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Schwere Worte erklärt
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Foto: Pia Heer
Lesezeit: ca. 20 Minuten
Lisa Zattler bringt zwei behinderte Kinder zur Welt. Beide Male wurde ihr vorher eine Abtreibung angeboten. Jedesmal entscheidet sie sich anders. Mittlerweile gibt es Tests, die Behinderungen vor der Geburt erkennen können. Warum so viel über Pränatal-Diagnostik gesprochen wird und was das für schwangere Frauen heißt.
Wenn beim Ultraschall gleich was herauskommt, würden Sie dann abtreiben?”, fragt die Ärztin.
“Trisomie 21 ist für uns kein Grund abzutreiben. Trisomie 13 und 18 vielleicht schon”, sagt Lisa Zattler.
Die Ärztin runzelt die Stirn. Lisa liegt vor ihr, in einem sauberen Arztzimmer. Die Ärztin schaut auf den schwarzen Monitor vor sich. Gleichzeitig bewegt sie einen Ultraschallkopf über Lisas leicht gewölbten Bauch. Damit kann sie sehen, was in ihrem Bauch ist. Denn Lisa ist in der 13. Woche schwanger. Dann hält die Hand der Ärztin inne. Warum? Auf dem Bildschirm sieht sie den Fötus, der in Lisas Bauch wächst. Der Fötus hat eine Ausbuchtung am Körper.
Kurze Zeit später findet Lisa heraus: Der Fötus hat eine Omphalozele. Das ist eine seltene angeborene Veränderung, bei der Teile der Bauchorgane des Fötus durch eine große Lücke in der Bauchwand in die Nabelschnur rutschen. Sie sind dann außerhalb des Körpers. Die Organe sind oft von einem ganz dünnen Beutel umgeben.
Das ist ein Problem und muss sofort nach der Geburt operiert werden. Lisa wird die Möglichkeit einer Abtreibung angeboten. Die Ärztin sagt: Das geht in dem Fall auch nach der zwölften Woche.
Vor- und Nachteile von Tests
Denn eigentlich können in Deutschland und Österreich Abtreibungen nur bis zur 12. Woche stattfinden. Nach der 12. Woche dürfen in beiden Ländern Abtreibungen nur gemacht werden, wenn die Schwangerschaft die Gesundheit der schwangeren Person bedroht. In Österreich aber auch, „wenn eine schwere geistige oder körperliche Behinderung des Kindes zu erwarten ist“.
Es gibt immer mehr Tests, die herausfinden können, ob ein Kind eine Behinderung hat, bevor es geboren wird. Das nennt man Pränataldiagnostik. Also alle Untersuchungen, die während der Schwangerschaft gemacht werden. Pränatal heißt “vor der Geburt”. Dabei gibt es verschiedene Methoden. Diese verschiedenen Tests können ganz unterschiedlich nützlich oder riskant sein. Manche können zu Fehlgeburten führen. Außerdem gibt es sogenannte falsch positive Tests. Das heißt, dass ein Test sagt, dass ein Fötus eine Krankheit hat, die er nicht wirklich hat. Aktivist*innen sind dagegen, dass diese Tests immer mehr genutzt werden. Sie sagen: Das ist diskriminierend. Werden wegen der Pränataldiagnostik Föten mit Behinderung abgetrieben?
In Deutschland ist es seit 1995 verboten, wegen einer Behinderung des Fötus abzutreiben. Das sagt Kirsten Achtelik. Achtelik ist Journalist*in und hat ein Buch zu dem Thema geschrieben. Achtelik sagt: “Abbrüche nur wegen einer Behinderung sind eigentlich verboten.” Aber: “Abtreibungen nur aufgrund einer Behinderung passieren trotzdem noch.” Die Ärzt*innen nehmen dann an, dass es für die schwangere Person eine unzumutbare psychische Belastung wäre, ein behindertes Kind zu haben. So werden Abbrüche dann gerechtfertigt.
Das ist diskriminierend, sagt Kirsten Achtelik. „Es ist ein typisches Vorurteil der Gesellschaft, dass ein behindertes Kind eine unzumutbare mentale Belastung ist. Das stimmt nicht.“
Lisa entscheidet sich gegen eine Abtreibung. Sie weiß, dass ihr Kind eine Behinderung haben wird. Ihr Mann und sie bekommen nach der Diagnose Bedenkzeit – aber für sie ist die Entscheidung schnell getroffen: “Für uns war das kein großes Thema”, sagt Lisa. “Uns war klar, natürlich bekommen wir das Kind.”
