Unser Autor arbeitet in einer Werkstätte für Menschen mit Behinderung. Er fragt sich, warum es solche immer noch braucht – obwohl Deutschland doch die UN-Behindertenrechtskonvention unterschrieben hat. Und fordert den Mindestlohn.
Von Nikolai Prodöhl, unterstützt von Lisa Kreutzer
Seit 13 Jahren arbeite ich in einer Gärtnerei für Menschen mit Beeinträchtigungen, dort, wo ich lebe: in Hamburg. Ich ernte Feldsalat, Postelein, Rauke (in Österreich auch als Vogerlsalat, Portulak, Rucola bekannt) oder Chicorée. Ich packe alles in Kisten und pflanze Feldsalat oder Spinat im Gewächshaus. Außerdem spritze ich Pflanzenstärkungsmittel, jäte Unkraut und gieße im Gewächshaus und im Hausgarten.
Die Gärtnerei ist ein geschützter Arbeitsplatz. Eine sogenannte Werkstätte. Eine von mehr als 3000 in Deutschland, in denen rund 320.000 Menschen mit Behinderungen beschäftigt sind.
Ich arbeite in der Werkstatt, weil ich mehr Erklärungen brauche und nicht so schnell arbeiten kann. Dort werde ich gefördert und nicht rausgeschmissen, wenn ich die Leistung nicht bringe oder nicht so schnell arbeite. Denn Stress bei der Arbeit kann ich nicht ab. Wenn ich Stress habe, fühle ich mich unwohl und manchmal werde ich davon krank.
Das nennt man den zweiten Arbeitsmarkt. Ich bekomme Anleitung, bei der ich ohne hohen Leistungsdruck lernen kann. Zum Beispiel habe ich gelernt, wie ich mit Maschinen wie der Fräse und dem Rasenmäher umgehen kann. Was und wie ich ernten soll, wie ich ein Beet im Gewächshaus ausmesse und was ich anpflanzen soll.
Außerdem bekomme ich Urlaub für Weiterbildungsangebote für Menschen mit Beeinträchtigungen. Damit ist es mir möglich, ein Praktikum zu machen. Und es gibt einen Außenarbeitsplatz. Da arbeitet man auf dem ersten, regulären Arbeitsmarkt, ist aber weiter in der Werkstatt für Menschen mit Beeinträchtigungen angestellt. Der Vorteil ist, dass man nicht so unter Druck steht und wieder in die Werkstatt zurückkehren kann. Denn wir haben dort nur ein arbeitnehmerähnliches Rechtsverhältnis. Also keine Leistungsverpflichtungen und einen erhöhten Kündigungsschutz. Das ist die positive Seite.
Jetzt kommt die negative Seite: Weil wir Menschen mit Beeinträchtigung in der Werkstatt nicht als normale Arbeitnehmer anerkannt sind, bekommen wir den Mindestlohn nicht. Wir haben nur Anspruch auf ein Werkstätten-Gehalt.
Laut Statistik des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zur Rentenversicherung von Menschen mit Behinderungen in Werkstätten betrug das durchschnittliche monatliche Arbeitsentgelt eines Werkstattbeschäftigten etwa 180 Euro. Ich bekomme für meine Arbeit von meiner Werkstatt 175 Euro pro Monat. Das sind ungefähr zehn Euro am Tag. Rund 1,5 Euro pro Stunde.
Die Werkstätten haben eigentlich das Ziel, Menschen mit Einschränkungen in den ersten Arbeitsmarkt zu bringen. Aber das schafft kaum jemand, weniger als ein Prozent. Die Werkstätten begünstigen also keine Inklusion. Im Gegenteil: Das System schafft noch mehr Exklusion indem es uns Menschen mit Beeinträchtigungen in den Werkstätten unterbringt. Aus ihnen herauszukommen ist sehr schwierig.
