Wählen zu dürfen ist in Deutschland ein Grundrecht. Doch unser Autor Nikolai Prodöhl stößt dabei auf viele Barrieren.
Ich war aufgeregt, als ich das Wahl-Lokal betreten habe. Mit 19 Jahren durfte ich zum ersten Mal wählen. Damals wählten Bürger*innen 2008 einen neuen Landtag in Hamburg. Der Landtag ist das Parlament eines Bundes-Landes in Deutschland.
Meinen Stimm-Zettel holte ich am Empfang ab, dann ging ich in die Wahl-Kabine, um meine Kreuze zu machen. Ich musste lange überlegen, was ich dort ankreuzen möchte. Auf dem Stimm-Zettel gab es eine lange Liste mit Parteien und ich brauchte einige Zeit, um mich überhaupt mal auszukennen. Meine Eltern warteten draußen auf mich. An diesem Tag fühlte ich mich nicht gut informiert. Um ehrlich zu sein, wählte ich einfach die Partei, die ich am sympathischsten fand.
Es ist nicht selbstverständlich, dass ich als Person mit Beeinträchtigung meine Stimme dort abgeben konnte. Ich durfte schon immer wählen, da ich keine rechtliche Betreuung habe und selber entscheiden kann.
Viele andere Menschen mit Beeinträchtigungen aber wurden mit dem Gesetz vom Wählen ausgeschlossen. Erst 2019 urteilte das Bundes-Verfassungs-Gericht, dass zwei Absätze des Bundes-Wahl-Gesetzes gegen die Verfassung verstießen. Das Gesetz hat etwa 85.000 Menschen mit Beeinträchtigungen, die eine rechtliche Betreuung haben, bis dahin vom Wählen ausgeschlossen. Erst 2021 änderte sich das.
Ich finde Wählen wichtig. Wählen bedeutet für mich, dass ich mitbestimmen darf, wer in die Regierung kommt. Aber für Menschen mit Beeinträchtigungen gibt es beim Wählen immer noch zu viele Barrieren.
Eine große Umfrage im Auftrag vom Bundes-Sozial-Ministerium hat 2022 gezeigt: 9 von 10 Menschen ohne Behinderungen wählen regelmäßig – und Menschen mit Behinderungen wählen fast genauso oft.
Aber: Nicht alle Menschen mit Behinderungen nehmen bei Wahlen gleich viel teil. Ein Viertel der Menschen mit Lern-Behinderungen und über ein Drittel mit Sprach-Behinderungen geht nur „ab und zu“ oder „nie“ wählen. Besonders selten wählen auch Menschen in Wohn-Heimen für beeinträchtigte Menschen: 2 von 5 haben gesagt, dass sie nie wählen.
Barrieren beim Informieren über Wahlen
Das zeigt: Menschen wie ich wählen viel seltener. Die erste Wahl war für mich schwierig, da ich nicht viel über Politik wusste. Ich wusste nicht, was Kanzler*innen, Präsident*innen und Minister*innen sind und welche Aufgaben sie haben. Als Kind und junger Erwachsener hat mich Politik wenig interessiert. Das lag auch daran, dass ich nicht wusste, wo ich mich richtig informieren könnte.
Die Informationen online und in Zeitungen waren schwer zu verstehen, da dort kaum jemand in einfacher Sprache schrieb. In der Schule habe ich erst mit ungefähr 16 Jahren richtig lesen und schreiben gelernt. Deswegen kann ich schwierige Artikel nicht gut lesen und verstehen. Aber um mein Wahl-Recht gut nutzen zu können, muss und will ich mich über Politik informieren können.
Mit diesen Problemen bin ich nicht allein. In Deutschland sind mehr als 10 Millionen Menschen auf einfache und Leichte Sprache angewiesen. Das sind zum Beispiel Menschen mit Lern-Schwierigkeiten oder Menschen, die nur wenig lesen können. Aber auch Menschen mit geringen Deutsch-Kenntnissen oder Demenz.
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Damit man sich gut auf eine Wahl vorbereiten kann, gibt es in Deutschland den Wahl-O-Mat. Das ist eine Website. Ich habe die Seite nicht verstanden. Die Fragen dort sind nicht in einfacher Sprache geschrieben.
Für mich ist es wichtig, dass Texte in kurzen Sätzen und ohne Fremd-Wörter geschrieben sind. Schwierige Wörter sollen erklärt werden. Bis heute gibt es den Wahl-O-Mat nicht in einfacher Sprache.
Der Wahl-O-Mat wird von der Bundeszentrale für politische Bildung mit Steuergeldern finanziert und sollte deshalb für alle zugänglich sein.
Auch die Wahl-Programme der Parteien waren für mich schwierig zu verstehen, da sie auch nicht in einfacher Sprache geschrieben waren. Deswegen habe ich an Wahl-Veranstaltungen in Leichter Sprache teilgenommen. Wohn-Gruppen und Werk-Stätten haben diese gemacht. Dort haben Politiker*innen darüber gesprochen, was sie für mehr Inklusion und Teilhabe tun wollen. Es ist oft der einzige Ort, wo es Informationen in einfacher Sprache über Wahl-Programme gibt. Darum ist es wichtig, dass es diese Veranstaltungen gibt.
