Unsere Autorin Elisabeth Linnerz war in ihrer Kindheit oft auf die Entscheidungen von Kranken-Kassen angewiesen. Sie hat gelernt: Wie gut Menschen mit Behinderungen versorgt werden und welche Hilfs-Mittel sie bekommen, ist in Deutschland sehr unterschiedlich.
Mein Korsett ist eine harte Plastik-Kapsel. In dem Korsett bin ich unbeweglich, es trennt mich von der Welt und meinen Mitmenschen, von ihren Berührungen und Umarmungen. Meine Haut ist nicht mehr warm und weich, sondern vor ihr befindet sich hartes und kaltes Plastik. Drei Jahre meines Lebens fühlte ich mich jeden Tag so.
Ein Korsett zieht man an. Es ist wie ein enges Oberteil aus Plastik, das die Stellung der Wirbelsäule korrigiert. Als ich zwischen 14 und 17 Jahren war, trug ich das Korsett 23 Stunden am Tag.
Ich wurde mit Skoliose geboren. Skoliose ist eine Verkrümmung der Wirbel-Säule. Das Korsett half mir, dass meine Wirbelsäule in eine Form wachsen konnte, mit der ich keine Schmerzen habe.
Mit 14 lernte ich ein Mädchen kennen, das auch Skoliose hatte: Sophia. Auch sie musste 23 Stunden am Tag ein Korsett tragen. Ich lernte sie kennen, als ich mit ihr ein Zimmer in einer Klinik teilte. Aber ihr Korsett war lange falsch, es machte ihre Wirbelsäule immer schiefer.
Auch mein Korsett passte am Anfang nicht. Meine Eltern suchten dann neue Ärzt*innen für mich. Sophias Eltern hatten dazu keine Möglichkeit. Sie kannten keine anderen Ärzt*innen, die ihrer Tochter besser helfen konnten. Sie hatten weniger Geld als meine Eltern, um Sophia zusätzliche Therapien zu bezahlen.
Heute bin ich 22 und denke immer noch viel an Sophia. Durch sie habe ich das erste Mal verstanden, wie ungerecht das System oft ist: Sie hatte dieselbe Diagnose wie ich, sie hatte dasselbe Recht auf Behandlung, aber sie wurde ganz anders behandelt.
Behindert oder chronisch krank sein kostet Zeit und Geld: Man braucht es für Hilfs-Mittel, für Behandlungen und für passende Geräte. Wenn man sich gegen eine Ablehnung von Kranken-Kassen zur Kosten-Übernahme wehrt, werden sie oft doch noch finanziert. Wer es sich leisten kann, kann teurere Versorgung selbst bezahlen. Aber wer nicht viel Geld hat und sich nicht wehren kann, wird oft schlechter versorgt. Wie kann das sein?
Als Jugendliche war meine größte Angst die Verschlimmerung meiner Skoliose. Deswegen versuchte ich alles zu geben: Ein gutes Korsett zu bekommen und die besten Spezialist*innen für Skoliose aufzusuchen. Außerdem war ich zweimal die Woche bei der Physio-Therapie und habe jeden Abend meine Übungen gemacht.
Heute ist mir klar: Viel davon war nur möglich, weil meine Eltern dafür bezahlt haben: Alle drei Monate Fahrkarten für eine vierstündige Bahnfahrt zu einem speziellen Arzt. Osteopathie-Termine. Zuzahlung zur Physio-Therapie.
Dafür hat nicht jeder das Geld, sagt die Physio-Therapeutin Shoshannah Steiche. Viele ihrer Patient*innen konnten sich die Zuzahlung zu den Physio-Rezepten nicht mehr leisten und mussten die Therapie abbrechen, sagt sie. „Patient*innen sagen mir: Ich habe diese 30 Euro für den Eigen-Anteil nicht. Ich kann das bezahlen, dann kann meine Familie halt eine Woche nichts essen.”
Es gibt eine Möglichkeit, sich von der Zu-Zahlung für Behandlungen wie Physio-Therapie befreien zu lassen: Wenn zum Beispiel eine Person alleine lebt und die Zu-Zahlungen höher als zwei Prozent ihrer Einnahmen sind, muss sie nichts mehr zahlen. Wenn sie chronisch krank ist, ab einem Prozent.
