlung eines elften Schuljahres für ihren Sohn. “Mit dem Lesen tut er sich immens schwer”, sagt Elisabeth Dhifallah.

Die Sonderschule unterforderte Soufiene zu Beginn. Erst als er in seinem neunten Jahr einen neuen Lehrer bekam, der ihn stärker förderte, machte er große Lernfortschritte. Im letzten Jahr hat er bis hundert zählen gelernt. “Nockerl kochen”, sagt Soufiene. Auch das hat ihm die Schule beigebracht. Am liebsten würde er Koch werden.

“Im Grunde ist es absurd. Zuerst wird behördlich festgestellt, dass Du erhöhten Förderbedarf hast, aber dann hast Du keinen Rechtsanspruch auf eine angemessene Schulzeit”, sagt Elke Niederl, Stellvertreterin der Behindertenanwaltschaft. Damit verletze Österreich auch Artikel 24 der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Darin ist das Recht auf Bildung festgeschrieben. “Der Zugang zu Aus- und Weiterbildung ist eine wesentliche Voraussetzung für Chancengleichheit am Arbeitsmarkt, gleichberechtigte Teilhabe und Selbstbestimmung”, sagt Niederl.

Dass die Politik verantwortlich ist, ist Soufiene bewusst. Für Kindersendungen hat er sich nie interessiert, für Nachrichten dafür umso früher. Am Morgen Radio, tagsüber politische TV-Sendungen. Als der Brief mit der Absage von der Bildungsdirektion kommt, sagt er zu seinen Eltern: “Wisst ihr, wer daran schuld ist? Der Wiederkehr.” Seine Mutter googelt den Namen und stellt überrascht fest: Soufiene hat recht. Irgendwie. Immerhin ist Christoph Wiederkehr (Neos) nicht nur Vizebürgermeister in Wien, sondern auch Bildungsstadtrat. Der Lehrer:innenmangel, der jetzt längere Schulbesuche verhindert, war absehbar. Wiens Bevölkerung wächst seit Jahren.

“Im Zuge der Einführung der Ausbildungspflicht bis 18 Jahre ist ein Ungleichgewicht zu Lasten von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung entstanden”, räumt das Stadtratsbüro von Christoph Wiederkehr auf Anfrage ein. Wien habe heuer achtzehn zusätzliche SEF-Klassen, kurz für “Klassen für schwerstbehinderte Kinder und Jugendliche”, geschaffen, um möglichst vielen Jugendlichen ein weiteres Schuljahr zu ermöglichen. Dass dennoch Anträge abgelehnt wurden, liege daran, dass der aktuelle Lehrplan für Kinder mit erhöhtem Förderbedarf nur neun Schuljahre vorsehe und die Bundesregierung nicht ausreichend Ressourcen für einen längeren Schulbesuch zur Verfügung stelle. Tatsächlich werden den Ländern für weitere Schuljahre keine zusätzlichen Gelder zur Verfügung gestellt.

Belastende Situation für die Familie

“Spielen. Hunde. Katzen”, erzählt Soufiene von seinem neuen Alltag ohne Schule. Zwei Hunde und drei Katzen hat er zuhause. “Er pickt vor dem Fernseher in seinem Zimmer oder lungert im Wohnzimmer herum”, sagt seine Mutter. Die Struktur fehle ihm. “Ich vermisse die Schule”, sagt auch Soufiene.

Um jeden Tag mit Aktivitäten zu füllen, fehlt seinen Eltern die Energie und das Geld. Soufienes Vater bezieht Invalidenpension, seine Mutter Notstandshilfe. Einen neuen Job suchen? Undenkbar, solange Soufiene zuhause ist. Jeden Tag verbringen Mutter und Sohn zusammen. “Das ist schon kräftezehrend”, sagt Elisabeth Dhifallah.

Dass Soufiene kein Schüler mehr ist, belastet die Familie auch finanziell. Er hat etwa keinen Anspruch mehr auf ein vergünstigtes Jahresticket bei den Wiener Linien. Das bekommen nur Schüler*innen und Menschen mit Sinnesbehinderung. Die 365 Euro für eine reguläre Jahreskarte kann sich die Familie kaum leisten.

