Unsere Autorin hat zwei Schwestern. Als jüngste erzählt sie, wie ihre Schwestern und sie erwachsne werden, wo sich ihre Wege trennen, wo sie verbunden bleiben.
Sommer ist eine gute Zeit für Schwestern. Die Zeit selbst verliert an Relevanz, die Schule trennt nicht mehr voneinander und Vieles ist ein bisschen mehr egal: Schlafenszeiten, wie viel Eis du am Tag ist, wie lang man fernsehen darf. Viele Sommer lang war ich so gut wie nie ohne Schwestern. Aber es gab den Sommer, wo sich Vieles änderte. Es war der Sommer, in dem ich das erste Mal als Kind ohne Schwestern Urlaub machte, weil die anderen mit ihren Freunden oder schon der eigenen Familie unterwegs waren. Bald darauf ist meine Schwester, wie die älteste schon Jahre zuvor, ausgezogen von Zuhause. Ab da war ich immer noch Schwester aber es wurde anders. Wo früher die Urlaube am Meer hedonistisch und spaßig waren, ist mir dieser als langweilig, einsam und nachdenklich in Erinnerung. Die Mutter-Vater-Kind-Konstellation war mir fremd. Die ungeteilte Aufmerksamkeit der Eltern fühlte sich komisch an, ich wollte das gar nicht. Wollte lieber wieder mit meiner Schwester ein Team sein als mit meinen Eltern. So kannte ich Familie. Aber Familie ändert sich.
Immer bei den Pferden
In den sehr langen Sommern davor haben meine Schwester und ich uns in bestimmte Sachen sehr hineinsinken lassen. Zeit war keine Einheit mehr, wir haben sie ignoriert. Außer die Uhrzeit wo McLeods Töchter auf VOX gelaufen ist. In einem Sommer haben wir pausenlos in Stille Diddl-Figuren nachgezeichnet. Meine große Schwester konnte es besser als ich, wie so vieles. Einmal hat sie mir den kleinen Honigbären aus dem Koffer, Pimboli, so schön und detailgetreu aufgezeichnet, dass ich das runde Stück Papier mit der Zeichnung drauf ständig in meiner Hosentasche getragen oder in der Hand gehalten habe. Bei einem Kirchenbesuch vor meiner Erstkommunion, Monate später, muss die Zeichnung irgendwo zwischen den harten unbequemen Bänken verloren gegangen sein. Die Tränen sind geflossen, stundenlang danach. Ich bin mehrmals in die Kirche zurück, hab gesucht und gesucht, aber die Zeichnung ist nie wieder aufgetaucht. Die Kirche mochte ich ab da noch weniger.
In den meisten Sommern waren wir die meiste Zeit vor allem eines: bei den Pferden. Meine Schwester und ich waren ein Team und die Liebe zu unseren Pferden hat das noch gestärkt. Wir haben uns zusammen die Gedanken unserer Pferde vorgestellt und die Dialoge laut ausgesprochen. Sie hat mir geholfen, wenn es schwierig war mit meiner Stute. Mir fällt jetzt erst auf: ich hab ihr selten geholfen. Als kleinste Schwester wird man nicht so oft um Hilfe gebeten wie als große. Als das erste Pferd meiner Schwester eingeschläfert wurde, sind wir in ihrem Bett auf einen Haufen gekauert und haben zusammen so hart geweint, dass irgendwann einfach keine Träne mehr rauskommen konnte. Viele Jahre später, als wir beide erwachsen sind, kauern wir uns wieder aufeinander und weinen laut und lang. Diesmal auf meinem Bett, weil auch mein Pferd nicht mehr da ist. Und noch während ich weine, weiß ich, dass niemand sonst mich so versteht wie sie. Nur sie versteht, warum es nicht so schnell wieder aufhört, das Weinen, auch Monate später.
Schwester ist nicht gleich Schwester
Wenn ich an meine Kindheit denke, sehe ich sie: die große Schwester, die viel länger als sie es gemusst hätte, mit mir und den Barbies gespielt hat, die immer da war. Und ich sehe meine zweite, die älteste Schwester, die ein bisschen weniger greifbar für mich war. Wir waren nicht zusammen Kinder, sie war schon 16 als ich geboren wurde. Aber sie hat mich mit neun Jahren schon zur Tante werden lassen, wegen ihr konnte ich ab da schon mitlernen, wie intensiv, anstrengend, schwer, schön, leicht und überwältigend es ist, Mutter zu sein. Unser Band wurde erst dichter gestrickt als ich auch erwachsener wurde. Jetzt freue ich mich umso mehr, wenn wir über unsere Berufe reden. Als sie mich um meine Meinung zu ihren Bewerbungsunterlagen gefragt hat, war das wohl einer der ersten Momente, in denen ich mehr helfen konnte als eine meiner größeren Schwestern mir. Schwester ist nicht gleich Schwester und das ist gut so.
