»Fast jedes vierte Kind ist arm«

10. März 2023

Fast jedes vierte Kind in Österreich ist armutsbetroffen. Besonders oft trifft es Kinder von Alleinerziehenden. Jutta M. war alleinerziehend und arm in Österreich. Heute engagiert sie sich in einem Verein für Alleinerziehende. Im Interview spricht sie über das, was sie gebraucht hätte, Zeiten ohne Versicherung und Scham.

 

In den Kästen an der Seite findest du Erklärungen.

andererseits: Jutta, fast jedes vierte Kind in Österreich ist laut einer Studie der Volkshilfe und der Gesundheit Österreich GmbH armutsbetroffen. Oft wird darüber gesprochen, dass die staatliche Unterstützung für Alleinerziehende in Österreich nicht ausreicht. Du warst selbst alleinerziehend. Welche Hilfen hast du bekommen?

Jutta: Nachdem ich ein Jahr mit meiner Tochter zuhause war, war ich auf Arbeitssuche. In diesem Zeitraum hatten mein Kind und ich keine Versicherung, weil ich weder Anspruch auf Arbeitslosengeld noch auf Mindestsicherung hatte. Mindestsicherung ist mir nicht zugestanden, weil ich noch Ersparnisse hatte und verlangt wird, dass diese erstmal aufgebraucht werden. Das habe ich gemacht.

Danach habe ich dann erst recht in Armut gelebt. Denn die Mindestsicherung liegt unter der Armutsgefährdungsgrenze. Es hat mich total schockiert, dass man komplett durch das soziale Netz fällt. Dass man gar nichts mehr hat.

a: Später hast du einen Job gefunden. Hat sich deine Situation dadurch gebessert?

Jutta: Nur langsam. Nach einem Monat habe ich wegen fehlender Kinderbetreuung einen Teilzeitjob im Home Office angenommen. Später habe ich einen kostenlosen Kindergartenplatz bekommen, da hat sich die Situation etwas verbessert, denn ich konnte Vollzeit arbeiten. Gereicht hat das Geld aber trotzdem nicht. Ich habe immer geschaut, dass ich sparsam lebe. Gewand gab es nur gebraucht, Essen habe ich oft von Fairteilern (Anmerkung: frei zugängliche Kühlschränke mit kostenlosen Lebensmitteln) geholt, aber da kriegt man natürlich keine frischen Sachen. Das Gemüse schaut da schon sehr traurig aus.

a: Was hat das für ein Gefühl in dir ausgelöst?

Jutta: Ich habe mir gedacht: “Oh Gott, ich kann nicht mit dem Geld umgehen.” Offiziell war ich ja gar nicht arm. Heute weiß ich: Die Armutsgefährdungsgrenze für Alleinerzieherinnen müsste in Wirklichkeit viel höher sein. Das heißt, obwohl man arm ist, gilt man nicht offiziell als arm. Deshalb haben viele Alleinerziehende, die in Armut leben, keinen Anspruch auf Hilfen.

In der Kinderkostenanalyse 2021 vom Sozialministerium ist herausgekommen: Die Kosten für Kinder sind für Alleinerziehende höher als für Haushalte mit zwei Elternteilen. Das ist so, weil zum Beispiel die Miete nicht aufgeteilt werden kann. Bei vielen Sozialleistungen gibt es außerdem keine höheren Sätze für Kinder von Alleinerziehenden. Reagiert wurde auf diese Analyse bisher aber nicht ausreichend.

a: Wie macht Armut mit einem?

Jutta: Darüber könnte ich Bände schreiben. Es schwebt immer im Hinterkopf: Was ist, wenn meine Waschmaschine kaputt geht? Was ist, wenn ich krank werde? Es sind ständige Existenzängste. Und auch dieses Gefühl: Ich kann meinem Kind keine schöne Kindheit bieten. Natürlich kann man immer im Wald spazieren gehen. Natürlich kann man am Wochenende zum Spielplatz. Aber sie sehen ja, was die anderen Kinder haben.

a: Welche Folgen hat Armut für die Gesundheit von Alleinerziehenden und ihre Kinder?

Jutta: Durch die Armut können viele Kinder medizinische Behandlungen, die nicht oder nur zum Teil von der Krankenkasse übernommen werden, nicht erhalten. Das hat Folgen für die ganze Gesellschaft. Insbesondere Kinder mit Behinderungen oder jene erhöhtem medizinischen Bedarf. Kinder können sich so weniger gut entwickeln, gerade bei Kindern mit Behinderungen ist es meiner Erfahrung nach sehr oft so, dass die Männer einfach gehen und die Frauen bei ihnen bleiben.

a: Gibt es keine staatlichen Instrumente, um Armut bei Alleinerziehenden gezielt zu verhindern?

Jutta: Theoretisch gibt es den Unterhaltsvorschuss. Aber vier von fünf Kindern bekommen den nicht. Den gibt es nämlich nur, wenn sich der Staat dieses Geld auch wieder zurückholen kann. Wirklich sinnvoll wäre eine Unterhaltsgarantie, also dass der Staat in solchen Fällen den Unterhalt übernimmt.

Info

Die aktuelle Armutsgefährdungsschwelle betrug im April 2022 monatlich 1.392 €€ für einen Einpersonen-Haushalt.

Armutsgefährdungsschwelle bedeutet: Die Menschen haben so wenig Geld, dass sie schon fast als arm gelten und in Gefahr sind arm zu sein.