Aber ich finde, es ist eigentlich nicht die Aufgabe der sozialen Einrichtungen, über die Wahl zu informieren. Sondern das ist die Aufgabe der Politik. Die Parteien sollten alle Wahl-Programme in einfacher Sprache herausgeben und Wahl-Veranstaltungen in einfacher Sprache machen. Wenn Einrichtungen wie Wohn-Gruppen und Werk-Stätten über Wahlen informieren, ist es meiner Meinung nach wichtig, dass sie die Veranstaltung nicht mit ihren Meinungen beeinflussen.
Bauliche Barrieren
Verschiedene Barrieren halten Menschen vom Wählen ab. Meine zweite Wahl war die Bundes-Tags-Wahl 2012. Inzwischen wohnte ich nicht mehr bei meinen Eltern, sondern in einer Wohn-Gemeinschaft. Diesmal suchte ich wieder Informationen über die Wahl im Internet. Damals konnte ich kaum Informationen in leichter Sprache finden. Heute ist es etwas besser. Es sollte aber noch mehr Möglichkeiten geben, sich in leichter Sprache zu informieren.
Und auch das Wählen selbst ist oft nicht barriere-frei. Viele Wahl-Lokale sind baulich nicht barriere-frei. Ein Recht auf barrierefreie Wahl-Lokale gibt es in Deutschland nicht. Ein Sprecher des zuständigen Bundes-Innen-Ministeriums schreibt mir: „Da man auch mit Brief-Wahl und mit Hilfs-Personen wählen kann, gibt es keinen Anspruch aus der Verfassung auf behinderten-gerechten Zugang zum Wahl-Lokal.“ Laut Ministerium waren 71 Prozent aller Wahl-Lokale bei der Bundestagswahl 2017 barriere-frei. Für die Bundestags-Wahl 2021 kennt das Ministerium die Zahlen nicht.
Barrieren bei der Brief-Wahl
Mir machen es andere Dinge schwer, zu wählen. Bei meiner zweiten Wahl 2012 wollte ich weniger gestresst sein und mehr Zeit haben, um mein Kreuz auf dem Wahl-Zettel zu machen. Darum habe ich die Brief-Wahl beantragt. Aber auch dort bin ich auf Barrieren gestoßen. Ganz alleine habe ich nicht verstanden, wie die Brief-Wahl funktioniert, ich musste Menschen in meinem Umfeld fragen.
Aber nicht alle haben Eltern oder Betreuer*innen, die ihnen dabei helfen. Für mich ist es zum Beispiel schwierig zu verstehen, wie die Stimm-Zettel in die verschiedenen Umschläge verpackt werden sollten. Die Stimm-Zettel gibt es nicht in Leichter Sprache. Das zuständige Ministerium sagt dazu: „Texte in leichter Sprache sind ein Zusatzangebot. Sie ersetzen nicht den Original-Text und verdrängen nicht die Standard- oder Fach-Sprache.“
Es gibt in Deutschland keine festen Regeln zu Leichter Sprache und den Bundes-Tags-Wahlen. Die Bundes-Wahl-Leiterin organisiert die Wahlen. Ich habe sie gefragt: Bei welchen Bundes-Tags-Wahlen konnte man in Wahl-Lokalen in Leichter Sprache lesen, wie man wählt? Ihr Presse-Team antwortete: „Das wissen wir leider nicht. Vielleicht gibt es das in manchen Städten oder Gemeinden. Das haben die aber dann selbst entschieden und selbst gemacht.“
Ich habe außerdem gefragt: Kann man eine Brief-Wahl barriere-frei beantragen? Darauf sagen sie: „Hier gibt es keine allgemein zuständige Stelle. Alle Wahl-Berechtigten beantragen die Brief-Wahl bei der Gemeinde, in der sie wohnen.
Ob es dort Informationen in leicht verständlicher Sprache gibt, entscheiden die Gemeinden selbst. Wir denken, dass es nur wenige sind, die solche Informationen bereitstellen.“ Über die Barriere-Freiheit beim Grund-Recht, wählen zu können, kann also jede Gemeinde für sich entscheiden.
Ich habe mit drei anderen Menschen mit Beeinträchtigung über Barrieren gesprochen, die ihnen beim Wählen begegnen.
Siegfried Saerberg
Siegfried Saerberg ist Professor für Disability Studies und Teilhabe-Forschung an der Evangelischen Hoch-Schule für Soziale Arbeit und Diakonie. Disability Studies ist die Wissen-Schaft und Forschung zu Behinderungen.
