Auf dem Bild sind mehrere Kinder zu sehen. Grafik

Ohne Dich

24. Mai 2023

Einige der Menschen, die meine Umfrage beantwortet haben, haben ihre Geschwister schon verloren. Wie fühlt sich das an und was bedeutet der Verlust von Geschwistern mit Behinderungen?

Teil Vier der Serie Neben Dir – über Geschwister von Menschen mit Behinderungen.

Das Letzte, woran er sich erinnert, ist die Hoffnung. Frank steht im Türrahmen in seinem Elternhaus. Seine Schwester Annika liegt hinter ihm, er schaut noch einmal kurz nach ihr und sie sieht ihn mit klaren Augen an. Vielleicht wird es ja besser, denkt er. Vielleicht wird alles bald wie früher.

Heute, drei Jahre später, weiß Frank, dass er Annika an diesem Dienstag das letzte Mal gesehen hatte. Annika war seit Monaten sehr krank, sie war einige Tage zuvor mit einer Lungenentzündung aus dem Krankenhaus entlassen worden. Frank und seine andere Schwester Steffi kamen auf Besuch. “Sie hatte einen ganz klaren Tag”, sagt Frank heute. “Deshalb bin ich mit einem guten Gefühl gegangen.“ Weniger als 24 Stunden später, am nächsten Vormittag, rief seine Mutter Frank während der Arbeit an. Er wusste warum, bevor er abgehob. Annika war am Morgen des 31. Augusts 2020 verstorben.

An die Tage und Wochen nach ihrem Tod kann Frank sich nur verschwommen erinnern. Frank ist heute 31 Jahre alt und arbeitet in der Öffentlichkeitsarbeit. Er wuchs mit zwei Geschwistern in einem Dorf in der Nähe von Stuttgart auf. Seine Schwester Steffi ist zwei Jahre älter und nicht-behindert, seine Halbschwester Annika, die 2020 verstarb, war 15 Jahre älter und brauchte viel Unterstützung im Alltag. Annika hat Franks Familie zusammengehalten, sagt er: “Jede Beziehung in der Familie hat für sie funktioniert.” Einmal habe er seine Familie gezeichnet, da war sie ein Viereck: Die Schwester, die Mutter, der Vater und in der Mitte Annika.

Als Annika starb, fehlte diese Mitte plötzlich, sagt Frank. Dieses Gefühl, das er beschreibt, man habe ihm sein ganzes Leben genommen, ist eines, das wohl viele Menschen nach dem Verlust einer geliebten Person kennen. Aber für die Geschwister von Menschen mit Behinderungen ist es noch einmal anders. Die Familien von Menschen mit Behinderungen organisieren sich oft um die Person mit Behinderung herum. Warum, das habe ich in der ersten, zweiten und dritten Folge der Serie erklärt.

Was aber passiert, wenn die Person, für die alles funktioniert, plötzlich nicht mehr da ist? Darum soll es in dieser Folge gehen. Dafür habe ich mit Frank und Sarah gesprochen, die ihre Geschwister verloren haben, und eine Trauerbegleiterin befragt.

“Es war, als hätte man die Sonne aus dem Sonnensystem genommen”, sagt Sarah über den Tod ihres Bruders. Auch sie hat sich auf meinen Aufruf vor einigen Wochen gemeldet. “Wir waren wie verlorene Planeten, die ziellos umherfliegen.“

“Es ist, als hätte ich zwei Leben gehabt”, sagt sie. “Mit meinem Bruder ist ein ganzes Leben gestorben.”

Dieses Gefühl kennt auch Frank: “Annika war unser Lebensmittelpunkt.” Seit Frank denken konnte, kam Annika immer um vier oder fünf Uhr aus der Betreuung nachhause. Dann fütterte seine Mutter sie am großen Küchentisch. Die beiden Geschwister sahen zu. Gemeinsam haben sie dann meistens in dem kleinen Tagebuch zu Annikas Tageszustand gelesen, das die Betreuer in der Einrichtung für sie führten: Wie geht es Annika? War sie heute ruhig? Hatte sie genug Stuhlgang? Keine Krämpfe?

