Wie man kurz die Welt vergisst
Wie sieht Rausch bei älteren Menschen aus, abseits von Drogen und Alkohol? Und was kann man von ihnen lernen? Ein Lokalaugenschein von Luise Jäger und Sandra Schmidhofer.
»Beim Tanzen vergesse ich die Schmerzen«
Inmitten eines Raumes stehen fünf Senior:innen in einer Reihe. Die Tische wurden an den Rand geschoben, über ihnen hängen bunte Faschingsgirlanden. »Aber bitte nicht zu langsam, sonst schlafen wir ja ein«, ruft ein Herr im dunklen Pullover der Tanzlehrerin zu. Die Gruppe trifft sich jede Woche zum gemeinsamen Line Dance. Heute, an einem stürmischen Freitag im Januar, ist nur der harte Kern gekommen.
Im Viervierteltakt hebt die Gruppe abwechselnd das linke, dann das rechte Bein nach vorne, die Zehenspitzen auf den Boden, die Fersen in die Höhe. »Können wir die Musik jetzt schneller drehen?«, lacht ein zweiter Mann. Die Lust auf den Rausch ist da, auf das Loslassen. Wären da nur nicht diese komplizierten Armbewegungen. Doch die Tanzgruppe nimmt es mit Humor, manche beschließen kurzerhand, ihre eigene Choreografie zu tanzen. »I’ll have a last Waltz with you« ertönt es aus dem Smartphone der Tanzlehrerin.
»Beim Tanzen fühle ich mich um 20 Jahre zurückversetzt«, seufzt die Frau mit der Perlenkette. Ihr Gegenüber nickt: »Beim Tanzen vergesse ich selbst die Schmerzen, die ich sonst habe.« Mittlerweile sitzen mehr als doppelt so viele Leute an den Tischen, auf denen Kaffee und Kuchen bereitstehen. Eine Frau mit Blumenbluse lächelt zufrieden. Noch war er nicht da, der Rausch. Doch sie weiß: Wenn der Knoten einmal platzt, kommen die Bewegungen von ganz alleine. Und dann wundert sie sich, dass ihr das Tanzen einmal schwergefallen ist.
Sammelrausch
Als Josef 14 Jahre alt war, schenkte ihm seine Großmutter seinen ersten Plattenspieler. Immer wieder steckte sie ihm ein paar Geldscheine zu. »Da bin ich dann mit großen Augen in die Plattengeschäfte gegangen.«
Heute ist Josef 72 Jahre alt und hat seit seiner Jugend mehr als 3000 Schallplatten, CDs und Kassetten gekauft.
In einem eigenen Zimmer bewahrt er seine Schätze auf, in hohen Regalen, die von oben bis unten befüllt sind. Auf einem Schreibtisch steht sein Laptop, auch hier hat er hunderte von Musikstücken abgespeichert.
»Mit dem Computer ist es dann wie eine Krankheit, da nimmt das Sammeln kein Ende mehr«, lacht Josef.
Eine seiner ersten Platten war das Forellen-Quintett von Schubert. Vorspielen kann er sie nicht mehr. Er hat sie so oft gehört, bis sie so abgenutzt war, dass sie ihren Geist aufgab.
Heute ist es die Musik von Wagner, die Josef alles um ihn herum vergessen lässt. Er dreht den CD-Player auf und sucht sie, diese eine Stelle, am Beginn des dritten Aktes der Oper „Siegfried“.
»Da ist es«, murmelt Josef zufrieden und das Orchester ertönt. Josefs Finger klopfen im Takt, als er die nächste musikalische Wendung ankündigt. Man kann es in seinem Gesicht ablesen: Er taucht ein in Wagners Welt, in die Geschichte eines verzweifelnden Wanderers und dem Untergang der Götter, von dem uns die Musik erzählt.
»In meinem Brotberuf war ich eigentlich Informatiker«, sagt Josef. In seiner Altersteilzeit hat er sich schließlich ganz seiner Leidenschaft hingegeben und Musikwissenschaften studiert. Seit mehr als 50 Jahren geht Josef in Opern und Konzerte und sammelt ein Musikwerk nach dem anderen. Seinen Sohn habe er mittlerweile auch schon „infiziert“, wie er sagt. Wer Josefs Musiksammlung später einmal erben solle, steht fest.
»So lange, bis sich was ändert in der Politik. Oder solange, bis wir tot umfallen.«
Am Wiener Reumannplatz für Vielfalt und Toleranz, im Ars-Electronica-Center in Linz gegen den Burschenbundball: Seit mehr als fünf Jahren stehen OMAS GEGEN RECHTS gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Menschenrechtsverletzungen ein.
Auf Demonstrationen halten die Frauen mit den roten Mützen ihre Schilder in die Luft, doch auch abseits der großen Versammlungen setzen sie ein Zeichen.
Jeden Montag bis Freitag stehen Vertreterinnen von OMAS GEGEN RECHTS am Wiener Ballhausplatz zur täglichen Mahnwache. Sie kommen immer, unerbittlich, in Gruppen, zu Zweit. Hinter ihnen liegen Decken und Sitzkissen gegen die Kälte, wenn es nicht mehr geht, kommt eine neue Schicht. »Wir sind natürlich nicht mehr die Allerjüngsten. Es gibt Krankheiten, es gibt die Enkelkinder, die man plötzlich abholen muss«, erzählt Susanne Scholl, die von Beginn an Teil der Bewegung ist. Doch trotzdem springt fast immer jemand ein.
Seit über zwei Jahren machen sie das. »Wir finden, dass die Politik in Österreich gegenüber Menschen auf der Flucht eigentlich niederträchtig ist.« Susanne ist Jüdin, ihre Großeltern sind von den Nazis ermordet worden. Ihre Eltern haben damals die Flucht nach England geschafft. »Um ein Visum als Dienstmädchen zu bekommen, musste meine Mutter beweisen, dass sie ein Badezimmer putzen kann«, erinnert sich Susanne.
Mitbekommen zu haben, was Erlebnisse wie diese mit ihren Eltern gemacht haben, prägt Susanne bis heute. »Manchmal werden wir gefragt, wie lange wir hier noch stehen wollen. Wir sagen immer: So lange, bis sich was ändert in der Politik. Oder solange, bis wir tot umfallen.« Der Wunsch, noch einen Beitrag zu leisten, treibt sie an. Das Gefühl, gemeinsam, Seite an Seite, für das einzustehen, was man wichtig findet. Das fühle sich schon an, wie ein Rausch, sagt Susanne.
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Redaktion: Lisa Kreutzer
Lektorat: Patricia McAllister-Käfer
Fotos: Clara Sinnitsch, Lisa Kreutzer