Er wohnt in Hamburg und nutzt seinen Blinden-Stock, um sich zurechtzufinden. An der Technischen Universität Dortmund hat er seine Doktor-Arbeit zum Thema „räumliche Orientierung eines Blinden“ geschrieben. Er kritisiert die Wahl-Schablonen, die für blinde Menschen zum Wählen angeboten werden.
„Mit 18 Jahren war ich zum ersten Mal wählen. Das war eine Europa-Wahl im Jahr 1979. Als Blinder kann ich den Wahl-Schein nicht selber in diese Schablone einfügen. Schablone aufklappen und sie richtig rum reinlegen, den Wahl-Zettel genau an die richtige Stelle geben, damit das Kreuz passt. Das funktioniert meistens nicht, ich kann es nicht selbst machen und brauche immer eine sehende Person, die das für mich prüft. Entweder meine Frau oder meine Tochter gehen mit mir meistens in die Wahl-Kabine und setzen für mich das Kreuzchen. Auf Assistenz hat man als behinderte Person ein Recht.
Vor so ungefähr 20 Jahren wurden Blinden-Schablonen beim Wählen eingeführt. Das sind große Papiere aus harter Pappe mit Blinden-Schrift. Ich halte die Schablone für unnütz. Sie sind einfach total unhandlich.
Ich habe zwar grundsätzlich die gleichen Rechte wie Menschen ohne Behinderung. Aber viele meiner Rechte werden verletzt. Das merke ich daran, dass ich mir oft kreativ etwas einfallen lassen muss, um Rechte umsetzen zu können. Zum Beispiel: wenn ich keine Person hätte, die mir beim Wählen hilft, wäre das schwieriger.“
Anne Gersdorff
Anne Gersdorff ist Projektleiterin im Verein Sozialhelden. Die Sozialhelden sind ein Verein in Berlin. Der Verein setzt sich für soziale Gerechtigkeit und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen ein. Anne Gersdorff wohnt in Berlin und nutzt einen Rollstuhl. Wenn sie wählen möchte, ist es schwieriger als für andere: Denn jedes achte Wahl-Lokal in Berlin ist nicht barrierefrei.
„Ich habe bisher immer gewählt. Mein nächstes Wahl-Lokal in Berlin ist eine Schule, die nicht barrierefrei ist. Ich komme nicht rein, deshalb mache ich immer Brief-Wahl. Bei der Brief-Wahl kann mir dann zum Beispiel meine Assistentin helfen. Ich kann das selber ankreuzen oder sie kreuzt das an, was ich ihr sage und macht den Brief zu.
Vor ein paar Jahren ging ich aber zu einem Wahl-Lokal. Da wurde mir gesagt, dass ich keine Hilfe dabei haben dürfe. Weil ich das Wahl-Geheimnis sozusagen nicht einhalte. Sie meinten: Wenn ich die Unterstützung mit in die Wahl-Kabine nehme, ist es keine demokratische Wahl. Weil die Assistenz mich ja beeinflussen könnte, was ich wähle.
Ich habe dort ein bisschen diskutiert und dann war es auch okay. Denn ich habe ja das Recht darauf. Aber ich finde, es zeigt, wie die Menschen mit Behinderungen sehen. Sie haben anscheinend geglaubt, ich werde von meiner Assistenz manipuliert oder ausgenutzt. Aber ich brauche sie ja nur, damit sie mir hilft.“
Natalie Dedreux
Natalie Dedreux ist 26 Jahre alt und Journalistin und Aktivistin aus Köln. Sie setzt sich für die Rechte von Menschen mit Trisomie 21 ein. Sie geht auf Demos, hält Vorträge und organisiert Petitionen.
Natalie Dedreux wurde 2017 durch die Wahl-Arena mit Angela Merkel bekannt. Dort hat sie vor der Kamera die Frage gestellt: „Wieso können Babys mit Down-Syndrom bis kurz vor der Geburt abgetrieben werden in Deutschland?“
Natalie ist bei einer Werk-Statt beschäftigt und arbeitet auch als Journalistin am ersten Arbeits-Markt bei der Zeitschrift Ohrenkuss. Das ist eine Zeitschrift für Menschen mit Down-Syndrom.
„Ich wähle meistens mit Brief-Wahl. Das ist für mich einfacher. Beim Wählen nutze ich die Assistenz meiner Mutter, da ich nicht weiß, wie das mit dem Wahl-Zettel funktioniert. Es ist oft nicht sehr verständlich, was in Wahl-Programmen und auf dem Wahl-Zettel steht. Es ist alles sehr kompliziert geschrieben, die Fach-Wörter verstehe ich nicht gut. Ich finde es wichtig, dass alles in Leichter Sprache erklärt ist und man Zeichnungen dazu zeigt. Denn: Wir sollten einfach mit dazu gehören, gesehen werden und bei der Politik mitreden können. Denn es ist ein Recht, wählen gehen zu dürfen.”
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Geschrieben Von
Nikolai Prodöhl
Mitarbeit
Cristina Helberg,
Maxi Wilhelm
Redaktion
Lisa Kreutzer
Foto von
Nirén Mahajan, privat