Teil Eins der Serie ‚Neben Dir – über Geschwister von Menschen mit Behinderungen.‘
Wenn wir einschlafen, liegen unsere Hände ineinander. Mein Bruder schläft auf einer Matratze neben mir, meine Schwester im Hochbett über uns. »Gute Nacht«, sagt sie jeden Abend. »Gute Nacht«, sage ich. »Mhm«, sagt mein Bruder und dann, wenn wir nur noch halb wach sind, verhaken wir unsere Finger.
Heute, fast 15 Jahre später, glaube ich manchmal, seine Hände noch immer in meinen zu spüren, abends im Bett. Mein Bruder, Matthias, war meine Selbstverständlichkeit. Er wurde genau zwei Jahre nach mir geboren. Er war also da, seit ich denken kann. Und für mich war klar, dass ich für immer so leben möchte, am liebsten so nah, dass ich nicht aufhören müsste, seine Hand zu halten.
Jetzt ist das anders. Ich bin 25 Jahre alt, jeder Schritt in mein Leben als Erwachsene ist ein Schritt weg von Matthias.
Matthias wurde mit Trisomie 21 geboren, früher nannte man das Down-Syndrom. Unsere Welt ist nicht gemacht für ihn. Mir wird das mit jedem Jahr deutlicher, das ich älter werde.
Während ich die Schule, mein Studium abschließe und immer weiter in der Mitte der Gesellschaft lande, wird mein Bruder mehr und mehr nach außen gedrängt. Für mich gibt es in unserer Welt immer mehr, für ihn viel weniger Optionen. Menschen mit Lernschwierigkeiten (früher: intellektuelle Behinderung) wie mein Bruder besuchen meist vom Anfang ihres Lebens an Sondereinrichtungen: eine Schule, in die nur Menschen mit Behinderungen gehen. Sie wohnen oft immer noch in Heimen oder Wohneinrichtungen, die ihnen nur wenig Freiheit einräumen. Sie arbeiten in sogenannten Werkstätten, in denen sie keine reguläre Bezahlung bekommen, sondern von Sozialleistungen abhängig sind. Das alles geschieht, obwohl es seit über zehn Jahren eine UN-Behindertenrechtskonvention gilt, die ihnen Teilhabe verspricht. Eigentlich sollte Matthias also längst dieselben Möglichkeiten haben wie ich.
Dass das nicht so ist, kommt auch daher, dass Menschen mit Behinderungen oft als kleine Randgruppe wahrgenommen werden. Das sind sie aber nicht. Allein in Österreich gibt es 1,3 Millionen Menschen mit Behinderungen, in Deutschland 10,4 Millionen. Behinderung ist ein weiter Begriff, der viele unterschiedliche Erfahrungen umfasst. Natürlich ähneln nicht alle den Erfahrungen meiner Familie. Aber dazu, wie viele Menschen mit Behinderungen Geschwister haben, gibt es keine Zahlen. Fest steht: Es geht um mehrere Millionen Menschen in Deutschland und Österreich. Trotzdem spricht kaum jemand darüber, wie es ist, neben jemandem mit Behinderung aufzuwachsen. Warum ist das so und was bedeutet das Geschwistersein?
Unsere Welt ist nicht gemacht für Menschen wie meinen Bruder Matthias. Ich habe aber keine Lust mehr, deshalb traurig oder ängstlich zu sein.
Vor rund zwei Wochen habe ich eine Umfrage gestartet und euch, die andererseits-Community, gebeten, mir zu erzählen, wie es euch geht mit dem Geschwistersein. Innerhalb weniger Stunden machten über 50 Leute mit. 50 Geschichten, 50 Menschen, denen es so geht wie mir.
Alle eure unterschiedlichen und doch ähnlichen Geschichten zu lesen, hat mich sehr bewegt. Ich habe sie nach und nach gelesen, nach drei oder vier musste ich meistens eine Pause machen und tief durchatmen, oft habe ich geweint. Da erkenne ich so viel von mir wieder. Da sind Menschen, die etwas, das ich nie wirklich sagen konnte, sagen. Etwas reißt auf in mir. Ich denke mir: Ich bin gar nicht alleine. Unsere Welt ist nicht gemacht für Menschen wie meinen Bruder Matthias. Ich habe aber keine Lust mehr, deshalb traurig oder ängstlich zu sein.
Jetzt wo ich eure Geschichten kenne, finde ich: Es wird Zeit, die Welt ein bisschen durcheinanderzuwirbeln. Für die, die noch nicht verstehen, was mir so weh tut, möchte ich den Abstand zeigen, zwischen dem, wie die Welt ist und wie sie sein sollte. Und für mich, für euch, die wir in diesem Abstand leben, möchte ich sie so lange durcheinanderwirbeln, bis sie beginnt, zu dem zu passen, was wir sehen und hören und fühlen. Lasst uns die Welt ein bisschen durcheinanderwirbeln! Diese Serie, die wir in fünf Folgen geplant haben, soll ein erster Anstoß dazu sein.