Annika konnte nicht sprechen, aber alles verstehen, das die Familie sagte – davon ist Frank überzeugt. Also sprachen sie viel mit ihr, auch im Spiel. “Der Tag war geprägt von Annika”, sagt Frank. Er machte dann zum Beispiel Hausaufgaben in der Küche, während Annika in ihrem Tagesbett lag. Manchmal spielte er auch mit ihr, erzählte ihr Geschichten. “Ich habe wenig Zeit in meinem Zimmer verbracht“, sagt er. Jetzt ist dieser Teil seiner Identität, seiner Familie einfach weg – und lässt eine große Leere zurück. “Ich habe die Person verloren, die ich am meisten geliebt habe”, sagt Frank.

So ähnlich formuliert das auch Sarah: “Es ist, als hätte ich zwei Leben gehabt”, sagt sie. “Mit meinem Bruder ist ein ganzes Leben gestorben.”

Die heute 37-Jährige ist 13 Jahre alt, als ihr älterer Bruder Alex stirbt. Während sie in der Schule ist, hat Alex einen Krampfanfall, den er nicht überlebt. Sarah kommt nach Hause und findet ihre Mutter mit einer Flasche Grappa in der Hand, den Vater, der sich immer wieder auf den Kopf schlägt und sie weiß: Ihr Bruder ist nicht mehr da.

Die Zeit nach dem Tod ihres Bruders sei düster gewesen, sagt Sarah: “Natürlich war nach dem Tod von Alex mehr Raum für mich. Aber den wollte ich gar nicht. Ich habe nicht nur meinen Bruder verloren, sondern auch meine Eltern, die ganz anders waren. Mein soziales Umfeld, alle waren plötzlich weg, vielleicht, weil sie es nicht ausgehalten haben.” Aber mehr noch: “Ich war immer jemand, der für meinen Bruder da ist. Das war auch ein Stück meiner Identität. Das war auf einmal weg.”

Geschichten wie die von Frank und Sarah hat Ursula Weinhäupl oft gehört. Sie ist Klinische und Gesundheitspsychologin und begleitet im Kinderpalliativzentrum MOMO die Familien von schwerkranken und verstorbenen Kindern. “Trauer ist sehr individuell und von ganz vielen Faktoren, auch der Persönlichkeit, abhängig”, sagt sie. Sie begleitet besonders oft Geschwister. “Trauernde Geschwister wollen ihre Eltern nicht zusätzlich belasten”, sagt sie. “Deshalb kann es vorkommen, dass sie ihre Gefühle für sich behalten.” Außerdem können jüngere Kinder ihre Gefühle oft nicht verstehen oder sprachlich ausdrücken. Deshalb sei es besonders wichtig, ihnen einen Ort anzubieten, an dem sie diese Gefühle aussprechen und einordnen können.” Im Palliativzentrum MOMO bietet sie Einzelarbeit, Gruppen- und Elternberatung an. “Wichtig ist, dass Geschwister nicht alleingelassen werden”, sagt sie.

“Der Verlust ermöglicht mir, mein eigenes Leben wieder mehr zu leben”, sagt Frank. “Ich habe mich zuerst sehr für diesen Gedanken geschämt.”

Ein Geschwister mit Behinderung zu verlieren, verändert, wer man ist. Aber es verändert sich auch, wie man auf seine Familie, auf sich selbst blickt: Frank sagt heute, erst mit der neuen Distanz, erst mit der Möglichkeit, nicht bei seiner Familie zu sein, habe er vieles verstanden. Zum Beispiel, wie belastend Annikas Krankheit manchmal war: “Ich musste als Kind immer mit Notfällen rechnen.” Manchmal war Annika über Tage im Krankenhaus – und damit auch Frank und seine andere Schwester. Die ständige Krise war Teil ihrer Normalität. Frank hat schon früh gemerkt: Auch seine Eltern sind überfordert, wenn es Annika plötzlich schlecht geht. Deshalb hat er gelernt, anders zu reagieren, als er wollte: „Ich wollte ‚Hilfe!‘ schreien, aber stattdessen habe ich geholfen.”

Früher habe er oft von sich gewiesen, wie schlimm solche Situationen waren. “Der Verlust ermöglicht mir, mein eigenes Leben wieder mehr zu leben”, sagt Frank. “Ich habe mich zuerst sehr für diesen Gedanken geschämt.”

