Claudia Turetschek sitzt in der Mitte ihres Wohnzimmers in ihrer Wiener Wohnung. Ihre Beine sind mit einer weichen, grauen Decke zugedeckt. Die Hände liegen in ihrem Schoß, sie hält eine Tasse Kaffee. Den Kaffee hat ihre Persönliche Assistentin Laura kurz davor gekocht.
Die 54-Jährige bekommt Unterstützung im Alltag. Die braucht sie, weil sie mit Behinderungen lebt. Claudia hat Multiple Sklerose. Das ist eine Krankheit, bei der die Nerven im Gehirn und Rückenmark schlechter arbeiten. Deshalb nutzt sie einen Rollstuhl und Persönliche Assistenz. Jeden Tag kommt eine Assistentin zu Claudia. Sie kocht, kauft ein, wäscht und hilft ihr beim Anziehen. Jeden Tag schiebt sie Claudia zu einem Gerät, das ihre Beine bewegt. “Fahrrad-Fahren” nennt Claudia das. So bleibt sie beweglich.
Persönliche Assistenz ermöglicht Claudia ein selbstbestimmtes Leben in den eigenen vier Wänden. So kann sie selbst entscheiden, wann sie aufsteht, was sie isst, wie sie ihren Tag gestaltet. Ihre Assistent*innen helfen ihr dabei. So, wie es ihr laut der UN-Konvention über die Menschenrechte für Menschen mit Behinderungen zusteht. Im Jahr 2023 erhielten wie Claudia 362 Personen in Wien Persönliche Assistenz als Leistung. Kosten: rund 20 Millionen Euro.
Ohne Persönliche Assistenz könnte Claudia nicht unabhängig leben. Sie müsste in einem Pflegeheim oder einer betreuten Wohn-Einrichtung wohnen. Doch längst nicht alle Menschen, die in Österreich Persönliche Assistenz benötigen, erhalten die notwendige Unterstützung.

Für viele gibt es keinen Zugang
Ein selbstbestimmtes Leben für Menschen mit Behinderungen ist in Österreich nicht selbstverständlich. Um Unterstützung zu bekommen, müssen Betroffene viele Voraussetzungen erfüllen. In den meisten Bundes-Ländern haben nur Menschen mit körperlichen Behinderungen einen Anspruch auf Persönliche Assistenz. Sie müssen mindestens Pflege-Geldstufe 3 haben. Außerdem müssen Betroffene zwischen 15 und 65 Jahren alt sein und in einem eigenen Haushalt leben. Menschen mit Lern-Schwierigkeiten oder psychischen Erkrankungen haben in Österreich keinen rechtlichen Anspruch auf Persönliche Assistenz in allen Lebens-Bereichen. Auch wenn sie mit Unterstützung selbstbestimmt leben könnten.
„Es darf keine Altersgrenzen, keine Behinderungs-Abhängigkeiten und keine Einkommens-Grenzen geben – Assistenz muss allen zugänglich sein“, fordert Dorothea Brozek. Wie Claudia Turetschek lebt auch sie seit vielen Jahren mit Persönlicher Assistenz. In einer betreuten Wohn-Einrichtung zu leben, wäre für sie nicht in Frage gekommen.

