Worüber niemand spricht

Frauen mit Behinderungen sind 2- bis 3-mal häufiger von sexualisierter Gewalt betroffen als Frauen ohne Behinderungen.
Eine Faust ist in die Luft gestreckt. Im Hintergrund hängt ein Plakat mit dem Titel "Nein" auf einer gelben Wand.

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Dieser Text ist lang. Hier findest du eine Zusammen-Fassung von diesem Text in einfachen Worten. Wir erklären dort auch schwierige Worte.

In diesem Text erfährst du mehr über die Strukturen, die Gewalt an Menschen mit Behinderungen wahrscheinlicher machen.

  1. Menschen mit und ohne Behinderungen leben getrennt voneinander
  2. Hilfe ist selten barrierefrei
  3. Es gibt zu wenig Aufklärung
  4. Viele Betroffene sprechen nicht über sexualisierte Gewalt
  5. Frauen mit Behinderungen werden in der Politik nicht mitgedacht

Achtung!

In diesem Text geht es um sexualisierte Gewalt. Bitte schau auf dich und überlege gut, ob du dieses Thema heute verkraftest. Wenn Du selbst betroffen bist, kommst Du hier oder hier zu Hilfs-Angeboten.

Ein abgelegener Ort in Kärnten, weite Wiesen und Wald. Mittendrin stehen ein Wohnheim und eine Werkstätte für Menschen mit Behinderungen: das Camphill Liebenfels. Hier lebte jahrelang eine Frau, die schon als Kind hierher kam, weil ihr Vater sie misshandelt hatte. Das Leben im Wohnheim sollte sie vor Gewalt schützen. Doch genau hier wurde sie 10 Jahre lang von einem Betreuer sexuell missbraucht.

Schon im Jahr 2012 gab es einen Verdacht. Als die Frau mit Behinderungen über den Verdacht befragt wurde, war die Partnerin des Täters dabei. Denn sie war die Leiterin des Heims. Die Vorwürfe wurden damals wieder fallen gelassen, berichtete die Kleine Zeitung. Erst als der Täter 2018 in Pension ging, traute sich die betroffene Frau, davon zu erzählen. Der Täter wurde 2019 zu 5 Jahren unbedingter Haft verurteilt.

Über Fälle wie diesen wird nur wenig berichtet. Wenn, dann werden sie als schreckliche Einzel-Fälle erzählt. Über das System, das diese Gewalt möglich macht, wird nur selten gesprochen. Das passiert oft bei sexualisierter Gewalt. Bei betroffenen Menschen mit Behinderungen noch öfter.

In den letzten Monaten haben wir zu dem Thema recherchiert. Dabei sind wir auf viele verschlossene Türen gestoßen. In Politik und Gesellschaft gibt es wenig Bewusstsein für das Thema. Die Stimme von Frauen mit Behinderungen fehlt in der Öffentlichkeit. Ihre Geschichten kommen in Medien viel seltener vor als die Geschichten von Männern mit Behinderungen.

Wir wollen es anders machen. Deshalb geht es im andererseits-Schwerpunkt nur um Frauen mit Behinderungen.

In diesem Text liest Du, welche strukturellen Probleme es gibt, die sexualisierte Gewalt an Frauen mit Behinderungen wahrscheinlicher machen.

1. Menschen mit und ohne Behinderungen leben getrennt voneinander

Eine Studie zu Gewalt an Frauen mit Behinderungen in Deutschland aus dem Jahr 2012 zeigt: Wenn Frauen in Einrichtungen Gewalt erfahren, bekommen sie selten Hilfe. Wenn sie sich doch an jemanden wenden, dann suchen Menschen in ihrem Umfeld meistens Lösungen innerhalb der Einrichtung. Die Tat wird nicht angezeigt, sondern es wird versucht, die Vorfälle intern zu klären. Das bringt „keinen nachhaltigen Schutz, gerade auch vor Täterinnen und Tätern mit Behinderungen in Einrichtungen.“

Das Problem gibt es bis heute. Frauen mit Behinderungen leben und arbeiten immer noch oft in Einrichtungen, getrennt von Menschen ohne Behinderungen. Das kritisieren die Vereinten Nationen in ihrem neuesten Bericht von 2023. Sie prüfen, ob die Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen in Österreich eingehalten werden. Welche Unterstützung Menschen mit Behinderungen bekommen, hängt deshalb oft davon ab, ob Betreuer*innen oder Angehörige engagiert sind und den Betroffenen helfen.