Das macht mich manchmal traurig. Denn ich würde gerne auf dem ersten Arbeitsmarkt als Journalist arbeiten. Am liebsten würde ich Audio-Beiträge im Bereich des inklusiven Sports und über die Teilhabe für Menschen mit Einschränkungen machen.
Das macht mich manchmal traurig. Denn ich würde gerne auf dem ersten Arbeitsmarkt als Journalist arbeiten.
Mein Traum ist es, zu den Paralympics in Tokio zu fahren und von dort als Reporter zu berichten. Ich würde es gut finden, wenn im Hörfunk, im Fernsehen und in Zeitschriften mehr über das Thema Inklusion und Teilhabe gesprochen wird. Dadurch, glaube ich, würden auch Menschen mit Einschränkungen mehr beachtet werden. Dann hätten wir auch eine Stimme in der Gesellschaft.
Bisher habe ich vier Wochen in einer anderen Gärtnerei ein Praktikum gemacht. Im Fernsehen und Hörfunk konnte ich insgesamt sechs Wochen Praktika machen. Dort waren die Redakteure nett zu mir. Sie haben mir alles erklärt. Doch sie haben mir gesagt, es gibt gerade noch keine Arbeitsstelle im Journalismus für mich als Menschen mit einer intellektuellen Einschränkung. Das liegt daran, dass viele Redaktionen nicht inklusiv sind. Mich ärgert das, weil in Deutschland rund 7,9 Millionen Menschen mit Einschränkung leben. Das sind ungefähr zehn Prozent der gesamten Bevölkerung. Laut einer Studie der Neuen Deutschen Medienmacher:innen sind Menschen mit Behinderung in den deutschen Abendnachrichten kaum wahrnehmbar: “Nur bei 0,7 Prozent aller auftretenden Menschen war eine Behinderung erkennbar.” Das spiegelt nicht den Anteil in der Bevölkerung wieder.
Am Montag, Dienstag und Freitag stehe ich um 6:00 Uhr auf. Ich springe eine Runde auf dem Trampolin und frühstücke, Brot mit Aufschnitt und Kaffee. Danach gehe ich 8 Stunden arbeiten, am Donnerstag von 8:00 bis 13:00 Uhr. Mittwochs habe ich frei für meine journalistischen Projekte bei TIDE.radio in Hamburg und andererseits in Wien.
Um die Wohnung bezahlen zu können und Lebensmittel zu kaufen, bekommen Menschen mit Behinderung eine Grundsicherung. Das Amt bezahlt die Wohnung, die Heizung und das warme Wasser. Die Kosten für die Wohnung sind bei jeder Person unterschiedlich hoch. Das ist der Vorteil der Grundsicherung, dass der Lebensunterhalt gesichert ist. Doch die Grundsicherung hat auch Nachteile: Ich muss zum Beispiel jeden Zuverdienst dem Sozialamt melden. Das wird dann an die Grundsicherung angerechnet. Ich finde es zum Beispiel mit dem Weihnachtsgeld schwierig, denn das bekomme ich ja, damit ich Geschenke kaufen kann oder was Gutes zum Essen. Ich muss es dann melden und es wird die Hälfte abgezogen. Obwohl ich 28 Stunden in der Gärtnerei arbeiten gehe, kann ich nicht frei alles kaufen was ich möchte. Denn das Sparen ist mit so einem geringen Lohn schwierig und was ich mir dazu verdiene, muss ich melden.
Es wird gesagt, dass Werkstätten weniger Gewinn machen, als Betriebe auf dem ersten Arbeitsmarkt, weil wir langsamer arbeiten und mehr Anleitung brauchen. Deshalb kann man uns keinen Mindestlohn zahlen. Aber die Werkstätten verkaufen die Produkte, die wir Menschen mit Beeinträchtigung in den Werkstätten herstellen, oder unsere Arbeitskraft. Manche frankieren Briefe, andere arbeiten in Wäschereien oder ordnen und stapeln Waren in Betrieben. Es gibt deutsche Unternehmen, die mit Werkstätten für Menschen mit Einschränkungen zusammenarbeiten. Das sind große Firmen wie Volkswagen oder Siemens, aber auch das Goethe-Institut. Bei mir ist es die Arbeit in der Gärtnerei. Wir verkaufen in unserem Laden Gemüse und Kräuter.