Trotzdem waren die Tests nützlich für sie. Sie sagt: “Wir haben uns informiert. Wir haben noch mehr Ärzte um Rat gefragt und ich war öfter bei der Kontrolle.”
Johanna Lindemann ist Referent*in für Medizin beim Gen-ethischen Netzwerk. Lindemann sagt: “Manche der Tests sind therapieorientiert.” Sie helfen besser auf den Fötus und die Person zu schauen, die schwanger ist. Manche der Tests können aber auch Erkrankungen beim Fötus erkennen, die unbehandelt zum Tod führen würden. Lisas Ärztin kann zum Beispiel jetzt besser auf den Fötus aufpassen, weil sie weiß, dass er ein Problem hat.
Die Autor*in Kirsten Achtelik glaubt, das ist eher selten: “Die meisten pränatalen Untersuchungen generieren nur Verdachtsfälle”, sagt Kirsten Achtelik. “In unserer behindertenfeindlichen Gesellschaft führt das womöglich zu Abtreibungen.” Achtelik kritisiert alle medizinisch nicht notwendigen Tests. Andere Aktivist*innen kritisieren hauptsächlich die nicht-invasiven Pränataltests (NIPT). Sie berechnen, wie wahrscheinlich es ist, dass die Gene des Fötus anders sind als bei den meisten Menschen. Sie sagen zum Beispiel, ob ein Fötus Trisomie 21 (Down-Syndrom) hat. Diese Untersuchungen werden seit 1. Juli 2022 in Deutschland von den Kassen übernommen, wenn andere Pränataltests auffällig waren oder wenn es die “persönliche Situation” der schwangeren Person “notwendig” macht.
Für viele Menschen klingt das nach einer guten Entwicklung: Man kann den Test jetzt kostenfrei machen. Aber Johanna Lindemann findet: Das ist keine gute Botschaft. “Die schwangere Person erhält dadurch den Eindruck, dass der Test notwendig ist.” Man tut so, als wäre Behinderung vermeidbar und unerwünscht. “Deswegen finden wir die Kassenfinanzierung dieser Tests fatal. Das ist behindertenfeindliche Praxis”, sagt Lindemann. Lindemann ist Teil des Bündnis #NoNIPT, das sich gegen die Kassenzulassung der Tests ausspricht. Es fordert auch, dass ein Gremium in Zukunft mitentscheidet, welche Tests zugelassen werden. Darin sollen auch Menschen mit Behinderungen sein.
Foto: Lisa Zattler, ihr Mann und ihre Tochter Frieda
Nicht alles tritt ein
Lisas Kind wird einige Monate nach der Diagnose geboren: Ihre Tochter Frieda ist heute 5 Jahre alt. Und viele Vorhersagen, die die Ärzte damals gemacht haben, sind nie wahr geworden: Frieda ist ein fröhliches, aufgewecktes, mutiges junges Mädchen. Von den vielen Krankenhausaufenthalten in ihren ersten Jahren, den unzähligen Operationen und dem eher rauen Start ins Leben, ist nicht mehr viel zu bemerken.
Frieda ist nicht gesund, aber sie hat sich an ihre chronischen Erkrankungen gewöhnt. Sie wird zum Beispiel per Sonde ernährt, weil sie nicht genug essen kann. Ihr Magen ist zu klein. Ihre Mutter Lisa sagt: “Wir haben noch eine lange Reise vor uns mit zweimal pro Woche Physio und vermutlich mehreren Operationen in der Zukunft, aber Frieda entwickelt sich super.”
Lindemann sagt auch: Bestimmte Menschen werden durch die Tests aussortiert. Langfristig werden dadurch immer weniger behinderte Kinder geboren. Das betrifft vor allem Menschen mit Down-Syndrom. “Es werden jetzt schon viel weniger Kinder mit Trisomie 21 geboren, als es eigentlich statistisch geben müsste”, sagt Lindemann. “In Deutschland kann man davon ausgehen, dass 85 bis 90 Prozent der Föten mit Trisomie 21 abgetrieben werden.” sagt Lindemann. In manchen Ländern werden deshalb schon heute kaum noch Kinder mit Down-Syndrom geboren. Zum Beispiel in Dänemark, Island, im Iran und den USA.