2. Hilfe ist selten barrierefrei

Selbstständig nach Hilfe zu suchen ist vor allem für Frauen mit Lern-Schwierigkeiten kaum möglich, steht in der Studie aus dem Jahr 2012. Wir haben bei Beratungs-Stellen in Österreich nachgefragt, wie die Situation heute ist. Alle haben geantwortet: Es ist eine große Ausnahme, wenn eine Frau mit Behinderungen alleine zu ihnen kommt. Die meisten kommen mit Betreuer*innen oder Angehörigen.

Das müsste nicht so sein: Wenn es barrierefreie Angebote gäbe, könnten die Betroffenen eigenständig Hilfe suchen.

Deshalb haben wir für diese Recherche versucht, im Internet Beratungs-Stellen in Österreich zu finden. Die österreichische Verwaltung zeigt auf ihrer Internet-Seite dafür eine Liste an. Diese Internet-Seite ist nicht barrierefrei: Sie ist nicht in Leichter Sprache, es gibt keine Gebärden-Sprache und man kann die Schrift nicht größer einstellen. Es sind sieben andere Internet-Seiten zu Beratungs-Stellen in allen Bundesländern verlinkt. Nur zwei von diesen sieben erklären ihre Informationen auch in Einfacher Sprache.

Das Frauen-Ministerium sagt auf unsere Nachfrage: Das Beratungs-Angebot ist für alle Frauen in Österreich offen. Und für verschiedene Zielgruppen da. Doch unsere Recherchen erzählen etwas ganz anderes. Frauen mit Behinderungen haben weniger Zugang zu Bildung und zu Schutz vor Gewalt. Wenn sie Gewalt erleben, gibt es für sie wenig Hilfe, die sie aktiv anspricht und für sie da ist.

Im Text „Elke sagt nein“ liest Du über eine Frau mit Lern-Schwierigkeiten, die eine Vergewaltigung erlebt hat. Und wie sie in einer Beratungs-Stelle in Wien Unterstützung fand.

3. Es gibt zu wenig Aufklärung

Um sich Hilfe zu suchen, muss man auch wissen, was Gewalt alles sein kann. Die meisten Menschen mit Behinderungen bekommen aber nicht genügend Aufklärung. Die UN-Prüfer*innen kritisierten im letzten Jahr: Es fehlen sexual-pädagogische Konzepte in Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen. Also Regeln, die festlegen, wie Einrichtungen mit Sexualität und sexualisierter Gewalt umgehen sollen. Menschen mit Behinderungen können sich auch deshalb oft weniger darüber informieren, was sexualisierte Gewalt ist. Ein unabhängiger Monitoring-Ausschuss ist eine Gruppe von Menschen, die eine Sache überwacht und überprüft. Der Monitoring-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen kritisiert: Viele Menschen mit Behinderungen erhalten in Österreich nicht genügend Sexual-Aufklärung und haben zu wenig Zugang zu Informationen über Gewalt-Schutz.

Die Volks-Anwaltschaft fand 2023 heraus: Rund ein Drittel der Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen hat kein sexual-pädagogisches Konzept. In der Hälfte der Einrichtungen dürfen Partner*innen, die nicht in der Einrichtung wohnen, nicht bei Bewohner*innen übernachten. In der Hälfte der Einrichtungen gibt es keine Betreuer*innen, die sexual-pädagogisch geschult sind.

Dass es so wenige Angebote gibt, liegt auch daran, dass Menschen mit Behinderungen bis heute oft nicht als Menschen mit sexuellen Bedürfnissen wahrgenommen werden. Wie schwer es ist, als Frau mit Behinderungen eine selbstbestimmte Sexualität zu leben, liest Du in dem Text „Berührt werden“ von Leonie Schüler.