Findet Soufiene einen Werkstattplatz, muss er 30 Prozent des Pflegegeldes an sie abtreten. Verdienen wird er dort im Schnitt zwischen 40 und 140 Euro. Pro Monat. Die Rechnung geht nicht auf. Und: Soufiene hat noch keinen Anspruch auf eine erhöhte Mindestsicherung. Für den Behindertenzuschlag müsste er volljährig sein. Diesen November ist er siebzehn geworden. “Das reißt uns ein riesiges Loch in die Tasche”, sagt Elisabeth Dhifallah.

Auch wenn es für Soufiene zu spät ist, wünscht sie sich Gerechtigkeit. Deswegen engagiert Dhifallah sich bei einer Bürgerinitiative, die Unterschriften für das gesicherte Recht auf das elfte und zwölfte Schuljahr für alle Kinder sammelt.

Auch die Eltern von Julian Mühlbacher machen mit. Der 16-Jährige hat das Down-Syndrom und besucht gerade das zehnte Schuljahr. Seit diesem Jahr in der inklusiven Klasse einer Fachmittelschule. Dass dort ein weiteres Jahr nicht möglich sei, habe die Direktorin schon in Julians zweiter Schulwoche gesagt, erzählt sein Vater, Bernd Mühlbacher. Trotzdem hat die Familie schon im Juni Anträge gestellt. Wenn die Absage – mit der sie rechnen – kommt, wollen sie zusammen mit anderen betroffenen Familien eine Verfassungsklage einbringen.

Familie Mühlbacher will mit einer Verfassungsklage weitere Schuljahre für Julian durchsetzen. (von links nach rechts: Claudia, Julian und Bernd Mühlbacher)

“Wir wissen, dass wir kein Einzelfall sind”, sagt Julians Mutter, Claudia Mühlbacher. Sie glaubt: Hinter dem Gesetz, das Julian diskriminiert, steckt auch ein falsches Bild von Menschen mit Behinderungen. „Als könnten sie nach neun Jahren sowieso nichts mehr lernen”, sagt sie. Das Gegenteil ist der Fall. “Entwicklungsverzögerung heißt einfach, dass Julian mehr Zeit braucht. Mit ein, zwei Jahren können Kinder wie er aufholen”, sagt Bernd Mühlbacher. Das rechne sich auch für den Staat. Denn dann sei Julian vielleicht bereit für eine weitere Ausbildung und einen Job am allgemeinen Arbeitsmarkt.

Noch ist er nicht so weit. In die Schule gehe er jeden Tag gerne, erzählt Julian. “Weil ich da lernen darf und Freunde finde”, sagt er. Mit ihnen schaut er gerne Videos auf TikTok. Er ist Stürmer im Fußballverein, lernt Klavier, spielt Theater und liebt die Sendung “Sturm der Liebe”. Gerade übt Julian viel Rechnen, weil nächste Woche Mathe-Schularbeit ist. Wenn er einen Einser bekommt, darf er sich ein Essen wünschen. „Sushi oder Fajitas“ will er nächstes Mal.

 

Verletzt Österreich UN-Konventionen?

“Wenn unsere Tochter Lena durchfällt, kann sie theoretisch noch mit 21 in die Schule gehen. Und ein Kind wie Julian kickt man mit 16 raus”, sagt Bernd Mühlbacher. Laut dem Anwalt der Familie, Wolfram Proksch, verletze Österreich damit neben der UN-Behindertenrechtskonvention auch das UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes. Und die in der Verfassung festgelegten Rechte auf Bildung, freie Berufswahl und gleiche Behandlung.

Rechte, die Soufiene verwehrt wurden. Nach dem Interview verschickt seine Mutter einen TV-Beitrag über ein inklusives Taekwondo-Zentrum. Soufiene, damals noch 15, trainiert dort seit einigen Jahren und wurde interviewt. Er wirkt ausgelassen, zählt auf Koreanisch. Früher habe Soufiene immer wie ein Wasserfall geredet, erzählt Elisabeth Dhifallah. Jetzt sei er in ruhiger geworden, sitze oft in Gedanken verloren da. Was wünscht Soufiene sich? “Dass alles wieder gut wird mit der Schule”, sagt er.

Text und Fotos: Emilia Garbsch

Redaktion: Lisa Kreutzer, Tom Schaffner

Dieser Beitrag ist in Kooperation mit moment.at entstanden.

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