Mein Körper, meine Entscheidung: die Selbstbestimmung der Frau
Zwei Jahre nach Friedas Geburt wird Lisa erneut schwanger. Diesmal wird sie sofort auf alle möglichen Veränderungen getestet. Das Ergebnis: Der Fötus hat Trisomie 18. Trisomie 18 bedeutet, dass das Chromosom 18, das normal zweimal vorhanden ist, ein drittes Mal vorliegt. Das führt zu Behinderungen, die oft schon vor der Geburt oder im ersten Lebensjahr zum Tod führen.
Aber wieder entscheidet sich Lisa gegen eine Abtreibung. “Frieda ist ein super glückliches Kind, das am Leben teilhaben kann”, sagt Lisa. “Diese Tests geben keine genaue Prognose und sagen nichts über die Lebensqualität eines Kindes aus.” Aber Lisa sagt auch: Es ist wichtig, dass alle Frauen selbst entscheiden. “Es ist genauso ein guter Grund zu sagen, ich treibe ab, weil ich mich nicht befähigt sehe, diesen Weg zu gehen”, sagt Lisa.
Dass man gegen die Abtreibung von Föten mit Behinderungen ist, heißt nämlich nicht, dass man gegen Abtreibungen ist. Jede Person mit Gebärmutter muss selbst entscheiden dürfen, was mit ihrem Körper passiert. Das findet auch Johanna Lindemann: “Ich bin dafür, dass man eine Schwangerschaft abbrechen kann, wenn man nicht schwanger sein will. Aber ich finde nicht, dass dazu gehört, sich entscheiden zu können, welche Kinder man haben will und welche nicht”, sagt Lindemann.
Was muss sich ändern?
Auch wenn Lisa sich für ein Kind mit Behinderung entscheidet: Ihre Schwangerschaft endet abrupt in der 17. Woche. Lisa ist im Krankenhaus. Wegen der Pandemie ist sie alleine. Eine Woche dauert es, bis sie auf einem Klostuhl den toten Fötus gebärt – ohne irgendeine Unterstützung.
Lisa sagt: Das war nur einer von vielen Momenten, wo sie alleine gelassen wurde. “Man macht den Menschen die Entscheidung für ein behindertes Kind auch nicht leicht, weil wir in einer behindertenfeindlichen Gesellschaft leben”, sagt Lisa. Eltern, die sich für ein behindertes Kind entscheiden, stehen häufig größtenteils alleine da. Wie bei Lisa fehlt an allen Enden die Unterstützung und diesen Weg nicht einmal, sondern mehrfach zu bestreiten, kostet viel Kraft und Ressourcen, die nicht alle Eltern haben.
Eltern behinderter Kinder haben ständige Kämpfe mit Kostenträgern wie Krankenkassen. So ist Inklusion eher ein Privileg, das nur die Eltern erreichen, die dafür kämpfen können.
Drei Jahre später ist Lisa wieder schwanger. Diesmal will sie keinen Test. Es gibt für sie keine Behinderung, die ein Grund für eine Abtreibung wäre, sagt sie. “Viele Eltern können sich ein behindertes Leben nicht vorstellen. Ihnen fehlt die Entscheidungsgrundlage [für oder gegen Abtreibungen], weil sie nicht wissen, wie ein Leben mit Behinderung bzw. einem behinderten Kind ist”, sagt sie. “Diese Entscheidungsgrundlage kann man schaffen, wenn Menschen mit Behinderungen in der Mitte der Gesellschaft sind.” Auch deshalb ist Frieda in einem inklusiven Kindergarten. Für die Kinder in Friedas inklusivem Kindergarten ist sowas wie eine Magensonde oder ein Korsett ganz selbstverständlich. “Und wenn die Kinder das schon früh lernen, dann entstehen daraus Erwachsene, die mit diesem Thema auch umgehen können”, sagt Lisa.
Dieser Text entstand in Zusammenarbeit mit Die Neue Norm, einem inklusiven, gesellschaftspolitischen Magazin.
Wieviele Abbrüche geschehen?
In Deutschland muss man sich beraten lassen, wenn man abtreiben möchte. Das Gespräch muss drei Tage vor der Abtreibung stattfinden. Damit man es sich nochmal überlegen kann.
2022 gab es in Deutschland insgesamt 103 Tausend Schwangerschafts-Abbrüche. Davon waren 2373 Spät- Abbrüche nach der 12. Wochen und 740 nach der 22. Woche.
In Österreich gibt es keine Statistik, da Ärzt*innen nicht verpflichtet sind Abtreibungen zu melden. Daher werden nur Zahlen geschätzt. Expert*innen sagen, dass jedes Jahr zwischen 30.000 und 60.000 Abbrüche in Österreich passieren. Andere meinen, es sind rund 35.000.
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