Diesen Sommer sitze ich mit beiden Schwestern auf der Couch und beide sind jetzt auch Mütter. Zeit ist keineswegs mehr irrelevant, wie in den Sommern der Kindheit, die Minuten in denen das Baby schläft, sind die, in denen wir über das Leben reden können und vielleicht auch kurz über meines. Zum dritten Mal sehe ich jetzt dem Mutter-werden zu. Zweimal schon bei der ältesten und nun auch bei der zweitältesten. Ich bin längere Zeit meines Lebens Tante als ich es nicht bin. Der erste Neffe war auch die erste Person, von der ich sagen kann, ich kenne sie ihr ganzes Leben lang. Das fühlt sich sehr gut an. Der jüngste Neffe hat die Haarfarbe meiner Schwester und alle fiebern mit, hoffen, dass der Kleine auch ihre dunklen Locken bekommen wird. Ich frage mich, ob die Familie auch bei meinem ersten Baby noch so mitfiebern wird. Bis dahin, haben sie die ganze Prozedur immerhin schon einige Male durchlebt.
Mehr Mama als Schwester
Als jüngste Schwester hat man viele Möglichkeiten, aus nächster Nähe zu sehen, wie man leben soll und wie das Leben ablaufen kann. Mama zu sein, das füllt dein Leben aus, darauf bin ich nun schon vorbereitet. Meine Freund*innen wurden auch schon vorbereitet, denn ich versende gerne und viele Babyfotos. Ich hab zugesehen, mitgelebt, Lebensphasen, in denen ich selbst noch nicht mal war, kennengelernt. Ich hab mich orientiert, nachgeeifert, gedacht, dass das Leben so sein muss, wie das der Schwestern. Das dicke Band zu ihnen ist die meiste Zeit die schönste Stütze im Leben. Manchmal hab ich es mir aber auch zu fest gemacht, habe nicht verstanden, dass ich meine eigenen Wege finden muss.
Aus meinen Schwestern wurden Mütter, sie haben ihre ganz eigenen Gefährt*innen, das bin nicht mehr nur ich. Und ich liebe es, dem zuzusehen, zu lernen, aus stundenlangen Gesprächen heraus alle möglichen Gefühle und Ereignisse mitzunehmen, die für mich erst in der Zukunft liegen. Manchmal ist es so, als würde ich sie über das Leben ausfragen, damit ich mehr vorbereitet bin auf meins. Gleichzeitig sitz ich aber auch zwischen ihnen auf der Couch, die eine stillend, die andere das trinkende Baby anlächelnd, und fühle mich sehr allein. Ich bin die letzte, vom Mutter sein bin ich noch weit entfernt. Ich kann keine Erlebnisse damit mit ihnen teilen, sie sind noch nicht passiert. Ich würde stattdessen gern mehr über Anderes reden, etwas von meinem Leben in den Raum stellen. Aber Mutter zu sein, füllt dein Leben eben erstmal voll aus. Und darum schauen wir alle aufs Baby und das ist auch schön so. Jetzt ist eben die Zeit dafür.
Backen mit der Mama ist schwierig
Immer häufiger werden die Momente in unserem Elternhaus, in denen nur noch ich mit Mama und Papa am Tisch sitze. Mutter-Vater-Kind. Meine beiden Schwestern in ihren eigenen Zuhause. Ich bin auch Teil davon, aber sie haben trotzdem ihren eigenen Raum und ich schwebe noch dahin, zwischen Stadt und Land, zwischen Studium und Arbeit, zwischen Heimkommen und Fernweh. Immer öfters finde mich bei den Besuchen zu Hause als einzige in längeren Gesprächen mit der Mutter, die beiden anderen Schwestern sind beschäftigt mit ihrer eigenen Rolle als solche und nicht da. Abends beim Fernsehen lach ich alleine über den schnarchenden Papa in mich hinein. Meine Mutter greift nach meiner Hand und hält sie fest. Früher mal waren es die Hände von mir und den Schwestern. Meine hält sie nun umso fester. Das verstehe ich. Ich bin die letzte, die “nur” Tochter ist und nicht schon mehr Mutter als Tochter. Bei mir kann sie noch am meisten Mama sein.
Als jüngste Schwester bin ich in eine Welt hineingeboren worden, wo ich immer mindestens eine Schwester zur Seite hatte. Es gab immer jemanden außer den Eltern, der deine nächste Welt teilt, sie ähnlich sieht und erlebt wie du. Jemanden, der ähnliche Gute-Nacht-Geschichten hört, dieselben Streitgespräche der Eltern mitbekommt, den gleichen Tagesrhythmus hat, die gleichen Kuchen der Mutter liebt. Jemanden, der es gleich hasst wie du, mit der Mutter gemeinsam zu backen, weil es einfach nicht funktioniert. Je erwachsener ich werde, desto mehr sehe ich, dass die gemeinsame Welt auch unter Geschwistern irgendwann zu mehreren eigenen Welten wird. Die älteren Schwestern sind schon weiter als ich, haben schon mehr Zeit auf dieser Welt verbracht, schaffen ihren eigenen Kosmos, wie früher auch unsere Eltern ihren eigenen geschaffen haben. So verläuft das nunmal im Leben: aus einem gemeinsamen Kosmos entstehen mehrere neue. Zeitlich gesehen bin ich nur eben die letzte von dreien, die sich einen eigenen zusammen baut. Und es braucht noch ein bissl.
Text: Katharina Brunner
Illustration: Steffi Frossard | IG: komodorhino
Fotografie: Irene Ungerboeck| IG: aireeny