Diese Scham, die Frank spürte, kann ich selbst gut nachvollziehen. Als Geschwisterkind von jemandem mit Behinderungen wird einem ständig unterstellt, der Bruder oder die Schwester sei eine Belastung: “Würdest du deinen Bruder ‚heilen‘, wenn du könntest?” Das wurde ich schon am Spielplatz gefragt. Und sowohl Frank als auch Sarah hörten die Frage: „Bist du nicht auch erleichtert?“

Diese Frage ist verletzend, anmaßend und schlicht ableistisch, also Menschen mit Behinderungen diskriminierend. Wenn jemand von außen sagt, dass dein Geschwister eine Belastung ist, dann verteidigt man natürlich. Etwas aber stimmt doch: Die Situation, in der Frank und Sarah waren, war schon vor dem Verlust keine einfache – darum ging es in Folge drei dieser Serie. Und besonders schwierig ist es damit umzugehen, dass diese vielen ambivalenten Gefühle auf einmal weg sind, wenn das Geschwisterteil mit Behinderung verstirbt.

Angebote fehlen nicht nur für Familien von Menschen mit Behinderungen, die nicht schwer erkrankt sind, sondern auch für jene, die damit rechnen müssen, bald jemanden zu verlieren.

Trauer ist nie nur ein Gefühl, sagt Psychologin Weinhäupl. Sie bedeutet nicht einfach Traurigkeit, sondern oft auch Wut, Hilflosigkeit, Leere, Schuldgefühle. Diese Gefühle kennt auch Sarah. Die Monate vor Alexanders Tod sind besonders hart für die Familie: Seine Beine werden korrigiert, Monate verbringt Alex deshalb liegend im Wohnzimmer, oft schreit er vor Schmerzen. Für Sarah ist die Situation kaum auszuhalten. Irgendwann reicht es ihr dann: Sie brüllt ihn an und tobt. Er sitzt weinend am Boden vor ihrer Zimmertür, aber Sarah hört nicht auf, sie lässt die ganze Wut auf die Situation an ihm aus. Am nächsten Morgen sitzt sie in der Schule und denkt sich: Was habe ich nur getan? Ich muss mich entschuldigen. Es ist der Vormittag, an dem Alex stirbt.

Dass Familien wie die von Frank und Sarah auch schon vor und lange nach dem Tod ihrer Geschwister so belastet sind, liegt auch daran, dass Angebote fehlen, wie ich in der letzten Folge der Serie erzählt habe. Diese Angebote fehlen nicht nur für Familien von Menschen mit Behinderungen, die nicht schwer erkrankt sind, sondern auch für jene, die damit rechnen müssen, bald jemanden zu verlieren.

Für Trauerbegleiterin Weinhäupl ist das auch eine politische Frage: “Gesellschaftlich ist das Thema Krankheit, Sterben und Tod stark tabuisiert. Das ist eigentlich schräg, weil es uns alle betrifft.” Viele Menschen, die ein schwerkrankes Kind haben oder ein verstorbenes, würden vereinsamen, sagt Weinhäupl. “Ich glaube, das passiert oft aus einer Hilflosigkeit des sozialen Umfelds heraus. Da haben viele Angst, das Falsche zu sagen und sagen dann sowas wie: ‚Melde dich, wenn du was brauchst.‘ Darunter leiden die Familien zusätzlich. „Es braucht Aufklärung und Information.” Auch viele Organisationen wie das Kinderpalliativzentrum MOMO, über das Weinhäupl Kinder und Jugendliche begleitet, sind großteils spendenfinanziert. Viele Jahre lang haben Betroffene das kritisiert. Mit Erfolg: Seit Anfang 2022 sieht ein Gesetz den flächendeckenden Ausbau von Pallitativ- und Hospizversorgung vor. Ein wichtiger Schritt für betroffene Familien: “In ganz Österreich braucht es unkomplizierte und kostenfreie Angebote, die nicht nur spendenfinanziert sind”, sagt Weinhäupl.

Mehr solche Unterstützung hätte sich auch Sarah gewünscht: mehr Beratung für sich und ihre Eltern, ein weniger sprachloses Umfeld, mehr Verständnis und Offenheit für ihren Bruder und die Situation nach seinem Tod. Die Trauer beschäftigt Sarah noch lange – im Alter von 31 Jahren, über zwanzig Jahre nach Alex‘ Tod, arbeitet Sarah ihre Trauer noch einmal auf. Jetzt, sagt sie, fühlt sie nicht mehr vor allem Leere, wenn sie an ihren Bruder denkt. “Mittlerweile überwiegt die Dankbarkeit”, sagt Sarah. “Ich bin so froh, dass es ihn gibt.”

Redaktion: Lisa Kreutzer

Lektorat: Patricia McAllister-Käfer

Graphik: Clara Sinnitsch

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