„In einem Heim ist das Leben für mich nicht selbstbestimmt“, sagt sie. Die Strukturen dort sind starr und vorgegeben. Deshalb setzte sie sich schon in den 1990er Jahren für Persönliche Assistenz in Österreich ein. Später gründete sie die WAG-Assistenz-Genossenschaft, einen Dienstleister und Interessenvertreter für Persönliche Assistenz.
„Persönliche Assistenz ist für mich das einzige Konzept an Unterstützung, das mir ein selbstbestimmtes, freies Leben ermöglicht“, sagt Brozek. Trotzdem übt sie Kritik am System rund um Persönliche Assistenz in Österreich – an der staatlichen Organisation, aber auch an einzelnen Dienstleistern.
Macht-Umkehr durch das Arbeitgeber*innen-Modell
Wer die Bedingungen erfüllt und Anspruch auf Persönliche Assistenz hat, hat wiederum oft Probleme, Menschen zu finden, die als Persönliche Assistent*innen arbeiten. Das liege auch daran, dass die Arbeits-Bedingungen für Assistent*innen schlecht sind, sagt Brozek. Meist arbeiten sie ohne Anstellung. Manche Organisationen, die Assistent*innen beschäftigen, unterstützen sie zu wenig und zahlen wenig Lohn.
“Die schlechten Arbeits-Bedingungen meiner Assistent*innen haben mich fertig gemacht.” sagt Claudia. Besonders kritisch sieht sie den Anbieter Assistenz24, der bis vor kurzem ihre Persönliche Assistenz organisiert hat. Der Förder-Betrag für Persönliche Assistenz beträgt 24 Euro pro Stunde. Für Sozial-Versicherungs-Beiträge, organisatorische Leistungen und Ausfälle von Zahlungen bleiben mehr als ein Drittel des Betrags bei der gemeinnützigen Firma Assistenz24. Für Assistent*innen bleiben so momentan 14 Euro pro Stunde übrig.
„Wir sind keine Angestellten, sondern freie Dienstnehmer*innen“, sagt Claudias Persönliche Assistentin Laura. “Als freie Dienstnehmer*innen haben wir keinen Anspruch auf Urlaubsgeld und erhalten Krankengeld erst nach mehreren Tagen. Außerdem haben wir nur eine 14-tägige Kündigungsfrist.” Fest angestellte Personen haben eine Kündigungs-Frist von mindestens sechs Wochen.
Außerdem habe sie kaum Unterstützung kommen, sagt Laura. “Ich habe meine Stunden-Listen geschickt und sie haben mir das Geld überwiesen, das war alles.” Es gab auch eine Telefon-Nummer, bei der man anrufen konnte, wenn man Probleme hat. “Aber dort wurde man meistens eher abgewürgt.” Andere ehemalige Mitarbeiter*innen von Assistenz24, berichten gegenüber andererseits von ähnlichen Situationen.
Eine Gewerkschaft, die Interessen von Persönlichen Assistent*innen vertritt, gibt es nicht. Gewerkschaften setzen sich für die Rechte der Menschen in einem Berufsfeld ein. Wenn es keine Gewerkschaft gibt, ist es schwierig, die Arbeits-Bedingungen zu verbessern. “Zu wenige Menschen wissen von den schlechten Arbeits-Bedingungen für Assistent*innen.”, sagt Laura.
Assistenz24 widerspricht. Es stehe den Assistent*innen „deutlich mehr Hilfe“ zur Verfügung. Der Dienstleister bietet telefonische Unterstützung, Fortbildungen und eine Notrufnummer, die rund um die Uhr erreichbar sein soll. Täglich, so heißt es, gehen zwischen 150 und 200 Anrufe ein. Ein Team aus etwa 20 Personen nimmt die Gespräche entgegen. Doch wer anruft, muss trotzdem Geduld mitbringen: Nicht immer kann sofort eine Lösung gefunden werden.
Claudia weiß, wie sich das anfühlt. Sie sagt, es sei manchmal schwer gewesen, jemanden zu erreichen. Einmal sei zwei Tage keine Persönliche Assistenz gekommen, sagt Claudia. “Ich habe nichts zu essen, nichts zu trinken, wenn mal eine Assistenz nicht kommt. Eigentlich bleibt mir dann nur die Rettung zu rufen.”

Assistenz24 schickte damals Notfall-Sanitäter zu Claudia nach Hause. Um “einmal durchzuchecken”, wie sie erzählt. Claudia fühlte sich alleingelassen: “Es bräuchte einen Anbieter, der notfalls verlässlich Assistenz vorbeischicken kann.”
Bei einem Ausfall werden Kund*innen so gut wie möglich dabei unterstützt, einen Ersatz zu finden, erwidert Assistenz24. Im letzten Jahr konnten von 1381 Ersatzdienst-Anfragen, laut Assistenz24, weniger als ein Prozent nicht erfüllt werden. Claudias Erfahrung sei somit eine Ausnahme. “Für mich war es ein traumatisches Erlebnis“, sagt Claudia.
Schlechte Vorbereitung der Assistent*innen
Weil sie nicht von einem Anbieter abhängig sein wollte und die Assistent*innen besser bezahlen wollte stellt Claudia ihre Assistent*innen mittlerweile selbst an. So kann sie ihre Assisten*innen besser bezahlen. Das ist das sogenannte “Arbeitgeber*innen-Modell”.
Auch Dorothea Brozek findet es wichtig, dass Menschen mit Behinderungen sich aussuchen können, wer ihnen hilft: „Die Macht-Umkehr ist das Wichtigste”, sagt sie. Damit meint sie, dass Menschen mit Behinderungen selbst entscheiden können, welche Unterstützung sie brauchen.
Das Modell hat auch Nachteile, sagt Claudia. Sie ist alleine dafür verantwortlich, Assistent*innen zu finden, damit sie immer versorgt ist. “Jemanden zu finden ist ein irrer Aufwand.” sagt Claudia. “Ich würde mehr bezahlen, aber es gibt zu wenige Assistent*innen in Österreich. Menschen zu finden, bei denen ich mich mit meinen Grund-Bedürfnissen wohl und sicher fühle, das ist so schwierig.”