Für Alleinlebende und Alleinerziehende sind nach der letzten Sozialhilfe Novelle  rund 1.054 Euro vorgesehen.

Dazu kommt ein Zuschlag von 126 Euro für das erste Kind, ab dem vierten Kind noch rund 32 Euro.

Ab einem Nettoeinkommen unter 1.810 Euro gelten Alleinerziehende mit einem Kind unter 14 Jahren laut Statistik Austria als armutsgefährdet.

Porträt von Jutta. Sie trägt lange braune Haare in einem Seitenscheitel.

a: Wie kommt es deiner Meinung nach dazu, dass Alleinerziehende oft keine passende Unterstützung erhalten?

Jutta: Weil die Armutsgefährdungsgrenze für Alleinerzieherinnen zu niedrig angesetzt ist, wird Armut unsichtbar gemacht. Offiziell gilt etwa die Hälfte der Alleinerzieherinnen und ihre Kinder als arm. Das heißt auch, dass viel mehr Kinder in Armut leben, als offiziell angegeben. Die größte Gruppe armutsbetroffener Kinder lebt in Haushalten von Alleinerzieherinnen.

a: Du sagst, Alleinerziehende arbeiten viel und haben oft trotzdem wenig Geld zur Verfügung. Warum?

Jutta: Der größte Faktor, der Alleinerziehende arm macht: Sie bekommen zu wenig Unterhalt. 2021 bekam ein Kind im Schnitt 304 Euro Unterhalt pro Monat. Die Kinderkosten lagen laut Kinderkostenanalyse aber bei durchschnittlich 900 Euro pro Monat, mittlerweile bei 1.005 Euro. Da geht es um Anteile für Miete, Heizung und Strom, um Grundbedarf und Nachmittagsbetreuung oder den Kindergarten.

Und dann gibt es noch den frauenfeindlichen Vorwurf, dass sich die Frauen mit dem Kindesunterhalt ein lustiges Leben machen. Das Gegenteil ist der Fall, bei durchschnittlichem Unterhalt werden nur ein Drittel der Kosten tatsächlich übernommen. Und dann wird den Frauen auch noch gesagt: Ihr könnt einfach nicht mit dem Geld umgehen. Dazu kommt, dass man sich selbst darum kümmern muss, Unterhalt zu bekommen. Das finde ich vom Grundprinzip her falsch. So kommt man oft in Konflikt mit dem unterhaltspflichtigen Elternteil. Unsummen an Geld werden für Anwälte und Gerichte verbraucht. Das ist ein strukturell geschaffener Konflikt. Das könnte wirklich der Staat regeln.

a: Ab wann ist man deiner Ansicht nach wohlhabend?

Jutta: Für mich heißt „wohlhabend“, dass man sparen und für sein Alter vorsorgen kann. Wenn man sich kleine Dinge einfach erlauben kann. Ich sehe das so, weil ich in Armut gelebt habe. Das geht vielleicht auseinander von dem, was die Gesamtbevölkerung unter wohlhabend versteht: Reich sein, ein großes Haus haben.

a: Wie sollte Vermögen deiner Meinung nach in der Gesellschaft verteilt sein, damit es gerecht ist?

Jutta: Alle Menschen sollen ihre Grundbedürfnisse decken können, ohne überlastet zu werden. Die Verbindung zwischen Armut und Überlastung fällt oft unter den Tisch. Armut bedeutet häufig Überlastung, weil man versucht, mit Zusatzaufgaben irgendwie noch mehr Geld zu bekommen. Aus meiner Sicht sollte auch Care-Arbeit bezahlt werden. Da kann man verschiedene Modelle anwenden, ein Umlage-Modell, Familienlastenausgleich oder eine Millionärssteuer zum Beispiel.

a: Oft kümmern sich Frauen um den Haushalt und die Familie. Das nennt man Care-Arbeit oder auch Sorge-Arbeit. Warum soll Sorge Arbeit bezahlt werden?

Jutta: Mit Care-Arbeit sorgen Frauen dafür, dass der Generationenvertrag erfüllt werden kann. Wir ziehen mit unserer Arbeit die nächste Generation auf, die dann unsere Pensionen zahlt. Aber wir haben nichts von dem Kuchen. Wir arbeiten gratis, aber die Pensionen bekommen auch und vor allem die Männer.

Heute arbeitet Jutta bei FEM.A, einem Verein von und für feministische Alleinerziehende.

 

Info

Wenn sich ein Elternteil hauptsächlich oder alleine um ein Kind kümmert, muss das andere Elternteil Unterhalt bezahlen. Macht das Elternteil das nicht, bezahlt in manchen Fällen erstmal der Staat den Unterhalt. Das nennt man Unterhaltsvorschuss. Der Staat holt sich dieses Geld dann aber wieder von dem Elternteil zurück.

Laut Unterhaltsbefragung erhält mehr als ein Drittel der Alleinerzieherinnen weder vom Staat, noch vom anderen Elternteil Unterhalt oder Ersatzleistungen.

Der Generationenvertrag bedeutet: Alle Generationen zahlen in die Sozialkassen ein. Damit kann soziale Sicherheit für alle entstehen. Der Generationenvertrag ist kein fester Vertrag, sondern eine Idee. Viele Gesetze und Regelungen beruhen auf dieser Idee.

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