Der Grund, warum ich meine Umfrage begonnen habe, war der Wunsch nach jemandem, der weiß, was für ein Geschenk es ist, Geschwister zu haben – egal, ob mit Behinderung oder ohne. Ein bisschen ist dieser Wunsch schon in Erfüllung gegangen. Ich lese die ersten Ergebnisse unserer Umfrage am Abend des Tages, an dem wir sie gestartet haben. Viele von euch erzählen, dass es schön ist oder war mit einem Geschwisterkind mit Behinderung aufzuwachsen:
»Er war sehr charismatisch und richtig sonnig. Er hat die unterschiedlichsten Menschen in Sekunden für sich gewonnen, obwohl er kaum sprechen konnte«, schreibt eine Schwester über ihren älteren Bruder. »Weil er frei war von Hemmungen und gesellschaftlichen Regeln, wurde ihm ein Leben mit einer Art von Natürlichkeit ermöglicht, wovon man nur träumen kann. Obwohl er so viel Schmerz aushalten musste, war er voller Leben und hatte eine ungebremste Freude und Spaß an allem Möglichen.«
Eine andere Person beschreibt ihre Schwester so: »Ich bin sehr froh und dankbar für alles, was ich von und durch meine behinderte Schwester lerne. Dadurch wurde ich schon viel früher für Behinderung(en) und den Umgang damit sensibilisiert.«
Ihr erzählt von schönen Momenten, vom gemeinsamen Urlaub, davon, was ihr gelernt habt.
Aber es geht auch um Verantwortung und darum, wie schwierig es sein kann, wenn ein Mitglied der Familie mehr Unterstützung braucht als andere:
»Es hat mich selbstständig werden lassen, weil meine Mutter sehr viel mit meinem Bruder unterwegs war, in Kliniken, Physio u.s.w. Ich bin auch sehr sensibel, wenn es um meinen Bruder geht, weil er eben diese Behinderung hat.«
In der zweiten Folge dieser Serie »Neben Dir – Was bedeutet es, Geschwister von jemandem mit Behinderung zu sein?« geht es darum, wie sich eine Familie strukturieren kann, wenn jemand mit Behinderung Teil davon ist. Und wie das Aufwachsen mit jemandem mit Behinderung eine Familie verändert. Denn darum geht es auch in vielen eurer Antworten:
»Ich habe erst als Erwachsene langsam realisiert, was mir das Aufwachsen mit meinen Bruder abverlangt hat. Ich kannte es nicht anders, für mich war es ‘normal’ so. Die Prägung, meine Bedürfnisse zurückzustecken und mich unterzuordnen, hält bis heute an«, schreibt zum Beispiel eine Schwester. Und es geht um dieses merkwürdige Gefühl, das ich so gut kenne: »Ich habe mich eher manchmal schuldig gefühlt, dass mir so viel mehr Türen offen stehen als ihr«, schreibt eine junge Frau über ihre Schwester.
Die Familien sind mit dem Thema Behinderung oft weitgehend alleine, viele staatliche Hilfen greifen nicht weit genug.
Was in diesen Geschichten klar wird: Die Familien sind mit dem Thema Behinderung oft weitgehend alleine, viele staatliche Hilfen greifen nicht weit genug. Natürlich ist das eine massive Belastung, ich kenne das gut aus meiner eigenen Familie, dieses Gefühl, um Unterstützung kämpfen zu müssen, das war bei uns immer schon da.
Darum wird es in der dritten Folge gehen: Um eine Welt, die nicht gut genug ist, für Menschen wie meinen Bruder. Die Geschichten so vieler Menschen zu lesen, denen es geht wie mir, hat mich nämlich wütend gemacht. Einerseits auf die großen Systeme, Arbeit, Bildung, in denen Menschen wie mein Bruder keinen Platz zu haben scheinen, und andererseits auf die vielen, kleinen Erfahrungen, die Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen damit machen. Zum Beispiel das Gefühl, das einem viele geben, anders und belastet zu sein. Das war auch ein wichtiges Thema in vielen eurer Antworten: »Viele haben Mitleid mit meiner Schwester, meinen Eltern und mir. Diese Blicke sind manchmal nicht zu ertragen gewesen«, schreibt eine Schwester. »Es war auch sehr schmerzhaft für mich, wenn er Ablehnung erfahren hat«, eine andere über ihren Bruder.
Manche von euch haben ihre Geschwister schon verloren. Auch wenn ich das sicher nur schwer nachfühlen kann – ich weine nur beim Gedanken daran, ohne meinen Bruder leben zu müssen. Es tut mir sehr leid, dass ihr eure Geschwister verloren habt. Darum wird es in der vierten Folge gehen. Ich möchte ihnen und euch mit eurer Erlaubnis einen ganz besonderen Platz in dieser Serie geben.
In der fünften Folge möchte ich eine Art Anleitung für Geschwister und alle schreiben, die keine Lust haben sich damit abzufinden, „wie die Dinge nun mal sind“. Diese Serie soll deine Einladung sein, das auch nicht mehr zu tun. Ich glaube, dass alle Menschen etwas zur Veränderung beitragen können. Darüber, wie so ein Beitrag für unterschiedliche Menschen aussehen kann, werde ich in der letzten Folge mit Menschen mit Behinderungen sprechen. Lasst uns gemeinsam überlegen, wie sich unsere Gesellschaft verändern würde, wenn alle Menschen gleichberechtigt daran teilhaben könnten.
Redaktion: Lisa Kreutzer, Patricia McAllister-Käfer
Lektorat: Patricia McAllister-Käfer
Graphik: Clara Sinnitsch
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