4. Hohe Dunkel-Ziffer

Niemand weiß genau, wie viele Menschen wirklich sexualisierte Gewalt erleben. Das nennt man Dunkel-Ziffer. Denn viele Menschen, die sexualisierte Gewalt erleben, machen keine Anzeige und erzählen niemandem davon. Schätzungen aus Österreich zeigen: Nur rund 6 von 100 Frauen, die sexualisierte Gewalt erleben, machen auch eine Anzeige bei der Polizei.

Das hat viele Gründe. Zum Beispiel:

  • Noch immer wird Frauen gesagt, sie seien auch schuld daran, wenn ihnen sexualisierte Gewalt passiert. Ihre Kleidung oder ihr Verhalten sei der Grund, warum jemand übergriffig wird. In Wahrheit tragen bei Gewalt immer die Täter die Verantwortung.
  • Nur bei rund 10 Prozent der Anzeigen wegen einer Vergewaltigung kommt es in Österreich auch zu einer Verurteilung. Für Frauen kann es eine große Enttäuschung sein, wenn ein Gericht nicht sagt: Dein Täter hat etwas Ungerechtes getan und ist schuld.

Frauen mit Behinderungen sind von den meisten Problemen noch stärker betroffen als Frauen ohne. Sie erleben 2- bis 3-mal so häufig sexualisierte Gewalt wie Frauen ohne Behinderungen. Bei unserer Recherche haben uns Beratungs-Stellen und Betroffene erzählt: Es ist oft noch schwieriger, dass andere Menschen oder das Gericht den Frauen mit Behinderungen glauben.

Wir haben mit einer Anwältin über das Thema gesprochen. Sie hat schon über 500 Frauen vertreten, die von sexualisierter Gewalt betroffen waren. Wir haben sie gefragt: Was sind dabei die größten Probleme für Menschen mit Behinderungen?

5. Menschen mit Behinderungen werden nicht mitgedacht

Ein Mann hat ein Jahr lang vier Frauen sexuell belästigt und missbraucht. Er arbeitete bei einem Fahrtendienst, berichtete der Standard im Jahr 2022. Mütter von Betroffenen haben sich beschwert. Ein Jahr lang ignorierte das Unternehmen die Vorwürfe. Dann gab es eine Anzeige bei der Polizei. Der Mitarbeiter wurde schuldig gesprochen. In Wels in Oberösterreich wurde 2023 ein Fall bekannt: Ein Betreuer soll in einem Heim drei Frauen mit Behinderungen misshandelt haben. In Deutschland wurde ein Mann in über 70 Fällen von sexuellem Missbrauch schuldig gesprochen, berichtete der Tagesspiegel 2023.

Immer wieder werden Fälle öffentlich, in denen Frauen mit Behinderungen von sexualisierter Gewalt betroffen sind.

Und doch: In einem Bericht des Bundeskanzleramts über Gewalt an Frauen in Österreich kommt das Wort „Behinderung“ kein einziges Mal vor. Wir haben beim Sozial-Ministerium nachgefragt: Sie wollen mehr Daten über das Leben von Frauen mit Behinderungen sammeln. Aber mehr Daten zu sexuellen Übergriffen sind derzeit nicht geplant, schreibt uns das Sozial-Ministerium. Frauen mit Behinderungen werden oft bei „Frauen-Themen“ in der Politik nicht mitgedacht. „Sie werden nicht als Frauen gesehen“, sagt Eva-Maria Fink. Sie leitet das Frauen-Kompetenz-Team im Behindertenrat. In der öffentlichen Debatte rund um Gewalt an Frauen bleiben Frauen mit Behinderungen meist unsichtbar.

Die Autor*innen der Studie aus Deutschland stellen am Ende fest: Gewalt gegen Frauen mit Behinderungen hängt mit der gesamten Gesellschaft zusammen. Was helfen würde: Wenn Menschen mit und ohne Behinderungen sich überall direkt begegnen könnten.

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