Das Bundes-Ministerium für Gesundheit sagt auf Anfrage, dass damit keine finanziellen Probleme entstehen sollten: Der „Schutz vor Überforderung” ist „sichergestellt”. Aber Steiche sagt: Viele haben das Geld von Anfang an für die Zahlungen nicht. Sie können nicht Rechnungen sammeln, bis sie zwei Prozent vom Gehalt ausgegeben haben. Oder sie wissen gar nicht, dass es die Befreiung gibt. Menschen mit Behinderungen sind außerdem besonders oft von Armut bedroht: Jede*r fünfte ist betroffen.
Mit einer Behinderung leben ist oft teuer
Trotzdem haben Menschen mit Behinderungen oft Zusatz-Kosten, die Menschen ohne Behinderungen nicht aufbringen müssen.
„Meine Behinderung kostet mich so viel Geld jedes Jahr”, sagt Laura Gehlhaar. Sie ist Aktivistin und Autorin. Um ihren aktuellen Rollstuhl zu bekommen, hat sie monatelang mit der Krankenkasse verhandelt – obwohl sie den jeden Tag braucht. Denn die Kranken-Kasse wollte nur einen billigeren Rollstuhl zahlen, der laut Laura Gehlhaar und ihrem Rollstuhl-Versorger nicht passend war.
Am Ende hat Laura Gehlhaar über 3 Tausend Euro für ihren Rollstuhl selbst bezahlt – sie hatte das Geld und keine Kraft mehr, weiter mit ihrer Krankenkasse zu diskutieren.
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„Diese Diskussion um Dinge, die einem zustehen, ist so anstrengend. Das kostet Nerven und kratzt am Selbstwert”, sagt auch Melanie Huber. Sie will sich das nicht mehr antun. Als Studentin hat Huber es noch erfolglos versucht, erzählt sie. Mittlerweile zahlt sie manche ihrer Hilfsmittel direkt selbst – das geht nur, weil Huber das Geld dafür hat.
Huber ist fast ganz taub. Sie verwendet Hörgeräte, für die sie 925 Euro bezahlt hat. Technologien wie Bluetooth oder bessere Lärm-Unterdrückung verbessern dabei, wie gut sie mit den Geräten hört. Bei billigeren Geräten werden störende Geräusche im Hintergrund schlechter ausgeblendet. Aber meistens zahlt die Krankenkasse nur die billigeren Geräte. Das Hören wäre für Huber mit ihnen, je nach Situation, anstrengender, schwerer – oder unmöglich.
Bei vielen Hilfsmitteln wie Hör– und Sehhilfen gibt es Maximal-Beträge. In einem Hilfsmittel-Verzeichnis ist genau aufgelistet, was bezahlt wird. Das Bundes-Ministerium für Gesundheit sieht darin ein wichtiges „Kosten-Steuerungs-Instrument”. Das Verzeichnis soll bewirken, dass Hilfsmittel für Krankenkassen nicht zu teuer werden. Aber: Gerichte entscheiden schon lange, dass auch andere und teurere Hilfs-Mittel bezahlt werden müssen, wenn jemand sie wirklich braucht. Trotzdem muss man dafür oft Widersprüche schreiben und an die Krankenkasse schicken – oder sie sogar verklagen.
Die Folge: Menschen mit Behinderung oder chronischer Erkrankung müssen nicht nur Geld investieren – sondern auch viel Zeit. Zeit um Ärzt*innen um Anträge zu bitten, Zeit um Widersprüche zu schreiben, Zeit um Telefonate zu führen, Zeit für den langen Weg zu einer barrierefreien Arzt-Praxis. Zeit, um das zu erkämpfen, was ihnen eigentlich zusteht.
Das kann sehr belastend sein. Auch mich hat das als Jugendliche schon verunsichert. Es fühlte sich an, als müsste ich mich für meine Skoliose rechtfertigen. Man muss andauernd unter Beweis stellen, dass man wirklich Hilfe braucht. Dabei sind Widersprüche und Klagen oft erfolgreich – das zeigt, wie oft nicht bewilligt wird, was einem eigentlich zusteht.
Der Kampf um die eigenen Rechte kann schwere Folgen haben. In Teil 2 dieses Textes geht es darum, warum Menschen mit Behinderungen oft anfechten müssen, was Krankenkassen machen. Du kannst den Text hier lesen.
Geschrieben Von
Elisabeth Linnerz
und von
Emilia Garbsch
Redaktion
Clara Porak,
Lisa Kreutzer
Fotos von
Andi Weiland
Zeichnung von
Clara Berlinski