Im Jahr 2018 haben alle Werkstätten in Summe 5,1 Milliarden Euro Vergütungen von der Eingliederungshilfe erhalten. Davon zahlen sie unter anderem Löhne und Mieten. Die Werkstätten in Deutschland machen einen Gewinn, das heißt, sie sind gewinnorientierte Unternehmen.
Aber wir Menschen mit Beeinträchtigung arbeiten für sehr wenig Geld. Es ist ungerecht, dass Menschen mit Beeinträchtigung für ihre Arbeit keinen fairen Lohn bekommen. Ich fordere den Mindestlohn für Menschen mit Beeinträchtigungen, weil wir in der Werkstatt unsere Arbeit so gut es geht erledigen.
Es gibt ein UN-Abkommen, die Behindertenrechtskonvention. Deutschland hat die 2009 unterschrieben. Laut dieser soll gefördert werden, dass Menschen mit Einschränkungen auf dem offenen, also dem ersten, Arbeitsmarkt arbeiten können. Werkstätten für Menschen mit Behinderungen in Deutschland verstoßen gegen dieses UN-Abkommen. Das sagen auch Politikerinnen der EU. Die wollen Werkstätten eigentlich abschaffen.
Werkstätten für Menschen mit Behinderungen in Deutschland verstoßen gegen dieses UN-Abkommen. Das sagen auch Politikerinnen der EU. Die wollen Werkstätten eigentlich abschaffen.
In Österreich gibt es etwa ein Behinderteneinstellungsgesetz. Jedes Unternehmen mit mehr als 25 Mitarbeiter:innen muss mindestens einen begünstigten Arbeitsplatz für einen Menschen mit Beeinträchtigung anbieten (und für jeweils 25 Mitarbeiter:innen mehr einen weiteren). Sonst muss das Unternehmen eine Strafe von einigen hundert Euro pro Monat und Arbeitsplatz zahlen. In Deutschland muss man ab 20 Mitarbeiter:innen, Menschen mit Behinderung einstellen. Das sind aber selten Menschen mit einer intellektuellen Einschränkung. Wir arbeiten oft in Werkstätten, 75 Prozent dort haben eine intellektuelle Einschränkung.
Wenn ich in den Medien einen Arbeitsplatz bekommen könnte, der branchenüblich bezahlt ist, wäre ich nicht auf die Grundsicherung angewiesen. Dann könnte ich sparen und selbstständig leben. Aber dafür müsste die Stelle auf mich angepasst sein. Um in einer Redaktion gut arbeiten zu können, brauche ich Unterstützung in der Themenfindung, in der Recherche, in der Interviewführung. Das wäre echte Inklusion. Denn ich bringe im Gegenzug eine neue Perspektive in die Berichterstattung ein – als Vertreter einer Bevölkerungsgruppe, die bisher im Journalismus kaum vertreten ist.
Ich denke, Menschen mit Einschränkung müssen mehr wertgeschätzt werden. Für alle Menschen, die einer Arbeit nachgehen, ist es wichtig, einen Mindestlohn zu bekommen. Ich glaube, der Mindestlohn kann auch motivierend sein, bessere Arbeit zu leisten, weil ich mich dann mehr wertgeschätzt fühle. Vielleicht hätte ich dadurch auch mehr Arbeitsdruck, weil ich mehr leisten müsste. Ich würde mir den Mindestlohn für uns Menschen mit Einschränkungen trotzdem wünschen. Ein fairer Lohn hat etwas mit der Würde des Menschen zu tun.