Persönliche Assistent*innen unterstützen auch in intimen Momenten. “Anfangs war es ein erfüllender, positiver Job“, sagt Claudias Persönliche Assistentin Laura. „Aber Ich wurde nicht auf das Heben von Klient*innen oder den Umgang mit Grenzen vorbereitet.” sagt sie.
Ihr erster Kunde habe sie immer umarmen wollen und sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte, sagt Laura. “Auf der einen Seite war da eine Person, die meine Hilfe brauchte. Und auf der anderen Seite habe ich meine eigenen Grenzen.”
Das habe sie sehr belastet, sagt Laura. Eine weitere ehemalige Assistentin berichtet, sie habe regelmäßig Wunden versorgen und psychisch belastende Situationen begleiten müssen – Aufgaben, die eigentlich Pflege-Fachkräften oder Therapeut*innen vorbehalten sein sollten. “Darauf war ich null vorbereitet.”, sagt sie.
Um als Persönliche Assistent*in zu arbeiten braucht man keine spezielle Ausbildung. Neue Assistent*innen werden von ihren Klient*innen oder auch anderen Assistent*innen eingeschult. Mehrere Betroffene erzählen gegenüber andererseits, dass sie deshalb mit der Arbeit überfordert waren.
Eine einheitliche Regel ist gescheitert - Regierungs-Programm 2025
Im Jahr 2023 einigte sich die Bundes-Regierung mit den meisten Bundesländern auf eine neue Richtlinie zur Persönlichen Assistenz. Ziel war unter anderem, dass alle Menschen Persönlicher Assistenz bekommen können. Unabhängig von Alter, Art der Behinderungen oder Wohn-Situation. Außerdem sollten alle Assistent*innen angestellt werden, um faire Löhne und Sozial-Leistungen sicherzustellen.
Wien lehnte die Richtlinie ab. Stadtrat Peter Hacker bemängelte, dass die Verbesserungen nicht gründlich genug durchdacht seien. Im November 2024 kündigte Wien deshalb an, sich nicht an der Richtlinie zu beteiligen. Menschen mit Lern- oder psychischen Behinderungen haben weiterhin keinen Anspruch auf Persönliche Assistenz. Auf andererseits Nachfrage erklärte Hacker, dass es auch keine Pläne gebe, das zu ändern.
Roswitha Schachinger vom österreichischen Behindertenrat sieht darin einen klaren Verstoß gegen die Menschenrechte: „Menschen mit Behinderungen haben Anspruch auf Selbst-Bestimmung – doch Wien verweigert diesen Anspruch, indem es die Vorgaben der UN-Behindertenrechts-Konvention ignoriert.“ Auch andere Bundes-Länder haben nicht zugestimmt. Zum Beispiel die Bundes-Länder Niederösterreich und das Burgenland.
Dass es auch anders geht, zeigt Schweden, sagt Dorothea Brozek. Dort ist Persönliche Assistenz einheitlich geregelt. Menschen mit Bedarf bekommen ein Budget und können sich Assistenz-Anbieter aussuchen. Für Menschen mit Behinderungen und Assistent*innen gibt es viele Kurse.

Im Regierungs-Programm, das die Parteien ÖVP, SPÖ und Neos im Februar 2025 veröffentlicht haben, steht, dass die Persönliche Assistenz in ganz Österreich verbessert werden soll. Und, dass die Arbeits-Bedingungen für die Assistent*innen verbessert werden sollen. Dass sie allen zugänglich sein soll, also auch Menschen mit Lern-Schwierigkeiten, steht nicht im Programm.
Auch Claudia wünscht sich eine einfachere Regelung. Sie sucht gerade neue Assistent*innen und weiß nicht, ob sie in der nächsten Woche täglich Hilfe bekommt, um aus dem Bett zu kommen. Ihre jetzige Assistentin Laura muss aufhören, weil sie durch das schwere Heben unter starken Rücken-Problemen leidet. Es ist ihr letzter Arbeitstag bei Claudia.
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Geschrieben Von
Fabian Füreder
und Von
Anika Haider
Redaktion
Lisa Kreutzer
Fotos von
Anika Haider /
Barbara Nidetzky